Der Stoff, aus dem die Helden sind

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Nach dem Turnier lädt Präsident Jimmy Carter die Mannschaft nach Washington ein. Bis dahin hat keiner von ihnen eine Vorstellung davon, welche Bedeutung dieser Sieg für ihre Landsleute hat. Aber als sie im Bus auf der Fahrt vom Flughafen ins Weiße Haus erleben, wie die Menschen an den Straßen Spalier stehen und ihre Namen brüllen, sickert es allmählich ein.

„Ja“, sagt Buzz, damals einer der Leistungsträger und mit 25 der älteste im Kader. „Man hat uns immer wieder gesagt, was für ein positives Gefühl das für die Menschen war.“ Er macht eine Pause und fügt hinzu: „Aber wir haben das ebenfalls sehr genossen.“

Verständlich: Es ist ja zu allererst auch ihr ganz persönlicher Triumph. Zum Beispiel für David Christian, dessen Vater Bill und dessen Onkel Roger bei den Spielen 1960 in Squaw Valley ebenso überraschend die Goldmedaille gewonnen hatten und der 1980 seinen Teil zu einer erstaunlichen Eishockey-Dynastie beiträgt: insgesamt acht Assists verteilt über das gesamte Turnier von Lake Placid.

Ihr Trainer hatte den Erfolg von 1960 übrigens nur knapp verpasst. Er war als Stürmer Teil des Kaders. Bis er einen Tag vor dem Turnier als letzter aus dem Team gestrichen wurde. Erst bei Olympia in Innsbruck 1964 und in Grenoble 1968 kommt er zum Einsatz. In einem Dokumentarfilm des Fernsehsenders ESPN erinnert er sich später: „Als wir gewonnen hatten, schaute mein Vater rüber und sagte: ‚Sieht so aus, als hätte Coach Riley den richtigen Mann ausgewählt, oder?‘ Wahre Geschichte. Das hat mich genau zwischen den Augen getroffen.“ Die Medaille, die ihm so entgeht, sichert er sich 20 Jahre später auf eine andere Weise: in dem er die nächste Generation junger Spieler dazu bringt, ihr Bestes zu geben. Er ist genau der richtige Mann für diesen Job, den ihm der Eishockeyverband anvertraut.

Allerdings für den Rest des Landes bedeutet der Erfolg dann doch noch etwas mehr: Es ist „der großartigste Augenblick in der Geschichte des Sports des zwanzigsten Jahrhunderts“ – wie die amerikanische Zeitschrift Sports Illustrated ihn später nennt.

*

Ortstermin in St. Paul, der Hauptstadt von Minnesota, im Herbst 2019. William Conrad Schneider, Spitzname Buzz, ist zum Interview gekommen und hat nicht nur ein paar alte Trikots und die Goldmedaille von Lake Placid mitgebracht, sondern auch seinen Sohn Billy. Der Senior, inzwischen 65 und im Rentenalter, stammt aus der Gegend und wurde nach dem Ende seiner Laufbahn Immobilienmakler. Billy, mittlerweile Ende 30, arbeitet für eine Biervertriebsfirma und ist ebenfalls in Minnesota geblieben, dem eishockeyverrücktesten Bundesstaat in den Vereinigten Staaten.

Dass sie beide erschienen sind, hat einen Grund: Sie verbindet nämlich mehr als nur eine klassische Ereigniskette aus der Biologie. Der Junior wollte einst sportlich in die Fußstapfen seines Vaters treten und hatte „den Traum, für die amerikanische Olympia-Auswahl zu spielen und eine Goldmedaille zu gewinnen“.

Daraus wurde nichts, weil er irgendwann verletzungsbedingt die Karriere beenden musste. Dafür gelang ihm etwas, was nur wenige Söhne hinbekommen: Billy Schneider schlüpfte vor etwas mehr als 15 Jahren in das Trikot seines Vaters mit der Nummer 25 und spielte in einem teuren Hollywood-Film, der den Triumph noch einmal leinwandgerecht und schön melodramatisch nacherzählt, niemand anderen als ihn.

