Mörderisches Taucha

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Mörderisches Taucha
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Jürgen Rüstau

Jürgen Ullrich

Mörderisches Taucha

Kriminalgeschichten

und absonderliche Fälle

erzählt von

Johann Gottfried Meißner,

Nachtwächter

im mittelalterlichen Taucha

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei den Autoren

Titelbild: Anke Rüstau

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

I. Der erste Tag des Nichtstuns

II. Mit Jürgen Schulze durch Taucha

III. Schnüffelnase Georg

IV. Johann Christoph Meißner – Nachtwächter der Stadt Taucha

V. Der Teufel hat den Schnaps gemacht

VI. Georg und Agatha

VII. Ein Bad bringet nicht immer Freud

VIII. Bader Gasse Nr.1

IX. Die Pfingstmörderin

X. Marktgedanken

XI. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan

XII. Sepp und Rosel

XIII. Der Bär ist los, der Bär ist los

XIV. Menschen mitten in der Stadt

XV. Der Casanova von Dewitz

XVI. Auf der Eilenburger

XVII. Mordgelüste im Gasthof „Stadt Eilenburg“ - Tod hinterm Tresen

XVIII. In der Neustadt

XIX. Der Marzipanbäcker

XX. Die Kirchturmuhr schlägt zehn - Zu Gast im kleinen Café

I. Der erste Tag des Nichtstuns


Das Seidemann-Haus in Taucha

Agatha schlug ihre Augen ganz langsam auf. Der Abschiedsabend mit ihren Kolleginnen hatte sie körperlich völlig geschafft. Die Herbstsonne drang durch ein kleines Löchlein im Vorhang und blinzelte ihr zu. Agatha blinzelte zurück, um kurz darauf ihre Augen noch einmal zu schließen und den letzten Abend Revue passieren zu lassen. Es war ihr letzter Arbeitstag gewesen, in einem zweiundvierzigjährigen Arbeitsleben als Krankenschwester in einem Krankenhaus an der Stadtgrenze von Leipzig. Sie hatte es geschafft, hatte den verhassten Dreischichtdienst die ganzen Jahre, zuletzt auf der Krebsstation ihres Krankenhauses, überstanden. Agatha konnte es noch gar nicht fassen, gestern war sie sechzig Jahre alt geworden und lag jetzt zum ersten Mal ganz entspannt in ihrem Bett. Sie wurde das erste Mal seit vielen Jahren nicht von ihrem Wecker aufgeschreckt, welcher ihr ständig die Melodie der Arbeit spielte – nein sie wurde von einem kleinen frechen Sonnenstrahl aus den Schlaf genommen, ein Sonnenstrahl der ihr sagen wollte, Agatha steh auf, ab heute bist du Seniorin und hast unendlich viel Zeit für dich ganz allein. Einen angetrauten Mann hatte sie schon längst nicht mehr. Der aufopferungsvolle Dreischichtdienst im Krankenhaus hatte ihren letzten Weggefährten schon vor sehr langer Zeit aus dem Haus getrieben und sie hatte es nicht einmal so richtig gemerkt.

Jeden Tag in das Krankenhaus, und in ihrer ohnehin schon knapp bemessenen Freizeit war sie auch noch ehrenamtlich als Telefonseelsorgerin in ihrem Verein tätig. Es war für Agatha ein Bedürfnis, für andere Menschen da zu sein, ihnen zu helfen, sich im Alltagsdickicht zu Recht zu finden. Nur ihrer eigenen Liebe konnte sie zu keinem Erfolg verhelfen. Nein, sie hatte es nicht einmal richtig wahrgenommen, dass Klaus eines schönen Tages für sie gar keine Zeit mehr und irgendwann eine andere Partnerin gefunden hatte. Sie nahm es erst wahr, als Klaus aus ihrem gemeinsamen Zuhause ausgezogen war. Da war es auch schon zu spät für Gespräche und Rechtfertigungen.

So blieb nur noch Peter, der kleine schwarze Kater.

Peter schmiegte sich dann immer, wenn sie irgendwann einmal nach Hause kam, fest an sie und genau in solchen Situationen vermisste Agatha ihren immer nörgelnden Klaus überhaupt nicht. Sie genoss dann überschwänglich die Zeit mit ihrem Kater Peter.

