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Adornos Überlegungen zu Theorie und Praxis tragen, wie all seine Reflexionen, sowohl dem gegenwärtigen Stand von Theorie und Praxis Rechnung wie auch der theoretischen Antizipation einer ungeschmälerten Praxis, solange ihre reale Möglichkeit verstellt ist. Die Situation einer Verstellung der Praxis, die aufgeschoben und nicht warten kann, berührt freilich auch die Theorie.32

„Die ungeminderte Dauer von Leiden, Angst und Drohung“, so Adorno in seinem Vortrag Wozu noch Philosophie, „nötigt den Gedanken, der sich nicht verwirklichen durfte, dazu, nicht sich wegzuwerfen. Nach dem versäumten Augenblick hätte er ohne Beschwichtigung zu erkennen, warum die Welt, die jetzt, hier das Paradies sein könnte, morgen zur Hölle werden kann. Solche Erkenntnis wäre ja wohl Philosophie. Sie abzuschaffen um einer Praxis willen, die zu dieser historischen Stunde unweigerlich eben den Zustand verewigte, dessen Kritik Sache der Philosophie ist, wäre anachronistisch. Praxis, welche die Herstellung einer vernünftigen und mündigen Menschheit bezweckt, verharrt im Bann des Unheils ohne eine das Ganze in seiner Unwahrheit denkende Theorie.“33

Die Bildung einer vernünftigen und mündigen Menschheit ist nicht unterhalb des Niveaus des fortgeschrittensten Standes der Erkenntnis möglich. Diese Einsicht impliziert für Adorno eine kritischweiterzuführende Rezeption Marxscher Theoreme, nicht zuletzt desjenigen der Aufhebung der Philosophie durch ihre Verwirklichung, das zwar, nachdem es einmal versäumt war, nur als Idee, dennoch aber notwendig ist, um – als theoretisches Korrektiv – die Praxis vor der blinden Affirmation des Bestehenden im Gewande der Kritik zu retten. Diese Aufhebung ist jedoch noch einmal an die gesellschaftlichen Verhältnisse zurückgebunden: an die Entwicklung der Produktivkräfte als reale ökonomische Bedingung der Menschen, sich aus den Fesseln entfremdeter Arbeit zu befreien.34

Dabei scheut Adorno sich nicht, seine Versöhnungshoffnung, die auch das Verhältnis von Theorie und Praxis betrifft, metaphysischtheologisch zu verorten, da sie nur dann radikal wird, wenn sie den Schuldzusammenhang35 bricht, der auf der Menschheit lastet, wenn sie „das Gleich um Gleich der Gewalt“, den „Rückfall in die Barbarei“36, der in Auschwitz und Hiroshima stattgefunden hat, überwindet. Der Verzicht auf das Gleich um Gleich der Gewalt ist die Realantizipation der Versöhnung, nicht schon diese selbst. Versöhnung bleibt, gegen alle praktischen Versuche, bestehendes Unrecht zu wenden, gebunden an die Möglichkeit, vergangenes Leiden zu widerrufen37, ohne dabei die realen Bedürfnisse der Menschen zu übergehen. Darin konvergiert Adornos materialistische Dialektik mit der Theologie, dass ihre Sehnsucht die Auferstehung des Fleisches wäre; „dem Idealismus, dem Reich des absoluten Geistes, ist sie ganz fremd. Fluchtpunkt des historischen Materialismus wäre seine eigene Aufhebung, die Befreiung des Geistes vom Primat der materiellen Bedürfnisse im Stand ihrer Erfüllung. Erst dem gestillten leibhaften Drang versöhnte sich der Geist und würde, was er so lange nur verheißt, wie er im Bann der materiellen Bedingungen die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse verweigert.“38

Wichtig ist, dass mit dem Gedanken an Versöhnung und der praktischen Antizipation dieser Versöhnung ein Maßstab angegeben ist, von dem aus bestehende Praxis kritisierbar ist. Adornos Maßstab der Praxis orientiert sich an einem Maximum: „einem Handeln, worin selbstbestimmte Vernunft, vernünftige Selbstbestimmung sich äußert. Das erst wäre wahrhafte, d.h. dem menschlichen Vernunftvermögen angemessene, menschenwürdige Praxis. Von ihr ist die gesellschaftliche Wirklichkeit weit entfernt. Daher heißt Praxis auch die Herstellung von Bedingungen, unter denen besagtes Maximum von Praxis möglich wäre.“39

Noch die kritischste Attitüde, sofern sie nicht die Tendenzen einer total verwalteten Welt begrifflich erfasst, erliegt dieser, indem alle Spontaneität abgewürgt und in Pseudo-Aktivität kanalisiert wird.40 Eine kritische Sichtung des Praxisanspruchs in der bestehenden Gesellschaft ist daher auf die Analytik der gesellschaftlichen Grundpfeiler angewiesen.

