Ausgerechnet Astronaut!

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Ausgerechnet Astronaut!
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Juryk Barelhaven

Ausgerechnet Astronaut!

Ratgeber für Hochstapler, die zu hoch hinaus wollen

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel Eins

Kapitel 2

Kapitel drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

EPILOG

Impressum neobooks

Kapitel Eins

-Ausgerechnet Astronaut-

Christine Willing träumte von Heldentaten.

Wie alle Kinder war auch sie als kleines Mädchen fasziniert von ihnen gewesen; doch im Gegensatz zu den Kindern ihrer Straße konnte sie tatsächlich Orte erkunden, an denen Ungeheuer lauern mochten. Statt auf Spielplätzen Räuber und Gendarm zu spielen, hatte sie ihre kindliche Fantasie gegen Deduktion und Handschellen eingetauscht – und das Spiel war rauer geworden. Ihre Heldentaten waren nicht länger auf den Seiten eines Märchenbuchs oder in den digitalen Fantasien der Filmemacher zu Hause: Die Arbeit als Detektive Inspector beim Scotland Yard hatte eine ganze Galaxie voller neuer Möglichkeiten eröffnet. Seit Kindesbeinen glaubte sie an das Gesetz, doch mit dem Alter hatten ihre Träume an Farbenpracht verloren. Die reale Welt hielt oftmals Enttäuschungen bereit.

Punkt fünf Uhr waren sie in einem der Konferenzzimmer im Polizeigebäude versammelt. Der zuständige Beamte im Fall konnte sich nicht erinnern, jemals eine so gedrückte Zusammenkunft erlebt zu haben. Detektive Inspector Willing konnte sehen, dass ihr Kollege, um sich den Anblick zu ersparen, den Stuhl weggedreht hatte. Hinter ihm zeigte eine reiche Sammlung von Berichten, Fotos und Tabellen den Ermittlungsstand von fast zwei Jahren. Und inmitten von Statistiken, anklagenden Zeugenaussagen und Verlusten in Millionenhöhe existierte eine freie Stelle mit einem Fragezeichen. Das rote Fragezeichen aus Pappe wölbte sich leicht und war angegraut.

Zwei Bundespolizisten von Scottland Yard, drei Beamte von SpaceTec und sogar der leitende Ermittler einer weltweitbekannten Versicherungsgesellschaft starrten vor sich hin, während Christine die Versammlung eröffnete.

„Na schön“, sagte sie und versuchte einen Anfang. „Eine kurze Zusammenfassung. Er ist wie ein Geist. Selbst bei dem Geschlecht sind wir uns nicht sicher.“ Sie schaute auf ihre Notizen. „Er verschwand vor exakt vier Tagen“, begann sie. „Noch genauer, vor 98 Stunden. Danach hat ihn, soweit wir wissen, niemand mehr gesehen. Die Kameras der Bankfiliale zeichneten auf, wie er fünf Minuten vor drei seinen Arbeitsplatz verließ und aus der Tür verschwand. Der Bankdirektor meldete erst am nächsten Tag den Betrug. Es fehlen genau dreizehntausend Credits, die in Form von Schecks zeitgleich mit seinem Verschwinden ausgezahlt wurden. Von dieser Frau entgegengenommen.“ Sie tippte einen Befehl ein und sofort zeigte eine Kamera eine blonde Frau, die an einem Schalter Bargeld entgegennahm. Außer der Größe hatte sie rein garnichts mit dem Verdächtigen gemein. „Zwanzig Minuten nach seinem Verschwinden tauchte sie auf. Genau wie in dem Fall davor, und davor und davor…“

„Immer die gleiche Masche, aber die Verkleidungen sind nie identisch. Die Unterschriften lassen keinen Zweifel zu, dass er ein Profi ist“, fügte jemand von New Scotland Yard hinzu. „Er bleibt nie lange an einem Ort. Der Verdächtige meldete sich krank“, warf ihr Kollege und wedelte mit einem in Folie gehülltes Papier herum. „Selbst die Krankmeldung war gefälscht.“

