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Aus der Reihe: Literatur aus Litauen #4
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Jurgis Kunčinas

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Röntgenstationen

Roman

Aus dem Litauischen

von Klaus Berthel

ATHENA

Literatur aus Litauen

Band 4

Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert von »Bücher aus Litauen« mit Mitteln des Ministeriums für Kultur der Republik Litauen und dem Deutschen Übersetzerfonds e.V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

E-Book-Ausgabe 2013

Copyright © 2002 by Jurgis Kunčinas

Copyright © der deutschen Ausgabe 2004 by ATHENA-Verlag,

Copyright © der E-Book-Ausgabe 2013 by ATHENA-Verlag,

Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen

www.athena-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Berthold Forssman, Katja Niehörster

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Print) 978-3-89896-176-9

ISBN (ePUB) 978-3-89896-842-3

Nullzyklus

Aus irgendeinem Grund neigen wir dazu, eher an das zu glauben, was wir nie sahen, nicht wissen, oder an das, woran wir uns nur unzureichend erinnern. Aber auch dort, wo wir uns nicht erinnern wollen, wenden wir den Blick, selbst wenn wir mit uns allein sind. Meist dann, wenn wir unser schuftiges Betragen rechtfertigen, unsere schlimmsten Worte und Taten. Erst später erfahren wir, gleichsam zufällig: So muss es sein, so sind wir eben veranlagt. Selbst der düsterste Verbrecher findet stets einen Grund, sich zu rechtfertigen: Weiß nicht, was damals mit mir los war. Der Teufel hat mir ein Bein gestellt! Die arme Wissenschaft ist mittlerweile überzeugt, dass all dies nur der natürliche Selbstschutz des Menschen ist, eine Art geistige Konvulsion des Körpers, mit dem Ziel, sich aus einer wirklichen oder vermeintlichen Einkreisung zu befreien, sich ertrinkend an irgendein Brett zu klammern, selbst dann, wenn es nicht nur sinnlos ist, sich retten zu wollen, sondern auch albern. Doch wie auch immer: Alle guten oder bösen Taten können wir nur hier, auf dieser geplagten Erde, vollbringen, wo wir stets von irgendwoher gedrängt und geschoben werden, manchmal von innen, öfter von außen. Zwingt uns doch das garstige Leben ständig dazu, irgendwelche geschriebenen oder ungeschriebenen Konventionen einzuhalten – nicht ins Trinkwasser zu spucken, kein Blumenbeet zu zertrampeln, nicht stockbesoffen Auto zu fahren, nicht gegen den Wind zu pusten und aus irgendeinem Grund nur mit der rechten Hand zu schreiben. Und so weiter, ohne Ende. Einst genügten da die Zehn Gebote, im aufgeblasenen England ein einziges Bill. Man muss nicht lange nachdenken, um sich zu überzeugen, dass es sich bei der so genannten Geschichte der Zivilisation nur um ein ewiges Gefeilsche ums Zusammenleben handelt, einen Kampf mit Parasiten und Ratten, dazu ständige Vervollkommnung der Bewaffnung. Alles andere sind schöne, aber wirre und schnell verblassende Episoden oder Phantastereien. Schade, dass niemand es schafft, wenigstens dreihundert Jahre zu leben. Dann fände sich vielleicht ein Akteur oder wenigstens ein Zeitzeuge, der schlicht und überzeugend erklärte, dass alle Anstrengung sinnlos ist, die Resultate zeitbedingt und zeitweilig sind und dass Verträge gebrochen werden. Aber weil das niemals passieren wird, spinnen wir schon wieder neue Intrigen, rüsten uns zu Verhandlungen mit Werweißwem, schüren sogar die naive Hoffnung, uns das Suwalki-Dreieck[1] einzuverleiben, dazu noch Preußen und das von Weißrussland vereinnahmte Territorium. Wir werden das Prußenland wiederauferstehen lassen, ohne Germanen und Slawen! Mit eigener Verfassung, eigener Währung, eigenem Wappen, aber alles wird uns gehören! Solche Träumer, es ist wahr, sind nicht zahlreich, aber der Appetit ist groß, und böte sich wenigstens eine winzige, ganz und gar unhistorische Chance … Der Ewige Unterhändler würde herzhaft lachen über solche Illusionen. Und vielleicht ist es gut so. Ohnehin wird nichts daraus. Weder diesen dreihundert Jahre alten Menschen werden wir zu sehen bekommen noch Neu-Preußen. Es gibt auch hier noch einiges zu tun, in der Dämmerung des Jahrhunderts, wo die Raben schon wieder Krieg krächzen und die Alten und Alkoholiker husten und röcheln, alles schon real. Keine Phantastereien. Halten wir uns an die Dinosaurier- und Mammutknochen, deren Schlüsselbeine sind besonders wertvoll! Überzeugen wir uns von den Wirbelstürmen, die vor Millionen Jahren wüteten, der Riesenflutwelle, die einst das Baltikum heimsuchte, den alles verheerenden Erdbeben. Nach einem solchen knickte sich der traurige Schneemensch eine Eiche und wanderte, gestützt auf dieselbe, in den Himalaja aus, wo er auch heute nicht schlecht lebt, sich vermehrt und weint, wenn er an die liebe Heimat denkt. Glauben wir doch an seine Existenz, auch wenn wir ihn nie zu Gesicht bekamen! Und ebenso würden wir uns überzeugen lassen, dass jene Geschöpfe in den fliegenden Untertassen keine anderen sind als Litauer, die vor sehr langer Zeit die Erde verließen: Žemaiten und Jotwinger. Gewiss, sie sind stark mutiert, vergaßen ihre Traditionen, Sitten und Gebräuche, wissen nichts von Basanavičius[2], Vytautas dem Großen oder Alfredas Bumblauskas.[3] Warum nicht? Und wir packen wieder einmal unser Elend der ganzen Welt auf die Schulter, die uns schnöde behandelt, nicht ordentlich kleidet, uns beinahe hungern lässt, und obendrein wird der Schnaps teurer, immer teurer und teurer.