Konsequent kritisiert Adorno die bestehende Praxis als falsche, die letztlich auch nicht Praxis ist. „Falsche Praxis ist keine.“41 Praxis im emphatischen Sinne wäre sie erst in der gegenseitigen Vermittlung von Subjekt und Objekt; die herrschende sieht von dieser ab, ohne darüber sich Rechenschaft abzulegen, dass sie immer schon ein bestimmtes Verhältnis von Subjekt und Objekt voraussetzt, nämlich die Beherrschung des Objekts durch das Subjekt. Praxis hätte auch für das Subjekt, insofern selbst Objekt, seiner Bedürftigkeit zu folgen, die, da sie durch das gesellschaftliche Gesamtsystem vermittelt ist, selbst noch theoretisch zu bestimmen wäre. „Praxis ohne Theorie, unterhalb des fortgeschrittensten Standes von Erkenntnis, muß mißlingen“42. Von der falschen Praxis ist daher auch die Theorie betroffen43, doch der Aufweis der Falschheit bestehender Praxis ist in dem Verfahren immanenter Kritik theoretisch möglich, ohne darin eine Ontologisierung der Falschheit von Praxis vorzunehmen. „Wir können ja nicht sagen“, bemerkt Adorno in einer Diskussion mit Horkheimer, „das Ganze ist das Wahre, wir können nur sagen, das Ganze, das es nicht gibt, ist das Wahre. Münchhausensituation.“44 Theorie bestimmt Praxis als defizient, indem sie darauf hinweist, dass sie im strengen Sinne noch aussteht. Solange dies der Fall ist, ist Aufgabe der Theorie aufzuzeigen, was emphatische Praxis systematisch verhindert.

Ist Theorie Statthalterin von Praxis in der Situation ihrer Verstelltheit, so ist sie doch gleichwohl immer auf Praxis verwiesen, kann ohne diese gar nicht gedacht werden. Die Paradoxie der Theorie ist daher, dass sie ohne ihren Reflexionsbezugspunkt selbstwidersprüchlich wird, selbst dann, wenn emphatische Praxis fehlt.

Welche Praxis aber meint die Theologie, wenn sie vom Primat der Praxis spricht? Aus den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass die klassische Position, die Theologie beziehe sich auf kirchliche Praxis, nicht zureichend ist. Sie ist, das wurde eingangs schon deutlich, Theorie einer umfassenden Praxis, die auf kirchliches Handeln bezogen ist, auf den Selbstvollzug der Kirche, auf das Handeln von Christinnen und Christen in kirchlichen wie nichtkirchlichen Kontexten, auf die dezidiert religiöse Praxis, aber auch auf das Handeln von Menschen, die auf unthematische und unreflexe Weise ‚christlich‘ agieren, auf die Praxis von Menschen in komplexen gesellschaftlichen Konstellationen, mithin also auch auf gesellschaftlich relevantes Handeln unabhängig von der Frage, ob es die bestehende Gesellschaft affirmiert oder kritisiert, auf das Handeln im Horizont der eigenen Endlichkeit wie der der Endlichkeit des/der Anderen, das gerade dadurch aber diesen Horizont sprengen kann, indem es Verhältnisse anvisiert, in denen die Endlichkeit in eine größere Gerechtigkeit hinein aufgehoben wird. Es ist schließlich auch Reflexion auf die Bedingungen, in denen und durch die das Handeln von Menschen beschädigt, gar verunmöglicht wird, und zugleich auf ein Handeln, das diese Bedingungen verändern möchte. Werden die Referenzpunkte so weit gefasst, dann kann Theologie, ja dann muss sie gar als Theorie des Handelns verstanden werden. Sie „kann sich nicht bloß auf ein Segment oder eine Region menschlicher Praxis beziehen, sondern muss die bedrängenden Fragen menschlicher Praxis überhaupt im Blick haben“45.