Christine fasste sich an ihre Schläfen und blickte mit einer Mischung aus Verachtung und Langeweile auf den Ermittlungsstand eines Falls, von dem sie glaubte, dass er eins ihrer Sargnagel sein sollte. Insgeheim dachte sie kurz an ihre früheren Geschichten zurück, obwohl sie im Laufe der Jahre herausfinden musste, dass das wahre Leben nie an ihre Träume heranreiche. „Vieles spricht dafür, dass er also nie lange an einem Ort bleibt und diese Nummer wieder und wieder abzieht.“ Sie zog eine Grimasse. „Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass er nach System vorgeht, was seine Opfer angeht. Es lässt sich keine Symmetrie erkennen. Mal in einem Vorort, mal eine Hauptstadt. Und wenn wir alle ungeklärten Fälle der letzten Jahre in Betracht ziehen“, sie nahm einen Schluck Kaffee, bevor sie fortfuhr, „ist er seit über zwanzig Jahren dabei. Geschätzter Betrugswert: vierundvierzig Millionen. Wahrscheinlich mehr.“

„Auch der Computer hat nichts gefunden“, warf ein Kollege ein. „Mal hat er schwarzes Haar, gelockte blonde Haare, Glatze, ist übergewichtig oder, wie hier in Paris benutzte er sogar einen Rollstuhl. Er ist ein Meister der Tarnung. Seine Fingerabdrücke sind nie dieselben. Selbst seine Stimme…“

„Wir haben alles abgesucht.“ Willing legte einen Bericht vor sich und tippte mit dem Finger darauf. „Er kaschiert sogar seinen Geruch. Die Hunde haben nichts gefunden. Seine letzte Wohnung läuft auf den Namen einer Person, die schon vor Jahren verstorben ist. Wir haben alles auf den Kopf gestellt. Sogar die Mülleimer im Hof. Er ist wie ein Geist. Er…“

„Oder sie.“

„Oder sie hinterlässt keine Spuren.“ Willing nickte in die Runde und ließ ihre Hand schwer auf den Tisch fallen. „Das ist entsetzlich“, stellte sie fest. „Mit anderen Worten: wir wissen garnichts. Ich will dort ein Profil sehen, wenigstens eine kleine Spur. Es kann doch nicht sein, dass die klügsten Köpfe im Raum mit genügend Arbeits- und Praxiserfahrung auf der Stelle stehen und nichts wissen!“

„Sollen wir das Ganze der Presse mitteilen?“ fragte jemand. „Das gäbe doch herrliche Schlagzeilen: Wer ist Mister X?“

„Warum nicht?“, meinte jemand anderer. „Wir haben nichts zu verlieren.“

Sie schauten sich betroffen an.

Das rote Fragezeichen schien sie alle zu verhöhnen. Wie der legendäre Flugzeugentführer D.B. Cooper, der 1971 eine Boeing-Maschine entführt und mit dem Lösegeld spurlos verschwunden war, schien auch dieser Verbrecher aus nichts anderem als Vermutungen und haltlosen Spekulationen zu bestehen. Mister X war der Alptraum eines jeden Polizisten: gerissen, vorsichtig und nie zu gierig. Er oder sie konnte jeder sein. Allmählich befürchtete sie, dass dieser Fall sie bis ans Ende ihrer Karriere verfolgen würde. Sie blickte auf und starrte zum hinteren Ende des Raums, wo kurz Bewegung an der Tür auszumachen war.

Willing hatte eine Frage: „Entschuldigung, wer sind Sie?“

Alle Köpfe drehten sich um und starrten den Mann an der Tür an, der mit einem Tablett frischen Tee und Gebäck hereinkommen wollte. Die Uniform wies ihn als einfachen Polizisten aus. „Alderson, Maam. Ich wollte fragen, ob Sie noch etwas brauchen.“

Willing blickte den Mann an und versuchte zu erraten, wo sie ihn schon mal gesehen hatte. Eins achtzig groß und dünn wie eine Bohnenstange. „Sind Sie neu hier?“ wollte sie wissen. „Haben Sie das Schild nicht gesehen? Laufende Ermittlung.“

„Tut mir leid. Ich stelle das hier nur mal ab.“ Der Mann namens Alderson grinste unsicher und ging hinein. „Bin gleich weg. Bitte weitermachen…“

Zwei Köpfe aus der Gruppe schüttelten den Kopf, dann wandten sich alle wieder wichtigeren Dingen zu, als der Polizist den Tee verteilte.