„Peterle, ach Peterle, du bist doch der beste Mann in meinem Haus“, pflegte sie dann immer zu sagen und Peterle schnurrte vor Vergnügen.

Agatha streckte sich jetzt in ihrem Bett, ließ ihre Gelenke knacken und streckte dann ganz vorsichtig ihren linken Fuß aus dem Bett, kreiste mit ihren Zehen durch den üppigen Bettvorleger, ehe sie dann, genauso vorsichtig mit ihrem rechten Bein den Boden berührte. Ihre knorrigen, weißen Füße stellten eindrucksvoll einen Kontrast auf dem roten Bettvorleger dar. Sie schüttelte kurz den Kopf, stellte fest, dass in ihm nichts klapperte und klopfte. Der Wein am gestrigen Abend hatte also keine Folgeschäden hinterlassen. Diese Erkenntnis zauberte ein Lächeln in Agathas Gesicht und mit einem Ruck beförderte sie sich in die Senkrechte. Auch das gelang ihr ganz gut. Sie stand auf ihren beiden Beinen und momentan so richtig im Leben. In diesen Moment stand sie aber noch mitten in ihrem Schlafzimmer in altersgerechter Unterwäsche und einem ihr viel zu großen T-Shirt. Ja, ja, die Zeit der Strings ist nun endgültig vorbei. Wenigstens, stellte Agatha fest, ausgezogen hatte sie sich und das auch noch selbst. Bei den Gedanken kicherte sie laut vor sich hin und ebenso laut sagte sie: „Ist ja auch gar keiner da, welcher das für mich hätte übernehmen können. Eigentlich schade.“ Aber das sollte sich in ihrem neuen Leben auch, wie noch viele andere Dinge, ändern. Vor dem Spiegel ihren Körper betrachtend, dachte sie sich: „Warum eigentlich keine Strings mehr? Die kann ich mir schließlich noch leisten.“ Diesen Vergleich brauchte sie nicht zu scheuen, und sie dachte an ihre etwas füllige, gleichaltrige Nachbarin Petra und kicherte in sich rein.

Barfuß kraxelte Agatha zum Fenster, zog entschlossen die Vorhänge auf und die Oktobersonne wallte in voller Kraft in ihr Schlafzimmer und überzog ihr genügsames Heim mit einem strahlenden, güldenen Schein. Dies alles kam für sie mit so einer Wucht, dass sie erst einmal einen Schritt zurück wich. Als sie zum Kirchturm der Tauchaer St. Moritz Kirche hinaufblickte, blinzelte sie noch ein wenig mehr als zuvor im Bett. Sie ließ den Blick aus ihrem Fenster schweifen, sah ein wunderschönes altes Eckhaus in einem nicht so tollen baulichen Zustand, welches bestimmt viel zu erzählen hatte. Ihre Nachbarin Petra hatte ihr vor ein paar Tagen etwas darüber erzählt:

„Dieses Haus war Anfang 1900 im Auftrag des Ziegeleibesitzers Albin Seidemann in sehr kurzer Zeit errichtet. Im Volksmund wurde es Seidemann-Haus genannt. Von 1900 bis 1913 hatte er es an die Stadtverwaltung Taucha als Rathaus vermietet. Später wurde es dann zum Wohnhaus umgebaut“.

„Also, im Prinzip wohne ich gegenüber vom Rathaus und das hatte früher doch am Markt gestanden“, dachte sich Agatha. Sie blickte nach rechts und bemerkte sofort den Stilbruch. In einer Art rotem Container bot ein Händler Döner und andere ihr nicht so vertraute Speisen an und zerstörte mit dieser „Immobilie“, den Blick auf die sehr alte Tauchaer Kirche. Dieses Teil passte einfach nicht dorthin, aber außer ihr störte sich wahrscheinlich kein anderer an diesem Blick. „Furchtbar und doch so real“, dachte sie.