Schon in der Enzyklika „Mater et magistra“ von 1961 benannte Johannes XXIII. drei wichtige Stichworte, die zuvor schon in der Christlichen Arbeiterjugend unter der Prägung des späteren Kardinals Joseph Cardijn eine wichtige Rolle spielten: Die methodische Arbeitsweise kirchlichen Handelns vollziehe sich in einem Dreischritt: „Zunächst muß man den wahren Sachverhalt überhaupt richtig sehen; dann muß man diesen Sachverhalt anhand dieser Grundsätze gewissenhaft bewerten; schließlich muß man feststellen, was man tun kann und muß, um die überlieferten Formen nach Ort und Zeit anzuwenden. Diese drei Schritte lassen sich in den drei Worten ausdrücken: sehen, urteilen, handeln.“ (Mater et magistra, 236) Vertieft wird dies in Gaudium et spes, wenn dort die Deutung der Zeichen der Zeit im Lichte des Evangeliums als zentrale Aufgabe der Kirche in der Welt von heute angegeben wird (vgl. GS 4). Die dort vorgenommene Spezifizierung ist dabei besonders wichtig, denn es wird deutlich formuliert, dass dies zu jeder Zeit geschehen müsse, womit implizit ein in der Theologie immer wieder aufzufindendes Verständnis von der Zeitlosigkeit der Wahrheit zurückgewiesen wird. Nicht Wahrheit ist in der Geschichte, so ließe sich mit Adorno betonen, sondern Geschichte in der Wahrheit.46 Auch der christliche Wahrheitsanspruch hat sich in unterschiedlichen Situationen auf unterschiedliche Weise zu aktualisieren. „Was ‚immer‘ wahr ist“, so formuliert Bonhoeffer, „ist gerade ‚heute‘ nicht wahr“47.

Die Bezüge auf Mater et magistra und Gaudium et spes und die damit inhärierte Zeitdiagnostik im Lichte des Evangeliums ist für die Methodik der Theologie wie auch der Kirche höchst relevant, denn sie sind in sich dynamisch, weil sowohl die Wahrnehmungen in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich sind, aber auch die Urteilsstrukturen immer wieder neu zu explizieren sind, ohne dass dabei die grundlegenden Parameter christlicher Urteilskraft gleichsam dem Zeitgeist untergeordnet würden. Es kommt entscheidend darauf an, das kirchliche Handeln immer wieder als adäquate Reaktion auf die jeweilige Situation entfaltet werden muss.

Auf jeden Fall ist die theologische Reflexion immer auf Praxis angewiesen. Das alte, wenn auch immer noch anzutreffende Verständnis der Verhältnisbestimmung von Theologie und Praxis ist damit verabschiedet. Wahrheit ist nämlich „nicht im vorhinein durch Theorie erfunden und im nachhinein durch die Praxis“48 zu bestätigen. Theologie steht unter dem Primat der Praxis. Das anzuerkennen fällt der Theologie nicht leicht, wohl am leichtesten noch der Praktischen Theologie. So wurde insbesondere in der Praktischen Theologie der Versuch unternommen, Wirklichkeitsermittlungen in den Diskurs der Theologie einzuführen.

 

Für den praktisch-theologischen Diskurs im Allgemeinen, für den pastoraltheologischen im Speziellen hat sich das Regelkreismodell von Rolf Zerfaß49 als besonders geeignet erwiesen, die Theologie auf die Wirlichkeit hin zu verpflichten. Es stellt sich folgendermaßen dar:

Bei jedem praktisch-theologischen Handeln ist die Situation der Beteiligten (beteiligte Subjekte, SeelsorgerInnen, LehrerInnen etc.) Ausgangspunkt der Planung (1). Diese Situation wird unter Zuordnung zu einer für diese Situation relevanten praktisch-theologischen Disziplin analysiert (4, 6) und in Interdependenz (2, 3, 5) elementar theologisch reflektiert. Mit Hilfe dieser Schnittmenge (7, 8) ist eine praktisch-theologische Theorie für eine ebensolche Problemstellung (9) zu erstellen, die ein Handlungsmodell (10) für die Praxis 1 innerhalb der gewählten Problemstellung anbietet. Aufgrund der Anwendung dieses Modells wird die Praxis 1 zu Praxis 2 (11) verändert, die dann wiederum als Ausgangspunkt einer weiteren Regelkreisverwendung zur Praxis 1 wird.