Christine Willing starrte feindselig zu der Pinwand. „Unser Mister X braucht Papiere, Dokumente und so. Wir sollten unsere Kontakte nutzen“, gab sie zu bedenken und nahm sich eine frische Tasse Tee vom Tablett. „Er ist entweder ein hervorragender Fälscher oder er kennt sich bestens aus. Er muss bekannt sein. Irgendjemand weiß etwas. Er nutzt seine Identitäten nicht mehr als einmal – was bedeutet, dass er über genügend Bargeld verfügen muss, um sich ständig etwas Neues zu versorgen.“

„Sowas muss doch auffallen. Und wenn er sich selbst versorgt, müsste er die nötigen Gerätschaften besitzen. Also mobil sein.“

„Ich werde darüber nachdenken“, versprach der Detektive Inspector. „Ich schlage vor, wir rollen nochmal alles auf. Beginnen von vorne. Sprecht mit den Zeugen. Weiß jemand, wie viele Fälscher es in diesem Land gibt?“

Keiner wusste es.

Willing schickte eine Mail an einen ihrer Kollegen. Nach zwei Minuten wusste sie Bescheid. „Ich werde die Sache in die Hand nehmen. Das ist also der einzige Weg.“ Sie wirkte nicht glücklich. „Fassen wir also zusammen: wir haben kein Profil, keine sichtbaren Hinweise aber zumindest eine Ahnung, in welche Richtung wir schauen müssen. Oder hat jemand noch eine Idee?“

Alle starrten sich betroffen an.

Willing begann ungeduldig zu werden. „Gibt es sonst noch etwas?“ fragte sie. „Wenn nicht, so haben wir alle viel zu tun. Morgen früh um acht treffen wir uns wieder.“

Sie hatten gerade ihre Papiere zusammengenommen und waren aufgestanden, als das Telefon klingelte. Willing war schon draußen auf dem Flur, als sie jemand zurückrief. „Wir haben einen pensionierten Fälscher, der schon gesessen hat. Die Fahrt dauert drei Stunden raus.“

 

Willing nickte zerstreut, nahm ihren Mantel vom Haken und machte sich auf dem Weg. Niemand bemerkte Alderson, der sich lächelnd abwandte.

Larry Meldwin, heute für zwanzig Minuten Jimmy Alderson, war wieder im Spiel und er genoss seinen kleinen Ausflug ins Polizeigebäude, während er die gebrauchten Tassen in die Spülmaschine einräumte. Während seiner Tätigkeit war er wirklich lebendig, und seine Gedanken glitten dahin wie Wellen, und selbst die Luft funkelte. Später würde das Gefühl abflauen, aber derzeit flog er.

Er spürte das alte elektrisierende Gefühl, das man bekam, wenn man direkt vor einem Banker stand, der sorgfältig eine Fälschung prüfte, bei der man sich besonders viel Mühe gegeben hatte. Die Welt hielt den Atem an, und dann lächelte der Banker und sagte: „Scheint alles in Ordnung zu sein. Ich werde das Geld holen lassen.“ Es war die Aufregung, nicht die Jagd, sondern das Stillstehen, des Bemühens, ruhig und gefasst und echt zu sein, gerade lange genug, um die Welt zu täuschen und sie um den Finger zu wickeln. Das waren die Momente, für die er lebte.

Er wandte sich um und starrte zur Wand, die nur einen kleinen Teil seines Berufes ablichtete. Sie hatten zu wenig Anhaltspunkte, denn sonst hätten sie eine zweite und dritte Wand gebraucht. Um ihn herum hundert sinnvolle Aktivitäten einer geordneten Welt, die zusammen einen Zweck erfüllte: Das Verbrechen zu bekämpfen und seine Bürger zu schützen. Larry fühlte sich wie ein Kind beim Versteckspiel, das als einziges über das perfekte Versteck verfügt. Das rote Fragezeichen schien ihm verschwörerisch zuzuwinken. Sie hatten keine Ahnung, und während sie im Dunkel fischten, würde er sich einen kleinen Spaß gönnen und dann schleunigst verschwinden. Im Grunde idiotisch, aber die Aufregung erfüllte ihn mit tiefer Freude, die ihm äußerlich nicht anzusehen war. Dazu war er schon zu lange im Geschäft.

Niemand achtete auf den gewöhnlichen Polizisten Alderson, dessen Identität genauso falsch war wie sein aufgesetztes Lächeln und dessen Existenzberechtigung nur darauf hinauslief, seinen Verfolgern einen kurzen Besuch abzustatten. Niemand würde verletzt werden. Obwohl es Larry aufs Tiefste verabscheute unnötige Risiken einzugehen, musste er sich nach all der Zeit einfach davon überzeugen, was die „andere Seite“ bislang von ihm wusste. Sie fischten also im Trüben. Perfekter Zeitpunkt, um ganz aufzuhören.