Das kleine Parthestädtchen strahlte an diesen Morgen eine Ruhe aus, die sie selten so genossen hatte. Sie musste nie wieder in ihr Krankenhaus. Vor allem konnte sie sich auch nicht vorstellen, noch weitere fünf Jahre dort zu arbeiten. Sie hatte jetzt unendlich viel Zeit. Agatha war fest entschlossen ihr Leben zu ändern. Was wusste sie schon von Taucha? Hier hatte sie eh nur geschlafen, hin und wieder ein wenig fern gesehen, um sich dann auch schon wieder auf den Weg zur Arbeit zu machen. Arbeiten, arbeiten, immer wieder arbeiten war zu ihrem Lebenselixier geworden, hatte sie ständig und immer wieder angetrieben, unfähig sich zu erinnern, dass es noch andere Dinge in ihrem Leben geben könnte. Ab jetzt war sie nun „Seniorin“, und genau das wollte sie auch mit ganzen Herzen sein.

 

Es war Samstag früh, es war Oktober, sie war Sechzig und das Abenteuer Leben sollte für Agatha genau an diesem Tag beginnen. Sie hatte in der Zeitung gelesen, am Abend würde in Taucha ein Nachtwächterrundgang stattfinden, eine Kriminaltour durch ihre Heimatstadt.

Nachtwächtertour

15.Oktober

Treff: 18 Uhr

Sparkasse Taucha

Dauer: ca. 3,5 Stunden

„Tauchas absonderliche Kriminalfälle“

„Sie meinten bisher, in Taucha passiert nichts? Irrtum! Der Nachtwächter führt Sie auf dieser spannenden Tour zu ehemaligen Tatorten, an denen in den letzten sechs Jahrhunderten Kriminalfälle passierten, die den Ermittlern so manches Rätsel aufgaben. Nehmen Sie mit Johann Christoph Meißner die Spuren der Vergangenheit wieder auf und staunen Sie über so manche abrupte Lösung ...“

Hier wollte sie nun alles nachholen, was durch Arbeit in den Hintergrund gerückt war. Agatha war wissbegierig und sie wollte auch staunen, genauso wie es in der Zeitung stand. Sie wollte die helle und die dunkle Vergangenheit ihrer doch so unbekannten Wohnstätte ergründen. Heute stand die Dunkle auf der Tagesordnung, und Agatha wusste in diesem Moment noch nicht, dass diese Tour ihr ganzes Leben verändern würde.

Noch gestern dachte sie: „Mörder, Diebe, Ehebrecher und das in Taucha, das gibt es doch gar nicht.“ Die Menschen waren nett, und wenn sie doch einmal Mittwoch auf den Markt ging, um frische Blumen für ihre kleine zauberhafte Wohnung zu kaufen, grüßten sie alle sehr freundlich, standen in kleinen Gruppen und tuschelten. „Nein, hier gibt es doch keine Mörder und Diebe, und Spießertum ist ja nun auch kein Verbrechen.“ Noch gehörte Agatha nicht so richtig zu ihnen. Obwohl sie schon viele Jahre in Taucha wohnte, angekommen war sie hier noch nicht. Sie sah sich allerdings schon mitten unter diesen Menschen. Sie wollte dazugehören, sich an den Gesprächen beteiligen und viel über diesen Ort erfahren, einen Ort, welcher sie immer mehr in seinen Bann zog. Im Buchladen, welcher hinter den Arkaden unterhalb ihrer Wohnung zu finden war, konnte Agatha einige Büchlein über Taucha erwerben und wurde in ihnen fündig. Sie konnte ihr Wissen über dieses bezaubernde Städtchen an der Parthe erweitern.

So zum Beispiel, dass Taucha erstmals im Jahre 974 urkundlich erwähnt wurde, dass in den Jahren 1349 und 1680 viele Menschen durch die Pest starben und auch dass mehrere Großbrände die Stadt zerstörten. Das Städtchen Taucha lag auf einer Höhe von 128 Meter über dem Meeresspiegel, hatte mit seinen neun Ortsteilen etwas über 14500 Einwohner zum jetzigen Zeitpunkt. Am 22. Januar 1851 wurde in der Schloßstraße 2 in der Wohnung des Herrn Breitenborn das erste „Expeditionslocal der Sparcasse der Stadt Taucha“ eröffnet.