Ein stärker noch empirisch ansetzender Versuch wie der von Johannes A. van der Ven, der eine explizite Vermittlung von Theologie und Empirie vorsieht, treibt diesen Ansatz noch weiter, indem er fordert, die Theologie müsse insgesamt empirisch werden in Analogie zur Rezeption historischer und philosophischer Methoden in Exegese und systematischer Theologie. Unter dem Stichwort der Intradisziplinarität entfaltet er sein Programm, das er selbst folgendermaßen kennzeichnet:

„Das Modell der Intradisziplinarität beinhaltet, daß die Theologie selbst empirisch werden muß, das heißt, daß sie ihr traditionelles Instrumentarium, bestehend aus literarhistorischen und systematischen Methoden und Techniken, in die Richtung einer empirischen Methodologie erweitern muß. Man kann diese Erweiterung mit dem Begriff Intradisziplinarität umschreiben, da er sich im allgemein-wissenschaftstheoretischen Sinn auf die Übernahme von Konzepten, Methoden und Techniken der einen Wissenschaft durch eine andere und auf die integrierende Aufnahme dieser Elemente in diese andere Wissenschaft bezieht. Solche intradisziplinären Prozesse kommen in allen Wissenschaftsgebieten vor: in den Naturwissenschaften, den Sprach-, Geschichts- und Sozialwissenschaften, den philosophischen und theologischen Wissenschaften. Intradisziplinarität fördert die Innovation in diesen Wissenschaften. (…) Gerade die Geschichte der Theologie ist ein Beispiel par excellence von intradisziplinärer Übernahme, Aufnahme und Integration. Um einige willkürliche, aber markante Beispiele zu nennen: Die Moraltheologie von Thomas ist ohne die aristotelische Ethik undenkbar, die Tübinger Schule der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts ohne den philosophischen Idealismus unmöglich, die theologische Systematik Tillichs ohne die Tiefenpsychologie und die Existenzphilosophie unbegreifbar, die Fundamentaltheologie von Rahner ohne Hegel nicht nachvollziehbar und die politische Theologie von Metz ohne die Frankfurter Schule nicht verstehbar.“50

Urs Eigenmann entwickelt ein Konzept, das inhaltlich der hier vorgelegten Arbeit sehr vertraut ist, weil es ähnliche theoretische Bezugspunkte und von einer verwandten theologischen Option geprägt ist und das in der schematischen Darstellung folgendermaßen aussieht51 :


Eine weitere konzeptionell verwandte Arbeitsweise findet sich in dem Grundlagenwerk von Clodovis Boff zu Theologie und Praxis.52 Boff unterscheidet darin drei Vermittlungsebenen: die sozialanalytische, die hermeneutische und die praktische Vermittlung. In der sozialanalytischen Vermittlung stellt sich die zentrale Frage nach den Ursachen, Mechanismen und dem Verständnis des gesellschaftlichen Phänomens der Unterdrückung. Im zweiten Schritt einer hermeneutischen Vermittlung stellt sich die Frage nach Gehalten der jüdischchristlichen Tradition angesichts solcher Unterdrückungserfahrungen und vor allem auch nach deren Überwindungsstrategien. Insbesondere biblische Perspektiven sind bei der Beurteilung der sozialanalytisch ermittelten Situation wichtig, ebenso aber auch sozialethische Kategorien. Im dritten Vermittlungsschritt zeigt sich die besondere Relevanz der Praxis, denn sie ist Ausgangspunkt wie auch Zielpunkt dieses Verfahrens. Dabei ist Praxis in dem Ansatz von Clodovis Boff keine neutrale Beschreibung von Handlungsansätzen, sondern präformiert durch inhaltliche Perspektiven von Gerechtigkeit, Solidarität und Liebe.


Der jüngste Vorschlag einer Variation des Schemas ‚sehen – urteilen – handeln‘ stammt von Herbert Haslinger.53 Es geht ihm dabei dezidiert um einen Reflexionsprozess der Pastoraltheologie und nicht um einen pastoraltheologisch fundierten methodischen Vorschlag für pastorales Handeln in welcher Form auch immer. Das unterscheidet seinen Ansatz grundlegend von den bisherigen und auch von dem im Anschluss noch darzulegenden hier präferierten.