Langsam beendete er seine Arbeit, verließ das Gebäude und verschwand hinter einer Mülltonne um sich schnell umzuziehen. Die Perücke, der falsche Schnurrbart und die Uniform landeten in einer Tüte und landeten in einer Mülltonne. Als dunkelhaariger Mann mit Brille und einem Koffer verließ er nur wenige Augenblicke später seine Position und trat auf die Straße, um ein Taxi zu rufen. Mit dem Fragezeichen in der Hand winkte er einem der gelben Autos zu.

Immer schnell sein. Immer gründlich sein.

Larry Meldwin hatte ein Talent. Außerdem hatte er sich gewissen Fähigkeiten angeeignet, dass sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen waren. Er hatte gelernt, sympathisch zu sein aber auf eine Art, die es ihm ermöglichte, dass sich niemand so recht an ihm erinnerte. Anderen Leuten fiel es schwer ihn zu beschreiben. Er war „ungefähr“ zwischen dreißig und vierzig Jahren alt. In Berichten der Polizei überall auf der Welt war er inzwischen ungefähr eins siebzig oder eins achtzig groß und der Mangel an besonderen Merkmalen betraf sein gesamtes Gesicht. Er war Durchschnitt. Menschen erinnerten sich an Brille, Bart oder an Namen und Manieren und davon hatte er eine Menge. Außerdem erinnerten sie sich daran, dass sie vor der Begegnung mit ihm reicher gewesen waren.

Zehn Minuten später befand sich Larry Meldwin bereits ein ganzes Stück außerhalb der Stadt. Er hatte in einem Waldstück einen Van stehen, in dem er seine Apparaturen wie Computer, Drucker, verschiedene Papiersorten und spezielle Farben aufbewahrte. Der Wagen wurde ein ganzes Stück weiter zu einem Altmetallhändler gefahren, der dafür bekannt war, für ein großzügiges Trinkgeld keine Fragen zu stellen und besonders effizient zu sein. Larry war sich sicher, dass sein Van am Abend als Schrottwürfel enden würde. Mittels eines gemieteten Mopeds fuhr er seine vorgegebene Route ab, um in seinen Notfallverstecken seine Barschaft abzuholen. Banken konnten Zahlungen zurückverfolgen oder schlimmer noch, ausgeraubt werden.

Kleinere Päckchen wanderten in seinen Rucksack, von dem sich Larry abends einen Reisekoffer und ein paar Kleider zum Wechseln besorgte. Es war Zeit auszusteigen.

Mit dem Rucksack voller Credits kam er spätabends am vereinbarten Treffpunkt an.

Jason P. Millings war Eigentümer und Präsident der gleichnamigen Kaffeebude am Hauptbahnhof im Südosten der Stadt, wo sich selten Züge und Passagiere einfanden – höchstens, um zu sterben. Die Rezension der letzten Jahre hatten diesen Stadtteil hart getroffen und neben dem heruntergekommenen Bahnhof wirkte die Bretterbude mit dem gammeligen Sortiment und dem nicht besser schmeckenden Kaffee wenig Anreiz, um zu verweilen. Jason. P. Millings interessierte es auch kaum, ob jemand tatsächlich seinen Kaffee kosten wollte. Er bot andere Dienste an. Er war ein Mann mit einem so ernsten Alkoholproblem, dass er sich jeden Tag betrinken musste, um sich vor den möglichen Folgen seiner Sucht zu Tode zu erschrecken.

An diesem Abend döste er, an seiner Bude lehnend, mit dem Kopf an der Kaffeemaschine. Larry kam zu ihm herüber und klopfte an dem Holz. Jasons Augen waren so rot wie Tomaten, sein unrasiertes Gesicht eine verwüstete Landschaft, und sein Atem so abstoßend, dass er sich selbst davor ekelte. Er hob kurz den Kopf, um den Kunden in Augenschein zu nehmen. „Yeah, was gibt es“, ächzte er.

„Sie müssten mir das bitte wechseln.“ Ein sauberer einhundert-Credits-Schein wurde über die Theke geschoben. „In zwei Fünfzigern, bitte.“ Jason zuckte zusammen, als dieser Lärm durch seinen Schädel hämmerte.