Da war es wieder, das was sie schon seit Tagen beschäftigte – Sparkasse Taucha, hier war heute Abend der Startpunkt für den Nachtwächterrundgang, auf welchen sie sich schon wie ein kleines Kind freute. Heute ist die Sparkasse in der Leipziger Straße untergebracht und genau dorthin machte Agatha sich nun auf den Weg.

II. Mit Jürgen Schulze durch Taucha


Jürgen Schulze alias Nachtwächter Johann Christoph Meißner

Das Wetter war sehr angenehm, das Thermometer zeigte an diesem frühen Oktoberabend immerhin noch beachtliche zwanzig Grad. Jürgen Schulze war von zu Hause aus gelaufen, immer durch den jetzt farbenprächtigen Stadtpark. Schwerfüßig stapfte er durch das herbstliche Laub auf den Parkwegen. Unter seinem großkrempigen Hut und dem langen Umhang schwitzte er gehörig. Darunter hatte er sich eine dicke Strickjacke und einen Pullover angezogen. Hätte er doch nur auf seine Frau gehört. Sie hatte ihn darauf hingewiesen, dass es noch ein warmer Abend sei und er in dem Aufzug doch fürchterlich schwitzen würde. Jürgen Schulze hatte dies ignoriert und gedacht: „Lass sie nur reden, ich muss ja schließlich an den Hintern frieren.“ Er würde das gegenüber Gaby aber nie zugeben, dass sie recht gehabt hatte. Ein Übriges hatte der Rotwein am gestrigen Abend getan, welchen er mit einem Freund in einem kleinen Café in Taucha getrunken hatte. Es sollte eigentlich nur ein Schoppen von diesem wunderbaren trockenen Bardolino werden, es wurden aber einige von diesem edlen Gesöff und es wurde sehr spät. Leicht besäuselt hatte er sich dann gestern auf den gleichen Weg, in die andere Richtung, gemacht, den er auch jetzt benutzte. So stapfte er schwitzend durch den Park, mit Nachtwächterlaterne und Horn, laut vor sich hin schimpfend. Sein Weg führte am Schöppenteich vorbei, an einer lärmenden Gruppe von Jugendlichen, welche ihn ganz ungläubig wie einen Außerirdischen anstarrten. „Zurück in die Zukunft“, dachte Jürgen. Er war eben ein Relikt aus der Vergangenheit, und diese Rolle spielte er gern und gut. Jürgen Schulze war der Nachtwächter Johann Christoph Meißner. Er bog ein auf den Weg, der zur Leipziger Straße führte, und konnte die Sparkasse schon sehen. Jürgen Schulze, ein groß gewachsener, übergewichtiger Endfünfziger, kam schwitzend und prustend an der Sparkasse in Taucha an.

Das Gebäude war 1930 auf Geheiß des damaligen Bürgermeisters Karl Hermann Jubisch als Stadtsparkasse im Bauhausstil errichtet worden.

Bei dem Anblick der Sparkasse musste Schulze immer wieder ein wenig grinsen. Dieses Grinsen brachte umgehend seine Atmung wieder in normale Kanäle und er erinnerte sich, dass vor nicht allzu langer Zeit ein Bericht durch die örtliche Presse ging, welcher die Sparkasse als den Ort eines Verbrechens bekannt machte.

Ein unbekannter und bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht ermittelter Täter hatte zu Geschäftsbeginn mit einer Bohrmaschine den hinteren ungesicherten Personaleingang geöffnet. Durch diesen war er in die Sparkasse eingedrungen und hatte auf die Angestellten gewartet, um ihnen dann nach und nach die Handys abzunehmen. Die Bohrmaschine unter dem Kittel des Täters hielten alle für eine Waffe und machten bereitwillig, was dieser forderte. Er entkam mit einer beträchtlichen Summe in seinen roten Schuhen. Bestimmt war es nur eine Frage der Zeit, dass der Polizei auch dieser Täter ins Netz ging oder es blieb für immer eine Frage.

Schulzes Freund Georg Tandler, der ermittelnde Hauptkommissar, würde heute ohnehin an der Krimitour teilnehmen. „Vielleicht kann er mir ja etwas Neueres dazu berichten, natürlich nur wenn er darf.“ Beide hatten schon in ihrer Phantasie ganz komplizierte Kriminalfälle gelöst. Heute wollten sie sich mit einigen Krimifreunden auf eine Tour durch das düstere Taucha machen.