Grundlegend sei, dass jede Reflexion der Pastoraltheologie mit irgendeiner lebensweltlich geprägten Form von Praxis beginne. Eine Theologie „vom Nullpunkt an“54 sei daher als Fiktion zu verabschieden. Diese Praxis aus der Lebenswelt sei allerdings noch eine vorreflexive Erlebnisform, die von den Menschen „mehr oder weniger diffus, routiniert, zumindest unproblematisiert“55 erfahren würden.

Erst ein wie auch immer gearteter Reflexionsbedarf mache nun eine pastoraltheologische Reflexion nötig; im strengeren Sinne sei sogar die Aufgabe der Pastoraltheologie, diesen Reflexionsbedarf überhaupt erst aufzuspüren und aufzuzeigen. Dabei sei es auch eine wichtige Aufgabe, gerade jene Bereiche zu erkunden, die in den lebensweltlichen Praxisformen gerade nicht thematisiert werden, weil sie verdrängt, vergessen, ausgeblendet oder verschwiegen werden. „Aus der diffus erlebten, unproblematisierten Lebenswirklichkeit wird eine bewusst wahrgenommene und in Blick auf mögliche Problemlagen hinterfragte Lebenswirklichkeit.“56

Im Anschluss an die Wahrnehmung der Lebenswelt wählt Haslinger im nächsten Schritt ganz bewusst eine andere Formulierung als im klassischen Dreischritt, weil ihm der Anspruch des Urteilens zu sehr den „anmaßenden Habitus einer Urteilsinstanz“57 vertrete, den die Theologie zu verabschieden habe. Auch hat er damit einen deutlichen in die zukünftige Praxis weisenden Akzent vor Augen. „Die hier angesiedelten Reflexionsgänge sollen dem neu zu konzipierenden Handeln ein Fundament in der Form verleihen, dass man sich der dafür geltenden Prinzipien, Werte, Normen, Rahmenbedingungen und Ziele vergewissert.“58

Die daran anschließende Orientierung möchte wiederum in Differenz zum klassischen Vorschlag eine verhaltenere Vorgehensweise in den Mittelpunkt stellen, indem sie aufgrund der vorigen Schritte Perspektiven angeben möchte, die zur Orientierung dienen können, aber keinesfalls unmittelbar praktische Dimensionen haben sollen.

Im letzten Schritt werden dann neue Situationen anvisiert. Nicht allerdings von der Pastoraltheologie, sondern von den Subjekten, die mit Hilfe der pastoraltheologischen Reflexion selbst neue Lebenswirklichkeiten schaffen möchten. „Der Reflexionsprozess findet demnach seinen Zielpunkt in einer Praxis der Menschen, die wieder in einer Lebenswirklichkeit eingebettet ist und dort ‚auch wenn in der neuen Situation weiterhin theologische und humanwissenschaftliche Inhalte als Deutungskategorien im Hintergrund virulent sind, ohne ständigen Reflexionsbedarf routiniert, unproblematisiert und somit alltagsweltlich stabilisierend stattfinden kann.“59

Wenn in der vorliegenden Arbeit dennoch einem anderen Ansatz gefolgt wird, dann nicht aus einer etwaigen Geringschätzung der empirischen Methode, erst recht nicht aufgrund einer angenommenen Suprematie der Theorie über die Wirklichkeit, sondern aufgrund der Verbundenheit mit dem in Mater et magistra angeregten methodischen Dreischritt, der allerdings noch zu verfeinern war. Denn das Schema „Sehen – Urteilen – Handeln“ ist auf jeden einzelnen Schritt selbst noch einmal anzuwenden und zugleich um eine weitere Aktivität anzureichern: Es reicht nämlich offenkundig nicht aus, die richtigen Wahrnehmungen und Urteilsstrukturen zu besitzen. Richtige Erkenntnis führt eben nicht zwangsläufig zu adäquater Praxis. Es bedarf also eines weiteren Schrittes, der hier mit ‚wollen‘ bezeichnet wird.60 Menschen sind offenkundig nur dann mit ihrem Handeln identisch, wenn sie auch wirklich wollen, was sie tun sollen. Wie aber gelingt diese Integration? Am ehesten durch die emotionale Verankerung einer Herausforderung im Subjekt. Schon Ernst Bloch ahnte, das hier eine tiefe Schwierigkeit besteht. Obgleich er von der Hoffnung als einem Prinzip ausging, schien es dennoch nötig, das Hoffen zu lernen. Er beginnt daher das Vorwort zum Prinzip Hoffnung mit gewichtigen Fragen und Problemlagen: „Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns? Viele fühlen sich nur als verwirrt. Der Boden wankt, sie wissen nicht warum und von was. Dieser ihr Zustand ist Angst, wird er bestimmter, so ist er Furcht. […] Es kommt wieder darauf an, das Hoffen zu lernen.“61 Hoffen und Wollen sind an dieser Stelle durchaus verwandte Motive, insofern sie zum Ausgangspunkt für neue Praxis werden, die die bestehende transzendiert.