„Sehe ich aus wie eine Wechselstube!?“

Larry beugte sich verschwörerisch vor. „Ich muss noch den Zug nach London erwischen.“

Er nickte verstehend und blickte kurz zu seinem Handgelenk. „Ist noch früh. Den kriegen Sie noch.“

„Ich muss noch heute Abend zu meiner Tante. Sie hat Geburtstag…“

Jason bedeutete ihm, still zu sein. „Überspringen wir doch den ganzen Teil. Ich weiß, dass du es bist, Larry.“

Larry runzelte die Stirn, weil ihn dies überraschte. „Lassen wir diesen Spionagekram?“

„Wir lassen ihn.“

„Gut. Ich checke aus.“ Larry nahm seinen Rucksack und stellte ihn an der einzigen Öffnung der Bretterbude. „Es sind genau fünfundzwanzigtausend.“

Jason nickte knapp, überprüfte den Inhalt des Rucksacks und schob einen braunen Umschlag langsam über die Theke. „Das, was du wolltest. First-class nach Eden-6 und meine Glückwünsche“, erklärte er. „Du bist jetzt Adrian Purvis, Astronaut im Ruhestand. Mit frischer ID und einem Bungalow in NewTokyo.“

Larry wirkte erschrocken. „Astronaut? Ist das nicht ein bisschen dick aufgetragen?“

Jason grinste, obschon es ihm nicht gutging. „Der arme Purvis ist vorgestern verstorben. Mein Kontakt hat das Ticket einfach mitgehen lassen. Scheint mir ein Wink des Schicksals zu sein.“

Larry checkte den Chip: vierzig Millionen Credits genau. Tatsächlich hatte er in Raten seit Jahren an Jason Beträge überwiesen, der das Geld waschen und anlegen würde. Die zwanzig Prozent Bearbeitungsgebühr gehörten dazu und konnte Larry verschmerzen. Er überflog die Papiere. Die Daten waren leicht einprägsam, aber am Gesicht musste er etwas verändern. Eine andere Identität anzunehmen war ein Leichtes. Er zuckte die Schultern. „Na schön. Wird schon gehen.“ Er nickte Jason zu. „Dann mach es mal gut, Jason.“

Er nickte zurück. „Da geht mein bester Kunde. Schreibst du mir?“

Larry schüttelte den Kopf. „Ich ziehe einen Schlussstrich. Einmal Hyperschlaf, dann zum Bungalow und dann ist Ende. Leb denn wohl, Jason.“

„Name?“ fragte die Stewardess und blickte auf ihre Liste.

„Purvis“, antwortete Larry mechanisch. „Adrian. ID-Code vierzehndreizehn.“ Er reichte ihr seinen Computerchip.

Sie steckte ihn in ihr Handgerät und las die Informationen, die auf dem Bildschirm erschienen. Dann nickte sie und lächelte ihn freundlich an. „Alles klar. Willkommen an Bord, Mr. Purvis.“

Der schlanke untersetzte Mann lächelte ebenfalls. Mr. Purvis. Das gefiel ihm. Die Companie aeriana pries sich als die Fluggesellschaft Nummer eins, und bislang schien es, als würden sie ihrem Anspruch gerecht werden. Die Stewardess winkte ihn ins Schiff hinein, um die Personalien der hinter ihm wartenden Frau zu überprüfen. Er folgte den Zeichen zu den Hyperschlafeinheiten. Das Schiff war klein und wurde nur für den Personentransport benutzt. Sobald es ihm Orbit war, würde es wie ein Dutzend anderer Schiffe an dem großen Transportschiff andocken – ähnlich wie Blütenpollen an den Hinterbeinen einer Biene. Sobald alle Schiffe angedockt waren, würde das Personal in den Hyperschlaf gehen, nachdem sie auf Kurs waren und das Sonnensystem verlassen hatten.

Jason hatte Wort gehalten – wie üblich. Es war die First-Class, und alles um ihn herum zeugte von protzigem Prunk, der Larry sehr entgegenkam. Die Hyperschlafkammer war mit einem elfenbeinfarbenen Gehäuse versehen, der Teppich war aus echtem Leopardenfell und er hatte ein großes Zimmer allein für sich. Wie es sich für einen pensionierten Astronauten gehörte. Zwei Monate Schlaf, und er war da. Nach fast dreißig Jahren in seinem Geschäft gelüstete es ihm jetzt die Lorbeeren seiner harten Arbeit zu genießen. Er musste nicht beweisen, dass er ein Astronaut war – sobald er auf Eden-6 war, würde er sich einfach eine neue und diesmal endgültige ID ausdenken.