Die Gerechten dieser Erde sind stets allzu fordernd und ungerecht den Schwachen gegenüber. Und sind doch selbst keine Heiligen. Sie besiegen uns wieder und wieder, hastend, böse, sich aufplusternd, immer das suchend, was sie die Wahrheit nennen. Doch das, was man bereits besiegt glaubt, feiert immer wieder seine Auferstehung von den Toten, ob uns das passt oder nicht. Nachdem wir die beinahe noch greifbare, so gar nicht ferne Vergangenheit beerdigt haben, zieht es uns immer mehr dorthin, wo wir noch nicht waren. Immer überzeugender erklären wir uns selbst, warum nach der Schlacht von Tannenberg nicht das Territorium des Ordens besetzt wurde. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, warum nicht nur Prinz Kazimir der Tuberkulose zum Opfer fiel, sondern auch unsere Bildungselite: Poeten, Musiker, Gymnasiasten, selbst Ärzte. Der Nutzen all dieser Überlegungen ist übrigens gleich null. Selbst in der Zukunft wird all das kaum von Belang sein. Doch so sind die Litauer beschaffen. Sie sind dazu da, dort Nutzen zu suchen, wo keiner ist, aus der Vergangenheit Missmut und Revanchegelüste zu schöpfen, andere anzuschwärzen und heutzutage auch sich selbst.

Trost gibt es immerhin, wenn auch geringen. Verstärkt sich mit den Jahren die Zeit-Schicht, dann ergeht es dem Menschen wie dem Brunnenwasser im Herbst. Das Trübe, Sumpfige reinigt sich von selbst, wird durchsichtig wie das Sieb der Žeimena. Alles regelt dann eine rasselnde Uhr, die wieder zu laufen beginnt. Tick tack, tack tick. Alle Irrtümer, Irrungen und Wirrungen verlieren ihren Schrecken, die erfahrenen Erniedrigungen, selbst Momente, in denen man dem Tod ins schielende Auge blickte, rufen allenfalls ein Achselzucken hervor. Ja, und? Na, mich hätten sie damals glatt durchbohrt. Vom Dach gestoßen, unter die Räder gebracht. Eingemauert in einen Betonpfeiler. Ist das heute noch wichtig? Kein bisschen. Es darf mitleidig gelächelt werden. Doch auch die, die Abstand gewonnen haben und beinahe versöhnt zu sein scheinen, wagen selten, jene erst unlängst beendete Vergangenheit offen anzusprechen, deren Monotonie und Langeweile, die seltenen Lichtblicke. Sie war auch bitter und düster und blutig, diese Vergangenheit. Doch all das, scheint es, ist gar nicht uns widerfahren, sondern irgendwelchen Bekannten, vielleicht sogar Verwandten. Aus der Mehrzahl unserer Mitmenschen bekommen wir nicht viel heraus, umso mehr, als alles Frühere verdrängt wird von neuen, wenn auch fern von uns sich vollziehenden Ereignissen: Der Krieg in Afghanistan wird abgelöst von dem am Persischen Golf, bald darauf wird Tschetschenien in Grund und Boden gebombt, jeden Tag explodieren Flugzeuge, fliegen Gebäude in die Luft, werden Geiseln genommen. Niemand schert sich noch um einen Menschen, der eines natürlichen Todes stirbt. Gewöhnliche Krankheiten, Seelennöte – uninteressant! Langweilig selbst, wenn auf der Welt mal kein Krieg geführt wird, obwohl das noch nie vorgekommen ist. So, wie die Jahre sich übereinander schichten, liegen sie nun, die so genannten Ereignisse, aufgestapelt wie ein paar Festmeter Holz, irgendwo auf einem sonnigen Platz im Wald, und die alten Begebenheiten, selbst die unangenehmen und schrecklichen, bedeckt jene weiche, pelzige, grüngraue Schimmelschicht des Vergessens, aus der man Penizillin gewinnt. Dort findet es sich am häufigsten, es ist dort billig und jedermann zugänglich. Man sollte sich diese noch nicht abtransportierten Festmeter ansehen, besonders wenn es Erlenholz ist. Ein wenig von der untergehenden Sonne beschienen, rötliches Harz ausschwitzend wie einen Blutstrom, seltsam ordentlich die Stämme und ein wenig traurig. Zuflucht für den, der sich im Wald verirrt hat, und ein, wenn auch trügerisches, Sicherheitsgefühl vermittelnd.