Es gab auch eine deutsche Fassung, Miracle – Das Wunder von Lake Placid, die mit einem Trailer in die Kinos kam, der vor keinem Superlativ zurückschreckte: „Wenn man Unmögliches wagt, können Wunder geschehen.“

„Das war großartig. Es war wild“, sagt Billy, der diese Rolle erst am Ende eines langwierigen Casting-Verfahrens zugesprochen bekam. „Ich hatte viel Text, war oft zu sehen. Mein Vater hat bei den Olympischen Spielen viele Tore geschossen. Also musste ich auch viele Tore schießen.“

Klassische Schauspieler kamen für die Rolle der Aktiven nicht in Frage. Um glaubwürdig rüber zu kommen, werden gute Eishockey-Spieler benötigt, wie Billy sagt, der den Regisseur überzeugen konnte. Und zwar ganz ohne Einfluss seines Vaters: „Ja, es gab sogar Hockey-Probetraining. Dreimal. Ganz so, als ob man sich für eine reguläre Mannschaft bewerben würde. Und dann haben sie die Besten ausgewählt. Am Anfang ging es also einfach nur darum, ob du spielen kannst. Wer spielen kann und gut genug ist, der wird akzeptiert.“49

Für Buzz ist an dieser Geschichte noch heute eines besonders bemerkenswert: „Dass etwas, was wir 1980 getan haben, einen Einfluss darauf hatte, dass mein Sohn in einem Film viele Jahre später mitspielt. Ich konnte gar nicht glauben, dass etwas, an dem ich beteiligt war, ihm in seinem Leben geholfen hat.“

Im Reisepass von Billy findet sich übrigens eine weitere Kuriosität. Denn Buzz Schneider wurde nach den Olympischen Spielen Profi-Eishockeyspieler, unterschrieb beim SC Bern in der Schweiz und zog zusammen mit seiner Frau Gail nach Europa. Und so erblickte Billy im Dezember 1980 auf neutralem helvetischen Boden das Licht der Welt.

Die Schneiders waren nicht die einzigen, die damals nach Europa umzogen. Auch Mark Pavelich, Nebenmann im Sturm von Lake Placid, landete in einer neuen Umgebung. Er unterschrieb beim HC Lugano, aber schaffte es nach nur einem Jahr zurück in die USA, wo er in der National Hockey League unter anderem bei den New York Rangers und den Minnesota North Stars spielt.50

Schneider, der damals vom deutschen Meistertrainer Xaver Unsinn in die Schweiz geholt wird, hat seine Zeit in Bern sehr genossen und erinnert sich noch heute gern daran. Vor allem auch an Mitspieler, die hier zu neuen wichtigen Bezugspersonen wurden. Wie zum Beispiel Roland Dellsperger, sein bester Freund im Team, mit dem er sich unterwegs die Hotelzimmer teilte. Die beiden halten bis zum frühen Tod des Eidgenossen 2013 ständig Kontakt. Auch die Freundschaft zu Renzo Holzer reißt nie ab. Nicht mal nachdem Schneider 1983 mit 28 Jahren in seine Heimat zurückkehrte und das Eishockeyspiel aufgibt. Der Mann, der mit seinen Schlagschüssen ganze Spiele entscheiden konnte, leidet an den Folgen eines irreparablen Bandscheibenvorfalls.

Auch das hervorragende Verhältnis zu den anderen Teamgefährten von Lake Placid bleibt erhalten. Die Gruppe trifft sich immer wieder zu medienwirksamen Ereignissen, mit deren Hilfe die Erinnerung an das Wunder weiter gepflegt wird. So wie im Februar 2015, als man in Lake Placid mal wieder zusammenkommt.