Über das Leben, das er hier auf der Erde hinter sich ließ, wollte er nicht mehr nachdenken. Das ewige Versteckspiel war ihm langsam lästig geworden und Eden-6 versprach einen Neuanfang. Er würde neue Dinge sehen, neue Erfahrungen machen. Vielleicht würde er sich sogar einen Hund anschaffen und mit ihm an den kilometerweißen Stränden des paradiesischen Planeten spazieren gehen. Er war noch jung genug. Die Bedingungen auf diesem gerade frisch kolonisierten Planeten sollten mit die besten sein – wenn man vermögend war. Er legte das rote Fragezeichen und seine Brieftasche mit einem Credits-chip von vierzig Millionen auf den Tisch neben sich.

Mit diesen hoffnungsvollen Gedanken stieg er in die Hyperschlafröhre. Ein höflicher Steward ging an seiner waagerecht gelagerten Schlafbox vorbei und überprüfte alles, die Leitungen, die Dosierung der Narkotika, die Computereinstellungen. Gewissenhaft und gründlich, das gefiel Larry.

Der Steward nickte ihm in respektvollen Abstand zu. „Es ist uns eine Ehre, Sir, einen wahrhaftigen Astronauten mit Ihrem Format begrüßen zu dürfen.“

Larry nickte begütigend zurück, machte es sich zwischen den gemütlichen Kissen bequem und schloss die Augen. Sanfte Musik plätscherte aus Lautsprechern, um ihn zu entspannen, während eine freundliche Frauenstimme ihm von den Dingen erzählte, die ihn auf Eden-6 erwarteten. Larry lächelte, schloss die Augen und wartete darauf, dass die Kühle des Hyperschlafs über ihn kam.

Ein neues Leben. Eine neue Chance.

Er lächelte befriedigend und schlief ein.

Die Maschine erledigte ihren Job. Das große Hauptschiff wartete geduldig im Orbit, während die kleineren Schiffe andockten, behutsam ihre wertvolle Fracht dabei niemals aus den Augen lassend. Die insgesamt vierhundert Seelen träumten und ruhten in regelmäßigen Intervallen. Sie hielten sich an ihren vorprogrammierten Kurs und ließen sich von der besten Technologie verwöhnen, derer die Zivilisation fähig war. Die Maschine hielt die Träumenden am Leben, kontrollierte jedes wichtige Teil – von der einfachsten Steckdose bis zur hochkomplexen KI, die die Sprünge berechnete – und reparierte kleine Aussetzer in ihrem System. Über Jahrzehnte hatte sich die Technologie als weitaus verlässlicher erwiesen als die Menschen, die sie konstruiert haben. Die Maschine kennt keine negativen Gefühle und befolgt stur ihre Befehle. Die Urteile, die sie fällt, basieren ausschließlich auf Wahrnehmung und Analyse. Die Maschine handelt fehlerfrei.

Hochempfindliche Sensoren beobachteten jeden kleinsten Arbeitsschritt an Bord, beobachteten die Arbeit der Crew, die sich einer nach dem anderen in den Hyperschlaf brachte, und beobachteten mit der gleichen Intensität den luftleeren Raum um sich herum. Das All war feindlich. Schon ein Druckabfall in einer der Lagerhallen konnte eine Kettenreaktion hervorrufen, ein bisschen Weltraumschrott konnte der empfindlichen Hülle schaden und freigesetztes Feuer in der Schwerelosigkeit konnte gewaltigen Schaden anrichten. Die Maschine war geduldig, effizient und äußerst gründlich. Wie ein namenloser Gott herrschte sie über das eigene Reich mit der gleichen gleichgültigen Kälte, wie sie in den Fluren herrschte.

 

Manchmal … kommt es anders.

Im Lagerraum bewegte sich etwas, das kein Teil des Schiffes war, aber auch dieses etwas wurde von einer Art Gesetz vorwärts getrieben, die der des Schiffes sehr nahe kam. Durch die ständige Vibration wackelte ein Kaffeebecher vor und zurück, vor und zurück, ohne nachzudenken. Durch eine seltsame Laune des Schicksals von einem übermüdeten Arbeiter vergessen, gab der Becher schließlich den unwiderstehlichen Kräften nach und kippte um. An einer anderen Stelle, vielleicht, hätte das Ereignis keine großen Folgen nach sich gezogen doch das Gemisch schwappte um und wäre fast auf dem Boden gelandet, wenn nicht in dem Moment die Schwerelosigkeit eingesetzt hätte. Von der irdischen Geisel der Schwerkraft befreit formte sich eine dunkle, kleine Kugel im Raum. Es war keine Säure. Nur Kaffee.