Schulze musterte die potentiellen Tourteilnehmer, welche sich in kleinen Gruppen formiert vor der Sparkasse eingefunden hatten. Sein Blick ging von einer Person zur anderen. Er stellte fest, dass noch nicht alle eingetroffen waren und konnte sich mit der Betrachtung Zeit lassen. Die hatte er ja auch noch, denn es war noch mehr als eine halbe Stunde bis zum Beginn des Rundgangs. Zeit, die er für seine körperliche Regeneration brauchte. So ließ er sich kurz entschlossen auf der Treppe zur Sparkasse nieder, nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche und setzte ungeniert seine Betrachtung fort.

Zwei Meter von seinem Platz entfernt stand eine Frau, welche er bisher noch nie auf einen Rundgang gesehen hatte, eine Frau, so schätzte Schulze, wie er im „Mittelalter“. Sie war von schlanker Gestalt, hatte festes Schuhwerk an, ein unauffälliges aber doch schönes Kleid und sie hatte einen Hut auf, so wie er. „Festes Schuhwerk ist in Ordnung“, dachte er sich, „mit der kann man ja was anfangen. Natürlich rein tourmäßig.“ Unter ihrem breiten Hut kam ein noch breiteres Lächeln zum Vorschein. Kontakte pflegte er zu Frauen, ausgenommen zu seiner eigenen Frau, überhaupt nicht. Nicht das Schulze das nicht wollte, nein er hatte gar keine Zeit dafür. Zeit war für ihn überhaupt das Kostbarste in seinem Leben und die wollte er nicht mit Nebensächlichkeiten verbringen.

Gaby, sein Eheweib hatte dafür unendlich viel Verständnis und jeder lebte sein eigenes kleines Leben. Jürgen Schulze verbrachte den Tag bis in den späten Nachmittag hinein im Büro, um nach der Arbeitszeit in den verschiedensten Vereinen seine Kraft einzubringen. Er hatte an allem Interesse, was in dieser Stadt geschah. Den Abend und die halbe Nacht verbrachte er dann am Computer, über vielen Büchern, über Tagebüchern von Pfarrern aus dem Kirchenumkreis von Taucha und las in alten Zeitungen. So setzte er aus vielen kleinen Mosaiksteinen seine Geschichten zusammen, welche er dann zu Rundgängen wie diesem an den Mann oder auch an die Frau brachte. Unwillkürlich suchten seine Augen wieder den Blickkontakt zu der Unbekannten und wieder lächelte sie ihn an. Der Bann war gebrochen.

Agatha blickte immer wieder zum Nachtwächter Johann Christoph Meißner hin, betrachtete seinen Umhang, seinen Hut und die anderen Nachtwächterutensilien. Als er vor einigen Minuten hier ankam, stand er unter Volldampf mit hochrotem Kopf. Jetzt wirkte er gar gelassen und zog genüsslich an seiner Zigarette und ließ dabei die Asche auf seine Schuhe fallen. Mit ihm sollte also ihr erster Tag in ihrem neuen Leben beginnen. Das Abenteuer Leben nahm seinen Lauf. Meißner erhebt sich mit einem Schwung, dem man ihm gar nicht zutraut. Ein Mann wie ein Fels.

Agatha ging auf Jürgen Schulze zu, streckte ihm ihre Hand entgegen und flüsterte verschwörerisch: „Agatha ist mein Name, Agatha Leistner, ich müsste auf ihrer Liste stehen.“ Und noch leiser und ein wenig geheimnisvoll fügte sie hinzu: „Unser Abenteuer kann beginnen.“