Dennoch hat sich die Welt erstaunlich gewandelt, selbst während unseres kurzen Lebens. Geht man schon auf die fünfzig zu, dann darf man staunend vermelden: Weiß Gott, vor einem Vierteljahrhundert hätte ich mir nicht ausmalen können, dass heute jeder Rotzlöffel Auto fährt und aus der Disko mit einem Mobiltelefon seine Perle anruft, während die Märtyrer der Wissenschaft von irgendeinem Internet phantasieren. Dass der Russe einmal wie ein Golem auf die Knie fallen wird. Dass sich Politruks in Politiker verwandeln und KGB-Chefs in die Bosse von Nachrichtenagenturen. Oh ja, vor einem Vierteljahrhundert, so sag ich mir selbst: Auch ich war empfindsam damals, aufnahmefähig, voller seltsamer Kräfte, so munter, weltoffen und neugierig, dass ich auf der Straße nicht nur einen Spatzenschwarm wahrnahm, sondern auch noch Mädchenbeine, einen verlorenen Rubel, den vorbeiradelnden, bärtigen Künstler Mecčislovas, ein Stück Himmel zwischen den Mauern. Und gleichzeitig beantwortete ich noch hundert Fragen der mich umarmenden Blondine. Auch mir selbst bleibt nur Staunen, ein großartiges, berauschendes Gefühl! Ich kann mich nicht genug wundern, dass ich elementar, liederlich, verantwortungslos lebte, ständig die elementarsten Konventionen, Versprechungen, Gelübde und Schwüre brach, instabil, ungesund und ziemlich trist und dennoch ein halbes Jahrhundert erreichte und hustend in die herbstliche Dunkelheit spreche: Oh, vor einem Vierteljahrhundert! Beinahe eine Ewigkeit ist es her! In einem gewissen Sinne ist das ungerecht. Wie viele, die mehr wert sind als ich, hat es erwischt: auf Straßen, bei diversen Katastrophen, Kriegen, in Wüsten und Bergen! Die um einiges jünger waren und es nicht schafften sich auszusingen, eheliche oder uneheliche Kinder zu hinterlassen. Kamen um, erhängten sich, ertranken, verschwanden spurlos, um die Unabhängigkeit nicht mehr zu erleben, drei Hektar sandiger Erde Kompensation und zugleich ein Dokument, dass der Vater oder Großvater wirklich nicht zusammen mit den Deutschen an einer Strafexpedition teilgenommen hatte oder später, mit einer russischen MP behängt, einen Tross der Roten sicherte oder ein Wahllokal. Denke ich über mein Roman-Personal nach, das sich vorzeitig davonmachte in eine bessere Welt, überkommt mich ein heiliger Schrecken. Indes, das Wissen, dass alles folgerichtig ist und unwiderrufbar, zwingt einen, ruhiger zu atmen, rhythmischer. Und die Versuche, ein weiteres Mal seine Feinde zu lieben, scheinen sogar Früchte zu tragen.