Die Götter würfelten.

Die Maschine beobachtete alles und jeden, aber sie erkannte nicht die Gefahr als die unförmige Kugel, nicht größer als eine Kinderfaust, quälend langsam seinen Weg suchte und auf die Seite eines Zylinders ansteuerte. Wie eine kleine Blume zerstieb der Ball und kleinere Tropfen eilten den Gesetzen nach zu allen Seiten hin, während einige Tropfen die hauchdünne Naht zwischen der durchsichtigen Kuppel und dem metallenen Unterbau zusteuerte. Im Innern der hochkomplexen Maschine fand, vor feinen Sensoren verborgen, ein seltsames Wettrennen statt, als der Tropfen schließlich eine schlecht geschützte Stelle fand, die niemals eine Verbindung finden sollte.

Ein Funke.

Der Kurzschluss ereignete sich in dem Moment, als das große Schiff den Sprung wagte. Die Maschine ließ sich nicht ablenken, doch es gab gewisse Arbeitsprozesse, die selbst von einer KI mit über dreitausend Gigaspeicher absolute Konzentration erforderte. Es versagte in dem Moment, als ein wichtige Maschine im Lagerraum zur Regulierung der künstlichen Schwerkraft plötzlich wieder auf On schaltete und gewaltige Kisten und Maschinen unter der Last ächzten. Ein Behälter mit Säure zersplitterte unter dem ungewohnten Druck und ungehindert strömte die Säure aus. Sie fraß sich durch die Abdeckung ihres Zylinders und schließlich durch den Boden. Von unten stieg Rauch auf und erfüllte den Raum.

Sofort erwachten hier wie auch im ganzen Schiff Warnzeichen zum Leben, Alarmsignale leuchteten auf und Sirenen heulten. Die Menschen konnten sie nicht hören, aber das änderte nichts an der Reaktion der Maschine. Sie tat ihre Arbeit, während sie den Sprung fortsetzte – so wie es ihre Programmierung vorgesehen hatte. Immer noch stieg Rauch aus der ausgefransten Öffnung im Fußboden auf.

Versenkbare Ventilatoren begannen in der Decke zu summen und saugten das umherwirbelnde, sich verdickende Gas ab. Der Säure war es einerlei.

Unterhalb des Fußbodens explodierte etwas. Helles, strahlenförmiges Licht blitzte auf, dann schoss eine gelbe Stichflamme empor und fand Nahrung. Dunkler Rauch begann sich mit den dünneren Gasen zu vermischen, die nun durch den Raum waberten. Die Deckenleuchten flackerten nervös.

Ventilatoren schalteten sich ab. Ein Rohr schraubte sich durch die Decke, um die eigene Achse rotierend, wie eine Miniaturkanone, die sich ein Ziel sucht. Schließlich stoppte es und zielte auf die Flammen und das Gas aus dem Loch auf dem Boden.

Was jetzt passierte, passierte sehr schnell.

Plötzlich schlugen Funken aus dem Unterteil des Rohres. Der kräftige Strahl versiegte, und nur ein paar Spritzer tropften noch wirkungslos aus der Öffnung. Die Feuerlöschsysteme waren inaktiv geworden, genauso unbrauchbar wie das Ventilationssystem. Und Feuer und explosive Gase gaben sich ein High Five.

Das war der Moment, in dem das Schiff sich schon im Sprung befand.

„Guten Morgen, Adrian Purvis.“

Schon wieder ein Traum. Man hatte kein Zeitgefühl im Traum, keine Ausdehnung der Zeit. Die Leute sehen alles Mögliche in ihren Träumen, zugleich äußerst realistisch und völlig irreal.

Im Hyperschlaf dehnte sich die Zeit – so auch die Träume, die je nach Reisedauer ein oder zwei Jahre dauern konnten. Wissenschaftler hatten noch nicht erforscht, wie man Träume und ihre dunklen Brüder, die Alpträume unterdrückt. So wurden mit der Atmung und der Blutzirkulation auch diese unbewussten Gedanken in die Länge gezogen, verlangsamt und ausgedehnt. Und Larry Meldwin hatte einen besonders scheußlichen Alptraum gehabt.