In gewissem Widerspruch zum Sollensanspruch der Kantischen Philosophie betont daher die Erweiterung des methodischen Dreischritts die Rückbindung des Handelns an intrinsische Motivationen bei den handelnden Menschen. Sowohl Neurowissenschaften wie auch Forschungen zur Nachhaltigkeit in Bildungsprozessen zeigen sehr deutlich, wie sehr zur nachhaltigen Etablierung von Erkenntnissen und der Transformation in Praxis eine emotionale Dimension gehört. Nur wenn die Erkenntnis sich mit dem erkennenden Subjekt authentisch verschmilzt, wenn es das Erkannte auch in sein Handeln integrieren will, kann von einer authentischen Praxis des Subjekts gesprochen werden:

Sowohl auf der Basis tiefenpsychologischer Einsichten, aber auch aufgrund neuerer neurobiologischer Erkenntnisse deutet sich die Bedeutung einer emotionalen Anschlussperspektive für Lern- und Veränderungsprozesse von Menschen an. Neues, so informiert uns die Neurowissenschaft, kann nur gelernt werden, wenn es mit emotionaler Bedeutsamkeit verbunden62 und sich an die bisherigen kognitiven Strukturen sinnvoll anschließen lässt. Aber nicht einfach nur die emotionale Anbindung ist erforderlich, sondern auch eine Wiederholung der Inhalte, denn um eine tiefere Verankerung zu erreichen, ist im Gehirn die Bildung bestimmter Rezeptorentypen notwendig, die sich aber nur dann herstellen, wenn entsprechende Regionen im Hippocampus innerhalb kurzer Zeit mehrfach stimuliert werden. Dabei stellt sich unter der Perspektive der Nachhaltigkeit natürlich die Frage, wie es gelingt, Lern- und Veränderungserfahrungen so tief zu gestalten, dass sie bis in tiefere Schichten des Bewusstseins eindringen. Hier sind zwei Unterscheidungen wichtig. Denn das Unbewusste (a), in dem sich die tiefsten Erfahrungen einlagern und das im limbischen System und der Amygdala als dessen Zentrum eingetragen werden, entscheidet sehr schnell und sehr effektiv in der Bewertung der Vergangenheit und damit verbunden auch der Frage, ob das, was wir tun gut oder schlecht ist. Dieser Bereich des Gehirns ist also zwar sehr effektiv und schnell aber relativ unflexibel, was auch plausibel ist, weil das Unbewusste eben nicht einfach zu verändern ist. Bei neuartigen und komplexen Fragestellungen kommen statt des limbischen Systems Netzwerke der Großhirnrinde (b) zum Einsatz, die als Sitz des Bewusstseins, also des eigenen Ichs gelten. Im Gegensatz zu (a) arbeiten sie eher langsam und fehleranfällig, haben aber den Vorteil, dass sie komplexe Probleme auf neuartige Weise bearbeiten können, indem sie Informationen verknüpfen und neu konstellieren. Dieser Teil des Gehirns benötigt vergleichsweise viel Energie, weshalb der Körper versucht, diese Hirnleistungen zu minimieren. Für die Frage der Lernvertiefung eine physiologisch problematische Ausgangslage.