 

Schlimm, wie schnell so ein Herbsttag vorüber ist. Du stehst auf, in mieser Stimmung, weil es regnet, weil selbst der im Hof kläffende Hund einen Schnupfen hat, weil der Nachbar den Motor seines klapprigen Gefährts so lange laufen lässt, dass sich die Lufttemperatur des ganzen Viertels um ein Grad erwärmt. Dann erledigst du das eine oder andere, erklärst irgendjemandem, nicht schuld zu sein an den Gräueln auf dem Balkan, der ungerechten Vergabe des Nobelpreises an Scharlatane und Pasquillenschreiber, schlägst dich (zumindest in Gedanken) mit der neuen Werteskala herum, der ungleichen Verteilung von Lebensmitteln, in der Gesellschaft wie im eigenen Organismus, erklärst, dass nicht du die Mehrwertsteuer erfunden hast. Und da ist noch das Problem des Transports von radioaktiven Abfällen an sichere Orte. Am Ende siehst du: Draußen ist es bereits stockdunkel, die Sterne noch nicht angeknipst, und während du noch vorm Einschlafen einen weiteren sinnlos verbrachten Tag verfluchst, da rasselt schon wieder das Telefon. Eine kaum zu identifizierende Stimme erkundigt sich munter: Du, sag mal, willst du uns nicht helfen, Reklame zu machen für unsere Möbel? Ich ruf aus Briansk an, hier ist unser Stab. Also, ich stell mir das so vor: Ein alter Pobeda, die Möbel und du auf der Titelseite, na? – Bratsk, Briansk, Brest, Breslau, Bratislava, Brno, Bilbao, alles ein und dieselbe Teufelei! Dabei weiß der Hundesohn doch, dass in diesen Breiten hier, nach dem Abendgebet, alle Schäflein schlafen. Briansk! Was hab ich in diesem Briansk verloren? Die Zeile eines russischen Barden kommt mir in den Sinn: A moj tovarišč seryj brianskij volk![4] Und am Telefon, wie sich bald herausstellt, nicht irgendwer, sondern Giunteris Bernšteinas, Regisseur und zugleich furchtloser Erforscher des östlichen Marktes, sonst ein angenehmer und gesprächiger Mensch. Das ist kein Tag mehr, das wird auch keine Nacht! Schon weckt mich ein weiterer Anruf: Du schläfst? Entschuldigung … Und diese Stute erklärt auch noch anderen die Benimmregeln. Was noch: Empfehlungen für den Pulitzerpreis und die Kudirka-Prämie. Dann Wohlfahrtshilfe, für kurzzeitig aus dem Gefängnis entlassene Laienkünstler. Maler etwa? Die verlangen nichts weiter als Amareto (so nennt sich jetzt das zu Sowjetzeiten populäre Parfüm »Trojnoj«)! Ein Elend weit und breit. Hätte das vor einem Vierteljahrhundert passieren können oder noch früher, in den Hochzeiten des Aufbaus des Kommunismus? Wie immer man es sehen mag, die Grube für diesen Bau war so tief ausgehoben, dass auch heute noch der eine oder andere hineinfällt und dann aus voller Kehle um Hilfe ruft. Fast alle waren an diesen Schachtarbeiten beteiligt, und jetzt sind wir gezwungen, wieder von vorne anzufangen, beim Nullzyklus. Wir, Osteuropas Waisenkinder, bedroht vom Osten, beschämt und mitleidig belehrt vom Westen, zuweilen ein gönnerhaftes Schulterklopfen von den Nachbarn, ermahnt von Tierschutzvereinen und Menschenrechtsorganisationen. Wäre so etwas um 1968 möglich gewesen? Nie und nimmer! Die Todesstrafe wurde ohne großes Federlesen vollstreckt, Andersdenkende stritten sich kaum untereinander, und die Heizperiode in den Irrenhäusern begann stets rechtzeitig … Nostalgie der verlorenen Zeit, wie sie dem Homo sapiens eigen ist? Immer diese Schlaflosigkeit! Selbst den Dienern religiöser Kulte kam zugute, dass dem lieben Gott öffentlich der Daumen gezeigt wurde oder den Philosophiedozenten … Aber jetzt reicht’s, vielleicht schlaf ich doch noch ein. Alle wird man nicht erwähnen können, schade. Für mich ist dieses Vierteljahrhundert der Ausgangspunkt, um Bilanz zu ziehen, ich könnte nicht mal überzeugend erklären, warum. Sicher misst jeder sein Viertel auf seine Art: wie eine Mütze, wie ein paar Sandalen oder wie einen Sarg. Nur: Die Toten, die zu meinem Personal gehören, dachten überhaupt nicht an irgendwelche Viertel- oder Halbjahrhunderte. Sie rannten herum wie irre, trieben Sport, nicht des Geldes, sondern der Gesundheit wegen, kämpften mit den Tücken des Alltags, klapperten mit den Wimpern, lächelten ironisch über die von den Fesseln des Imperialismus befreite Welt, liebten und stritten, verfassten ausgefeilte Beschwerdebriefe, verbreiteten gegnerische Propaganda und vieles mehr. Ohne jede Absicht, sich davonzumachen aus dieser unbelehrbaren Welt, sponnen sie Pläne, schwärmten davon, Paris zu besuchen, um dann, meist gegen ihren Willen und auf verschiedenste Weise, den Geist aufzugeben. Auf verschiedenste Weise? Mag sein. Wie man’s nimmt. In der Tat, zieht man die klinischen Parameter und klassischen Todesursachen in Betracht, dann starb selten einer eines natürlichen Todes. Aber in den heutigen Nullzyklus passen sie dennoch irgendwie, meine lieben Hinterbliebenen. Ohnehin werde ich diese Nacht nicht mehr zum Schlafen kommen. Auch Totensonntag ist nicht mehr weit. Immer diese Gräber und Gräber. Erde, schwarz und weich, beinahe wie Samt. Weich wie ein Katzenschwanz und blutleer. Wie hat er sich ausgedrückt, dieser schnurrbärtige Schizophrene Salvadore? Ja – Blut ist süßer als Honig. Auf den Friedhöfen findet sich kein Blut. Nur eine Menge pflichteifriger Besucher am Abend vor Allerheiligen. Demonstrierter Schmerz, obwohl vielleicht … Der Nullzyklus trotzt seit jeher allen Prachtbauten. Und eben deshalb ist er notwendig.