Mit dem Begriff „Seele“ hatte er schon seit der Highschool nichts mehr anfangen können, als er ein braver Kirchgänger war. An der Fakultät für Angewandte Wissenschaften war dieser Begriff dann einen profanen empirischen Verständnis gewichen. In seinem Alptraum hatte er sich seinem Vater stellen müssen…

Eine männliche Stimme, ruhig und mit dem Ernst der Künstlichkeit, drang Larry Meldwin ins Ohr. Er öffnete die Augen.

„Passagier A324, ID-Code vierzehndreizehn“, begann die Mitteilung. „Sie waren dreiundzwanzig Tage im Hyperschlaf und werden sich etwas schwindelig fühlen. Durst und leichtes Unbehagen, gefolgt von Desorientierung sind normal und sollten sie nicht weiter verunsichern. Warten Sie bitte ab, bis das zuständige Personal auftaucht und sie abholt.“

Leere Worte. Larry brauchte Sekunden, vielleicht Minuten um sich zu orientieren.

Die Krankenstation war relativ klein und völlig leer. Er lag neben einer weitaus größeren Einrichtung, die Dutzende von Patienten pro Tag hätte aufnehmen können. Ihm war schwindelig, die Zunge lag trocken wie ein Stück Kohle in seinem Mund und dankbar nahm er den Strohhalm entgegen, die ihm die Maschine reichte. Ein metallischer Greifarm ragte aus einem der Maschinen.

Langsam wanderte sein Blick durch den Raum. Es war kühl und ihm fror. Er war allein. Wo war das Personal?

Larry schluckte das kühle Nass und spürte, wie er langsam an Kraft gewann.

„Passagier A324, bitte begeben Sie sich in aufrechte Position. Es besteht kein Grund zur Sorge.“

Langsam erinnerte sich wieder. Er war Adrian Purvis, jetzt und hier, und er hatte es geschafft. Er lächelte schwach bei dem Gedanken, dass man so freundlich war ihn als Ersten zu wecken. Gepriesen sei die First class!

Er lächelte.

Weniger schön war jedoch, dass niemand vom medizinischen Personal anwesend war. Sei es drum! Er würde auf Instagramm bestimmt kein Dislike geben. Er wollte nur noch runter von diesem Schiff, raus auf Eden-6 und die herrliche Sonne spüren. Je schneller, desto besser.

„Die Companie aeriana bedauert Ihnen mitzuteilen, dass wir uns in einer Notlage befinden. Wünschen Sie nähere Erläuterungen?“

„Mmh?“

Der Mann versuchte etwas zu sagen. Seine Lippen bewegten sich, und er bäumte sich auf, doch die Maschine konnte nicht sagen, ob er sich gegen etwas stemmte oder vor etwas zurückwich. Die KI triangulierte ihre Sensoren genau auf den Raum. Gurgelnde Geräusche drangen zu ihr, wie Luftblasen, die aus der Tiefe an der Oberfläche gelangen.

Die Maschine war ein äußerst effektives Stück Metall. Die KI hatte Zugriff auf geographische, seismographische, astrophysische und kosmologische Daten und kannte wie ein behandelnder Arzt seinen eigenen Körper, sprich Raumschiff. Sie war nicht ungeduldig, sondern rief sich die notwendigen Daten ins Gedächtnis, was es mit dem Menschen auf sich hatte. Medizinische Daten flackerten kurz auf, und sie verstand. Die KI wählte eine vorsichtige, visuelle Herangehensweise.

Vor Larrys Augen flammte ein Hologramm auf.

Eine schwach leuchtende Version der Erde, der Flugbahn und Eden-6. Der Vektor wies eine Krümmung auf und fast in der Mitte flammte ein rotes Ausrufezeichen auf, als würde es etwas sagen wollen.

Die KI arbeitete mit der Geduld einer treusorgenden Henne. Sie sprach mit Pausen.

„Fanghus 227. Äußerer Gürtel, Erzraffinerie, Einrichtung seit zehn Jahren aufgegeben. Wir befinden uns nicht auf der vorgeschriebenen Route. Wir brauchen Ihre Hilfe.“

„Was...?“ Unverständnis schwang in der Stimme mit, die die KI mühelos empfangen konnte. Hätte die KI mit einer Sonde korrespondiert, hätte sie nichts anderes erwartet, als das der Teil von ihr prompt und ohne Verzögerung funktioniert hätte. Menschen hingegen… brauchten Zeit.