 

Bei der Wahrnehmung der Wirklichkeit, bei der Frage nach Urteilsstrukturen und im Bereich der Handlungsdimension gilt es folglich jedes Mal, diesem Dreischritt zu folgen und die Integration in das jeweilige Subjekt zu bedenken. Adorno weist schon auf die Verbindung von Erkenntnis und Wollen hin: „Ich meine, daß man überhaupt nicht einen richtigen Gedanken denken kann, wenn man nicht das Richtige will; das heißt, wenn nicht hinter diesem Gedanken, als die eigentliche ihn beseelende Kraft, das steht, daß es richtig sein soll, daß es mit den Menschen in einen Zustand kommen soll, in dem das sinnlose Leid aufhört und in dem, ich kann es immer nur negativ aussprechen, der Bann von den Menschen genommen sein wird.“63

In der befreiungstheologischen Tradition wurde immer wieder betont, das Schema sei auch noch um den Aspekt des Feierns zu erweitern. Das ist durchaus richtig, wird aber hier nicht weiter verfolgt, weil es sakramentenpastoral ja immer unmittelbar auch um den Aspekt der Feier geht, so dass dies hier eine Verdoppelung vorliegen würde. Für andere Bereiche kirchlichen Handelns wär das freilich noch zu ergänzen.

Alle Akteure, also pastoral Handelnde wie beteiligte Subjekte, müssen jeweils sehen, urteilen, wollen und handeln, so dass auch diesem Modell ein Vielperspektivenschema folgt, das folgendermaßen dargestellt werden könnte:


Das in der vorliegenden Arbeit leitende Schema von Sehen – Urteilen – Handeln, das wird im Verlauf der Arbeit an vielen Stellen, vor allem aber im 5. Kapitel deutlich, wird präzisiert durch die Gesellschaftsformationsanalyse (GFA). Entscheidendes Merkmal dabei ist die methodisch geleitete Wiederholung des Dreischritts auf unterschiedlichen Ebenen: Sowohl die pastoral Ermächtigten64 müssen ihren eigenen Standort gründlich analysieren, ihre Wahrnehmung präzisieren, die Situation erhellen und einer kritischen Beurteilung unterziehen, um dann Handlungsperspektiven zu entwickeln, wie dies aber auch die beteiligten Subjekte eines pastoralen Handelns tun müssen. Bei allen ist dabei die gründliche Wahrnehmung der gesellschaftlichen Praxisfelder Ökonomie, Politik und Ideologie/Kultur notwendig. Gleiches gilt es aber auch zu beachten, wenn Veränderungsprozesse anvisiert werden, sowohl auf der individuell-mikrostrukturellen, wie auch auf der gesellschaftlich-makrostrukturellen Ebene. Dieses methodische Vorgehen berücksichtigt dabei immer zentral die anamnetischen Tiefenstrukturen der christlichen Tradition selbst, die es zu vergegenwärtigen und auf Zukunft hin zu gestalten gilt. Bei all dem wird deutlich, dass Kirche immer im Spannungsfeld weltlicher Verantwortung sich befindet.

Der Vorzug eines solchen Vorgehens gegenüber der Arbeit mit der sicherlich stabileren Datenbasis einer explizit empirisch ansetzenden Theologie liegt vor allem in der leichteren Transformierbarkeit ihrer Ergebnisse in pastorale Prozesse selbst, denn nur wenige beteiligte Subjekte dürften über die notwendigen Kenntnisse zur Erhebung empirischer Daten verfügen- Schon die Interpretation empirischer Studien dürfte für viele Beteiligte eher schwierig sein, wohingegen die Analyse von Ökonomie, Politik und Ideologie einfacher, transparenter und vor allem eigenständiger vorzunehmen ist. Dieses Vorgehen sieht sich in großer Nähe zu den Überlegungen Helmut Peukerts, für den die grundlegende Frage darin besteht, „ob die praktische Theologie den Rahmen ihrer Überlegungen so ansetzt, daß sie die bedrängenden Probleme menschlicher Praxis insgesamt im Blick hat, also die Praxis, in der Menschen als einzelne oder gemeinsam versuchen, aus einer bedrängenden Not heraus ein humanes Überleben zu sichern und den Sinn ihrer Existenz zu bestimmen“65.

Wird das Selbstverständnis von praktischer Theologie und ihrer Teildisziplinen so gefasst, dann ist die Erwartung, es gebe ein univokes Verständnis von Pastoraltheologie, obsolet. Ebenso verfehlt aber wäre die Befürchtung, Pastoraltheologie löse sich in Beliebigkeit auf. Schließlich bleibt sie zentral verwiesen auf wenigstens zwei unhintergehbare Kontexte: zum einen den Kontext des realen Lebens der Menschen, vor allem natürlich der Armen und Bedrängten (GS 1), zum anderen aber auf den Kontext der biblischen und kirchlichen Traditionen, die wiederum jedem Versuch der Beliebigkeit einen kritischen Riegel vorschieben. Die großen Linien der Befreiung, der prophetischen Kritik, der apokalyptischen Hoffnung sowohl im Ersten wie auch im Zweiten Testament sind feste Anker im Strudel der postmodernen Pluralität.