Der kleine Povilas war mein Freund in der Grundschule und die erste Leiche, die ich zu sehen bekam. Ich war nur neugierig. Als sie ihn aus dem Nemunas zogen und aufbahrten, wurde an seinem Haus in der Vilniusser Straße eine blassrote Fahne mit weißem Kreuz gehisst. Sie beerdigten ihn mit einem Priester, obwohl beide Eltern Lehrer waren und manch einer davon abriet, diese Fahne aufzuziehen. Ohne Erfolg. Wir wurden damals noch kahl geschoren, und Povilas Kopf war übersät mit weißen Striemen, dort, wo er, herumtollend und sich prügelnd, angeeckt war. Dennoch flüsterte mir damals ein erwachsener Mann zu: Unser Povilas ist schon im Himmel! Kinder gelangen viel leichter dorthin. Wie gern wäre ich auf der Stelle gestorben! Die blassrote Fahne, der Teppich im Lastwagen, der nach Harz duftende Sarg und ganz nah das Himmelreich! Povilas war ein guter Schüler gewesen, Erstgeborener von Dorflehrern. Der Vater untersetzt, dunkelhaarig, die Haut runzelig, verbraucht irgendwie. Die Mama hingegen schlank und hochgewachsen, mit langem, dünnem Hals. Povilas ertrank im Nemunas, er lief einem Fußball nach und sackte ein. Ein Jahr später verunglückte sein kleiner Bruder in der Dorfschule, an seinen Namen erinnere ich mich nicht mehr. Er war als Hase verkleidet gewesen. Offenbar war dort eine Petroleumlampe umgekippt, andere sagen, ein kleines Fass sei in Flammen aufgegangen, entzündet von einem bengalischen Feuer. Das Häschen wälzte sich noch einige Tage vor Schmerz in einem Krankenhaus, dann erstarrten die Lippen, auch dieses Kind starb. Vilkus war der Nachname des Lehrers, Vilkuvienė der seiner Frau. Es gab noch einen dritten Sohn, über den ich nichts weiß. Vielleicht ist er in der Armee ums Leben gekommen oder im Suff mit seinem Traktor umgekippt. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Šarlis Tamulis, Student der Philologie und Kellner, erhängte sich in der Neubauwohnung seiner Schwiegermutter, in der Toilette, mit einem Soldatengürtel. Er hasste den Sozialismus, aber nicht deswegen hat er sich erhängt. Ihn quälten Komplexe, außerdem war er nicht sehr glücklich verheiratet. Zog ein bei seinen Schwiegereltern, und sofort war er dort unglücklich. Wahnsinnig sensibel, poetisch, misstrauisch und unglücklich, eine Art Heliotrop in unserem widrigen Klima. Doch wie viele davon gibt es, die leben, und nichts passiert. Alles tat er ohne Grund, ohne Grund heiratete er, studierte er, kellnerte er. Hätte ein guter Waldarbeiter werden können oder vielleicht sogar Musikant, der bei Hochzeiten aufspielt. Doch nein! Es gab damals so eine dumme Mode, in Ämtern und staatlichen Einrichtungen den Tag der Sowjetarmee und der Rotbannerflotte zu feiern. Alberne Ansprachen, Zoten, Besäufnisse. Šarlis kannte ich: Wir beide beendeten zusammen die Schule und waren beinahe Freunde. Eine seltsame Verbitterung ging von ihm aus, selbst dann, wenn er sich amüsierte. Aber wer achtet in der Jugend auf solche Lappalien! Nachdem besagter Tag in seinem Restaurant gefeiert worden war, wankte Šarlis nach Hause und suchte dort vergebens seine bleichgesichtige Ehehälfte. Er zog sich aus, setzte sich aufs Bett, rauchte eine nach der anderen. Šarlis’ Frau, eine Russin, wurde in einem Erdbunker geboren, er selbst jedoch in einem normalen Kreißsaal. Und dennoch war er allzu empfindlich, nahm sich alles zu Herzen. Als seine Varja sich schließlich einfand, fragte Šarlis: Na, Varja? Wo bist du gewesen? Das geht dich einen feuchten Kehricht an, murmelte Varija. Lass mich jetzt schlafen. Dann geh ich jetzt und häng mich auf, erklärte mein Freund Šarlis Tamulis, basta! Das möge er ruhig tun, murmelte Varja und war schon eingeschlummert. Und Šarlis ging und erhängte sich. Offenbar war er ein Mensch mit Prinzipien, so erzogen. Ein gegebenes Wort musste man halten! Am anderen Morgen begab sich Varja zur Toilette und stieß dort auf Šarlis’ Beine. Die schob sie auseinander, legte sie sich auf die Schultern und hockte sich auf die Kloschüssel, so eine widerlich braunrote von eisenhaltigem Wasser. Während ihr Šarlis gleichsam im Genick saß. So schien es jedenfalls. Nur, dass sie nichts merkte. Als die arme Varja plötzlich zu sich kam und begriffen hatte, was hier passiert war, weckte sie mit ihrem Schrei das ganze Haus. Als sie Šarlis Tamulis beerdigten, platzten die vom Frost befallenen Zäune. Nur die Friedhofsmauer hielt stand, sie war erst unlängst fertig gestellt worden. Während der Sarg mit Erde bedeckt wurde, deklamierte ich ein selbst gefertigtes Gedicht. Aus meinem Mund dampfte die Kälte, ich lebte noch. Wollte überhaupt nicht mehr sterben und irgendwohin geraten. Schnee um mich herum, tief, trocken, vom Wind getrieben. Die Totengräber nehmen jetzt dreißig Rubel für eine Grube, erzählte mir einer. Damals war das verdammt viel Geld. Später wurde ein Stein, auf dem Šarlis beim Angeln gern gesessen hatte, auf sein Grab gerollt. Wir holten ihn direkt aus dem Fluss und schleppten ihn dorthin. Immer noch taucht Šarlis plötzlich auf, noch heute streite ich mich mit ihm. Nur dass er beinahe nie widerspricht und schweigt, allenfalls nachsichtig lächelt.