Jetzt war auch noch der letzte, aber einer der wichtigsten Tourteilnehmer eingetroffen, Hauptkommissar Georg Tandler. Sein großes Wissen aus der Szene wollte er heute bei diesem Stadtrundgang der besonderen Art einbringen. „Grüß dich Georg“, rief der Nachtwächter freudig seinen Freund zu, was dieser ebenso freundlich erwiderte. „Hast du heute deine Hellebarde mit, dass wir uns wenigstens vor den ganzen dunklen Gestalten verteidigen können“, lachte Georg und klatschte vor Freude in die Hände. Alle lachten mit, ohne zu wissen, welchen furchtbaren Gestalten aus mehreren hundert Jahren sie heute begegnen würden. Zur allgemeinen Überraschung bekamen die Teilnehmer der Tour vom Veranstalter Wasser und trocken Brot gereicht. „Auf das Anketten können wir heute bestimmt verzichten, sie wollen doch nicht abhauen“, sagte er lachend. Nein das wollten sie alle wirklich nicht, sie wollten die Tour bis zum bitteren Ende durchstehen!

III. Schnüffelnase Georg

Hauptkommissar Georg Tandler hatte sich auch schon längere Zeit auf diesen Nachtwächterrundgang gefreut. Schließlich war dieses Projekt ja vor allem sein Kind, er hatte diese Idee mit Jürgen aus der Taufe gehoben und wollte sie auch mit ihm und den anderen an diesem Abend erleben. Er hatte die vergangene und die kommende Woche Urlaub. Einen Urlaub, den er auch nötig brauchte. Es würde der letzte sein, denn seine Pensionierung stand unmittelbar bevor. Georg hatte seinen letzten großen Fall gelöst, ein Fall, der ihm ganz schön an die Nieren ging. Bei aller Abgestumpftheit seines langen Berufslebens, ein Fall bei dem es um ein Tötungsdelikt an einem Kind ging, das wühlte seine Seele immer wieder auf. Gott sei Dank, der Fall war gelöst, der Täter weggesperrt und nun auch noch verurteilt. Abgeschlossen, aber dennoch klaffte eine Wunde in seiner Seele offen, wenn auch unsichtbar. Wie immer wurde dem Täter die größte Aufmerksamkeit gewidmet. Sein Verteidiger ließ nichts aus, um aus schwieriger Kindheit und verpfuschten Leben großes Kapital für seinen Mandanten heraus zu holen. Für das Opfer und seine Angehörigen blieben wenige Worte übrig. Das wusste er, und das war immer wieder so und immer wieder kotzte das Georg an. Umso mehr hatte er sich auf den heutigen Tag gefreut. Die Fälle, um die es hier ging, lagen weit zurück, und er kannte diese Menschen, bis auf einige wenige Fälle aus der jüngeren Vergangenheit, nicht. Er hatte mit Jürgen für den heutigen Abend eine Strategie entwickelt, eine Strategie, welche die neugierigen Menschen in den Bann des Verbrechens ziehen sollte. Die ganz alten Fälle aus dem Mittelalter und der Zeit um die Völkerschlacht, und die aus dem letzten und vorletzten Jahrhundert sollte der Nachtwächter erzählen, und Georg wollte über ein paar Fälle aus den Achtzigern berichten.

 

In einer Stunde würde über Taucha der Schleier der Nacht gezogen sein und alles Freundliche würde dahinter verborgen bleiben. Unwillkürlich fiel Georg das Gedicht „Menschen bei Nacht“, von Rainer Maria Rilke ein, und er trug es der erstaunten Menge gleich vor.

Die Nächte sind nicht für die Menge gemacht.

Von deinem Nachbar trennt dich die Nacht

und du sollst ihn nicht suchen trotzdem.

Und machst du nachts deine Stube licht

um Menschen zu schauen ins Angesicht,

so musst du bedenken: wem.