Unter einer solchen Perspektive ist dann aber auch eine anwendungsorientierte Version der Pastoraltheologie zu verabschieden. „Das Leben der Menschen ist also nicht ein ‚Ort von angewandter Theologie‘, sondern eine ‚Quelle der Theologie‘.66 Weiter unten (vgl. 2.4) wird verstärkt über das Problem einer ortlos gewordenen Theologie zu behandeln. Hier wird schon deutlich, wie wichtig es für die Theologie insgesamt ist, die Orte als theologiegenerativ zu begreifen: insofern „diese Lebensorte gleichzeitig – bewusst und unbewusst, explizit und implizit – auch Orte der Gottesbegegnung und gelebter Gottesbeziehung sind, kommt die Reflexion auf ihre Themen und theo-logische Qualität. Eine solche Theologie fragt nicht ‚Wer ist Gott?‘, ohne nicht vorrangig die Gottes- bzw. Sinnfrage als topische Frage gestellt zu haben: ‚Wo ist Gott?‘ Eine im Verständnis von Martin Luther insgesamt als praktische Wissenschaft konzeptionierte Theologie stellt diese vorrangig topische Frage nach Gott.“67 Eine politisch-theologisch angelegte praktische Theologie verschärft die topische Frage nach Gott allenfalls noch apokalyptisch, indem der Topik die Utopik zur Seite gestellt wird in der Frage: ‚Wo bleibt Gott?‘ Dass dies aber kein Widerspruch zur Topologie als theologischer Wissensform darstellt, sollte im Verlauf der bisherigen Überlegungen schon deutlich geworden sein, wird aber sicherlich auch in der Entfaltung des Sakramentenverständnisses im Horizont des Reiches Gottes noch klarer.

Helmut Peukert entwickelte auf der Basis der Metz’schen Politischen Theologie seine für die praktische Theologie äußerst produktive theologische Handlungstheorie, indem er den Erinnerungsgedanken wissenschaftstheoretisch, handlungstheoretisch und fundamentaltheologisch durcharbeitete. Thesenartig stellt er dar, was für die Praktische Theologie zu lernen wäre, und das erscheint zugleich für die hier vorliegende Arbeit bedenkenswert:

„1. Zunächst müßte das Grundprinzip intersubjektiven Handelns aufgewiesen sein, daß nämlich die eigene Identität nur im Bezug zum anderen gefunden werden kann und daß die Bedingung des eigenen Selbstseins das freie Selbstsein des anderen ist.“68

Eine individualistische Isolation ist in diesem Sinne schon a priori ausgeschlossen. Wenn wir ich sagen, so könnte man diese These vereinfacht auch umschreiben, sagen wir nie nur ich. Intersubjektivität unter Ausschluss des anderen ist nicht nur ein logischer Widerspruch, sondern stärker noch hängt auch die Frage des eigenen Selbstseins konstitutiv an der freien Bezugnahme auf den anderen. Wir finden schon in dieser ersten These ein reziprokes Verhältnis von Ich und anderem: Das Ich kann nicht ohne den/die anderen, wie auch der/die andere immer verwiesen ist auf die freie Anerkennung durch das Ich.

„2. Es müßte verstanden sein, daß diese intersubjektive Existenz streng zeitlich ist: Die Fähigkeit, jetzt und hier zu existieren und sich einander zuzuwenden, entspringt der Fähigkeit, auf den Tod als Grenze unserer Existenz vorausgreifend zuzugehen und von daher auf die Augenblicklichkeit von Existenz hier und jetzt zurückzukommen. Existenz müßte also sowohl in ihrer zeitlichen Erstrecktheit wie in ihrer die Zeit in Endgültigkeit verwandelnden Entscheidungsstruktur erfaßt werden. Sofern diese zeitliche Existenz aber streng intersubjektiv ist, bedeutet das Zugehen auf den eigenen Tod im Umgang mit dem anderen auch das Zugehen auf den Tod des anderen, die Anerkennung der zeitlichen Existenz des anderen als Möglichkeit der Ekstasis in Endgültigkeit.“