Bibas, der eigentlich Juozas hieß, lag am Ufer des Nemunas im Gras und spannte seine Bauchmuskeln an, so lange, bis dort richtige Beulen hervorsprangen, dann lud er uns ein, auf seiner Bauchdecke herumzuspringen. Kräftig war er, untersetzt, mit pockennarbigem Gesicht und Igelschnitt. Als er herangewachsen war, spielte er hinter der Stadt Fußball, denn er rannte auch wie ein Windhund. Aber dann warfen sie Bibas aus der Mannschaft. Alkohol, Schlägereien, was sonst! Auch seine Arbeitsstelle verlor er, wo er sich, um die Wahrheit zu sagen, gar nicht hatte blicken lassen und nur sein Gehalt als Fußballer entgegennahm. Die Folge war, dass er noch wütender trank. Er war stark, er konnte das tun. Noch Jahre hätte er es ausgehalten. Meistens trank er im Wald, nahe einem kleinen See, offenbar, weil ein Getränkeladen ganz in der Nähe war. Irgendjemand kaufte dort für ihn ein, und er lag unter einem Haselnussstrauch und ließ sich voll laufen. War er müde geworden, drehte er sich zur Seite und schlief. Einmal nickte Bibas ein, während er auf dem Rücken lag, und zumindest diesmal sprang niemand auf seinem Bauch herum. Auf einmal wurde ihm schlecht, er übergab sich und erstickte am Erbrochenen. Kein schöner Tod, sagt man. Aber ist der irgendwann schön gewesen? Das sind Märchen. Was reden die Leute nicht alles. Und schade. Sie hätten Bibas doch wieder in die Mannschaft genommen. Er hätte noch spielen und spielen können, trinken und trinken. Gibt es doch Leute, die auf dem Rücken schlafen. Liegen da, schnarchen, und nichts passiert. Man kann auch auf die Seite gedreht liegen. Wird es einem schlecht, kann nichts Ernstes passieren. Na, allenfalls kotzt man sich das Hemd voll und den Frack, große Sache! Unangenehm natürlich, aber eine Lappalie, ich sagte es bereits.