Damit hatte er auf jeden Fall ein Stimmungsbild erzeugt, denn die Menge rückte gleich etwas enger zusammen und dies hatte den Vorteil, dass Beide nicht mehr so laut reden mussten. Ja, Georg war ein Feingeist. Er las gern, besonders Gedichte von Rilke. Spät erst hatte er sich damit beschäftigen können, denn Rilke war in der DDR, in der er aufwuchs nicht so unbedingt gewollt. Ansonsten stand er zu seiner Vergangenheit, denn Kriminalist war er schon seit seiner Jugend. Politisch hatte er sich damals wie heute nicht betätigt, was ihn auch von Beförderungen verschonte. Mit seinen knapp sechzig Jahren war er deshalb auch nur beim Hauptkommissar angekommen. „Mehr geht nicht“, dachte er und war zufrieden mit sich und der Welt. Er träumte vor sich hin. Der Tross überquerte die Leipziger Straße in Richtung Park, als es plötzlich hupte. Georg Tandler erschrak, denn er hatte den Funkstreifenwagen gar nicht kommen hören. Hämisch rief ein junger Kollege aus den Wageninneren: „Na Georg, bist du wieder als Schülerlotse tätig?“ Georg winkte ab und lachte. Inzwischen war es in Taucha dunkel geworden und etwas gespenstisch lag der Park vor ihnen. Die Gruppe war auf der Parthenbrücke stehen geblieben und Georg schaute runter zum Fluss.

Die Parthe ist ein kleiner Fluss in Sachsen, der im Glastener Forst zwischen Colditz und Bad Lausick entspringt und nach 56,7 Kilometern Flusslauf in Leipzig in die Weiße Elster mündet.

Dieses Faktenwissen beherrschte er noch, denn er wurde in seiner beruflichen Laufbahn doch schon einige Male zu Tatorten an diesen Fluss gerufen. Er war froh, dass das Verbrechen, welches ihn im letzten Jahr im Atem hielt, nicht in der Parthe endete. Man hatte den kleinen geschundenen und missbrauchten Mädchenkörper in einem Seitenarm der Mulde gefunden. Der Fall wurde vor allem dank Georgs aufopferungsvoller Arbeit schnell gelöst. Derartige Täter hatten keine Chance, unerkannt zu bleiben. Heute und im Moment war er nur Zuhörer, und er lauschte den Worten seines Freundes Jürgen Schulze, alias Nachtwächter Johann Christoph Meißner.

Agatha war bisher zurückhaltend der Gruppe gefolgt. Sie hatte Wasser und Brot, neben einer Taschenlampe, in der mitgebrachten Umhängetasche verstaut. „Das war eben eine gute Idee, die mit Brot und Wasser“, dachte sie sich. „Man fühlt sich doch damit gleich in die Kriminalgeschichte rein versetzt.“ Sie machte sich also mit den anderen dreißig „Gefangenen“, auf den Weg und genoss die prickelnde Stimmung, welche schon seit Beginn die Tour beherrschte. Agatha hing Jürgen Schulze förmlich an den Lippen. Sie schob ihren schmalen Körper in die erste Reihe, denn der abendliche Autolärm verschlang unwiederbringliche Wortfetzen. Auch Agatha schaute, wie vorher schon Georg Tandler, von der Brücke hinab zur Parthe. In Richtung Schöppenteich bildeten sich schon einige kleine Nebelschwaden über dem ruhig dahin plätschernden Fluss. Agathas Blick schweifte zu dem Platz auf dem früher das Café Sitz stand. „Tolle Wortkombination“, dachte Agatha, „das Café Sitz stand … hihi.“

Jürgen Schulze nahm den lächelnden Blick von Agatha wahr und erklärte ihr mit wenigen Worten den historischen Zusammenhang.

Im Jahre 1929 wurde mit dem Bau und der Gestaltung des Großen Schöppenteichs begonnen. In unmittelbarer Nähe wurde auch gleich eine schöne Gaststätte errichtet. Das Gelände gegenüber der Sparkasse wurde im gleichen Jahr an den Pächter Albert Sitz verpachtet. Danach gab es viele Wechsel in der Bewirtschaftung bis das im Volksmund genannte „Café Sitz“, in den neunziger Jahren abgerissen wurde.“

Hier gleich rechts neben der Parthe war sie als junges Mädchen des Öfteren in eben diesem Café Sitz zum wochenendlichen Tanz aus Leipzig mit der Straßenbahn angereist und wurde dann weit nach Mitternacht per Fuß nach Hause gebracht. Das Städtchen hatte sie schon damals gemocht, nicht ahnend, dass sie hier einmal zu Hause sein würde.

Im Moment hielt sie aber die Parthenbrücke in ihrem Bann. Der Gedanke, dass hier auf der Brücke vor vielen Jahren ein Verbrechen sein Ende fand, ließ Agatha leicht frösteln.

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