 

Auch in der Poesie verbirgt sich der Tod, leider. Sogar mehr als im Leben. Diejenigen, die Gedichte verfassen, nehmen Dinge ernst, wahnsinnig ernst, während gewöhnliche Menschen nur abwinken oder sich mit dem Finger an die Stirn tippen. Mika schrieb schlechte Verse, das aber mit Herz und Seele. Sie arbeitete bei einer Zeitung irgendwo in der Setzerei und verliebte sich in den Leiter der Literatur-Abteilung, einen gut aussehenden, begabten Windhund. Der mimte gern den Engländer, band sich jeden Tag einen neuen Schlips um und rauchte Filterzigaretten, obwohl er ein Taugenichts war. Er selbst schrieb bombastische Betrachtungen und dürftige Rezensionen, aber all das ist nicht wichtig. Mika verliebte sich also und schrieb Verse, Tag und Nacht. Die jungen Mädchen verliebten sich eines nach dem anderen in diesen Abteilungsleiter, auch wenn jedes von ihnen wusste, dass morgen schon wieder die Nächste an der Reihe war. Banal, wie er war, machte er daraus auch gar keinen Hehl. Einmal begleitete er Mika aus einem Café, lud sie dann zu sich ein, was keine Schwierigkeiten machte. Er war der zweite Mann in Mikas Leben und schon der letzte. Mika, ein Mädchen, wie Mädchen eben sind, nur diese Verse! Vierundzwanzig war sie wohl. Liebte den Halunken, selbst noch nach dieser schrecklichen Nacht. Schrieb Briefe, widmete ihm Dreizeiler. Nun begann er, ihr offen aus dem Weg zu gehen. Und Mika schrieb ihm einen weiteren Brief, bestellte ihn zu einem Treffen auf jene Pontonbrücke, die damals noch nicht eingestürzt war und ein Dutzend Menschen mit sich gerissen hatte. Am soundsovielten Juni, fünf Uhr nachmittags. Es war bereits Badesaison, aber Mika konnte nicht schwimmen, vor Wasser hatte sie panische Angst. Und schrieb trotzdem: Kommst du nicht, dann ertränke ich mich! Der Engländer wäre vielleicht gekommen, aber diesmal war er wirklich beschäftigt. Einquartiert im Hotel Neringa, bumste er energisch die Korrespondentin der Komsomolskaja Pravda, zuständig für das Baltikum und das Kaliningrader Gebiet. Eine mollige, nicht mehr ganz junge Braunhaarige. Das war schon was anderes als die dürre Mika. Hier winkte außerdem, was seine Artikel betraf, eine Verbindung nach Moskau, seinerzeit war ihm das wichtig. Wichtiger selbst als Mikas Leben. Mika wartete die siebzehn Minuten, nahm dann ihre lange, schmale Nase zwischen die Finger und schritt über den Rand der Pontonbrücke, wie man von einem Bürgersteig auf die Straße tritt. Einige Frauen sahen es, benachrichtigten sogar irgendjemanden, was nützte es noch?

Aber am schwersten zu sterben war es damals für jene Alkoholiker, die eine gute Arbeit hatten und ein anständiges Gehalt, dazu eine Familie und die alles schätzten: das Gehalt, die Familie und die hochprozentigen Getränke. Zu diesen gehörte auch mein Studienkollege Venislovas Vaivada. Anfangs studierte er litauische Philologie, später Arbeitsökonomie, schließlich landete er in der Universitätsabteilung, welche die Wissenschaftler zu kontrollieren und zu beaufsichtigen hatte. Allein von Venislovas hingen deren Dienstreisen ab, die Termine für die Verteidigung ihrer Dissertationen und hundert andere Dinge, über die man seinerzeit nicht gern laut sprach. Mit einem Wort, hier ging es um Karrieren, akademische und auch sonstige. Und diese Wissenschaftler verhätschelten und verwöhnten den einflussreichen Mann. Ob er wollte oder nicht, man schenkte ihm Kognak ein oder erlesene Liköre, und diejenigen, die nicht tranken, führten ebenfalls entsprechende Präsente mit sich. Pralinen, das ist wahr, nahm Vaivada nicht an. Jeder erfahrene Trinker weiß natürlich, dass es heilsamer wäre, jedes Mal einen Klaren zu sich zu nehmen, nicht diese teuren Surrogate. Aber das ließen Vaivadas’ gesellschaftliche Stellung und sein Prestige nicht mehr zu. Kognak schien dagegen ein wahres Zeichen der Verehrung zu sein. Venislovas war ein umgänglicher Mann mit guter Figur, nicht ohne Humor. Gern zitierte er Römer und Griechen. Hatte sich selbst in der Schriftstellerei versucht, es dann aber aufgegeben – Pflichten! Geld besaß er reichlich, konnte also, ohne auf den Pfennig sehen zu müssen, Freunde und Bekannte bewirten. Zwei Dinge schätze er, sagte er mir einmal, seine Arbeit und die Familie. Über den Kognak schwieg er. Er verfettete, das Herz begann zu flattern, und eines schönen Tages, es wurde gerade wieder einmal die geglückte Verteidigung einer Dissertation begossen, blieb die Lebensuhr stehen. Alle bedauerten Vaivadas’ Hinscheiden, weinten und schluchzten. Niemandem hatte er etwas Böses getan. Hatte auch nie darum gebeten, dass man ihm Kognak brachte. Und sich nie überheblich gezeigt gegenüber den ehemaligen Kollegen. Die Reden an seinem Grab waren aufrichtig und geradezu erhaben.

Chicago, ein selten begabter Grafiker, hatte am Ufer der Vilnelė ein Schläfchen gehalten, blinzelte in die Sonne, gähnte, bog dann mit weit ausholenden Schritten in die Straße in Richtung Paplaujai, der Vorstadt. Und im nächsten Augenblick geriet er unter die Räder eines mächtigen Kippers. Wie kräftig Chicago auch war, der Kipper überwand ihn ohne Mühe. Chicago hatte Grafik studiert, aber im Herzen war er Bildhauer. Träumte davon, zwei Denkmäler zu entwerfen: eins für die Aufständischen, ein anderes für die Flieger aller Zeiten. Die litauischen, versteht sich. Aber er kam nie dazu, weil die Zeit fehlte, trank immer. Ich weiß nicht mal, wie er zu seinem Spitznamen kam: Chicago. Wo er doch offenbar einer vom Dorf war, aus Salakas oder Antazavė, und unbehauen wie eine Granitplatte.

Als ich mich einmal im Säufergefängnis erholen durfte und mich alles grenzenlos anödete, begab ich mich ins Musikantenzimmer, fand dort Henrikas V. und bat ihn, sein Saxophon aus dem Futteral zu ziehen. Dann bettelte ich weiter, er möge für mich allein spielen, und zwar meine Lieblingsmelodie, den Criminal Tango. Zu der Einrichtung, in der wir uns befanden, passte der besonders. Und er, wenn auch nicht immer willig, häufig erst nach dem Versprechen, ihm Čeifyras zu kochen, einen narkotisierenden Teesud, griff zu seinem Instrument und legte los. Manchmal klang es ziemlich trist. Ein andermal wieder geriet er dermaßen in Fahrt, dass die Praporščiks und selbst die Wachhabenden herbeieilten, um ihn zu besänftigen. Kennt ihr diese Melodie? Sentimental, aber mit einer Beimischung von Blut. Als sie Henrikas entlassen hatten, erinnerte er sich daran, dass er professioneller Musiker war und begann umgehend sich nach Arbeit umzusehen. Nur wollte ihn niemand nehmen. Ach, so hieß es, du kommst von dort, keine angenehme Sache. Wirst wieder anfangen zu saufen. Nein, danke, nimm es nicht übel. Danach hing Henrikas am Flaschenhals wie ein Kalb an den Zitzen einer Kuh. Seine Frau musste sogar in der Nacht für Nachschub sorgen, sie verstand, dass es ihm nicht gut ging. Aber auch sie, die an einem Büfett arbeitete, geriet in irgendeine Sache hinein und wurde für kurze Zeit von der Gesellschaft isoliert. Henrikas blieb allein mit seiner Stieftochter und hing noch heftiger an der Flasche. Eines Nachts begann er so fürchterlich zu röcheln, dass die im Nebenzimmer schlafende Stieftochter erschrocken hochfuhr und schon einen Krankenwagen rufen wollte. Aber das Bedürfnis nach Schlaf war stärker, und sie dachte, dass es ja nicht das erste Mal sei. Der röchelt, dann schläft er ein, und morgen wird er wieder um Bier betteln. Henrikas schlief wirklich ein, nur diesmal für alle Ewigkeit. Und man hätte doch nur hingehen müssen, ihm das Kopfkissen ausschütteln, Wasser bringen, ein wenig Baldrian, vielleicht sogar zum Getränkepunkt laufen. Sicher hätte er sich erholt. Gegen Morgen frühstückte die Stieftochter, dann schlich sie sich aus dem Haus, um nach Klaipė da zu fahren. Bis man die Büfettbesitzerin entließ, vergingen drei weitere lange Tage. So lag Henrikas, mutterseelenallein. Kein Criminal Tango. Das eine Auge war geschlossen, das andere, von einem Bluterguss getrübt, blickte aufmerksam, neugierig und war groß wie ein Astloch.