Immer dabei: Fernsehreporter Al Michaels: „Sie haben mich bei ihren Zusammenkünften immer wieder eingeladen und niemand sonst von außen. Die Erinnerung an dieses Ereignis hätte allerdings auch so überlebt, egal, was ich am Ende gesagt habe. Es wäre eindeutig eines der Ereignisse gewesen, an die sich Menschen für den Rest ihres Lebens erinnern. Aber die Spieler sind so dankbar, dass ich in der Lage war, das in Worte zu fassen. Und ich bin nicht nur dankbar dafür, dass ich das tun konnte, sondern auch für sie. Denn dies war ein so einzigartiges Ereignis. Etwas, was es noch nie zuvor gegeben hatte.“

Einer, der in solchen Momenten schmerzlich vermisst wird, ist der Mann, dem man vor der Eishockeyhalle in St. Paul ein Bronzedenkmal in Lebensgröße errichtet hat: Trainer Herb Brooks. Der war in den 1970er-Jahren Coach der Collegemannschaft der University of Minnesota und mit ihnen dreimal US-Meister geworden. Er hatte für die Olympischen Spiele eine Phalanx aus Repräsentanten seiner Heimatregion zusammengestellt: zwölf der 20 Spieler im Kader kamen so wie Buzz Schneider aus Minnesota. Sowie fast alle Mitglieder im Betreuerstab.

Ein Jahr nach dem Sieg von Lake Placid macht er ebenfalls einen Abstecher in die Schweiz, als er beim HC Davos einen Vertrag bekommt. Später arbeitet er in der National Hockey League und betreut die New York Rangers, dann die Minnesota North Stars, die New Jersey Devils und schließlich die Pittsburgh Penguins. Seine Rückkehr an die Bande bei den Olympischen Spielen 2002 in Salt Lake City ist der Grundstein für eine Silbermedaille der amerikanischen Mannschaft. Brooks verliert am 11. August 2003 bei einer Fahrt außerhalb von Minneapolis die Kontrolle über seinen Wagen, wird herausgeschleudert und stirbt an Ort und Stelle.

„Er war der richtige Mann, der uns zur richtigen Zeit trainiert hat“, hat Ken Morrow mal gesagt, der später mit den New York Islanders viermal den Stanley Cup gewann. „Ich glaube mit jemand anderem hätten wir nicht gewonnen.“

Ein Trainer mit vielen taktischen Einfällen. Buzz Schneider: „Herb Brooks selbst hat an Olympischen Spielen teilgenommen und oft in der Nationalmannschaft gespielt. Ich weiß nicht mehr genau wie oft. Er wusste, wie die Russen und die Tschechen spielen, wie sie den Puck kontrollieren und flexibel sind, wenn es um die Positionen geht. Er hat sie lange studiert. Ich weiß, dass er einige dieser Lektionen an der Universität von Minnesota in den 70er-Jahren angewandt hat. Puckkontrolle und Positionswechsel – das war nicht das alte, traditionelle nordamerikanische Eishockey, bei dem die Flügel hoch und runter an der Bande entlang unterwegs sind. Er glaubte nicht an dump and chase. Wir wussten also, dass wir einen Vorteil hatten. Wir hatten 20 Spieler, die alle schnell waren und mit dem Puck umgehen konnten. Wir waren in sehr guter körperlicher Verfassung. Und wir konnte andere Teams mürbe machen.“

Aber Brooks ist jemand, der mit seinen eigenen Spielern sehr distanziert umgeht. „Ich glaube, er wäre sicher gerne Teil unserer Gruppe gewesen, aber irgendwie konnte er das nicht“, weiß Mike Eruzione, der Kapitän der Goldjungs von Lake Placid. Dafür befeuert er sie mit seinen Sprüchen, die die Spieler antreiben sollen. Und die Eruzione und zwei Mannschaftschaftskollegen in einem Booklet sammeln, das sie Brooksisms nennen. Es enthält jene Sätze, die nach seinem Tod im Miracle-Film genutzt werden, um seinen Umgang mit den Spielern zu illustrieren:

 

„Gentlemen, ihr besitzt nicht genug Talent, um ausschließlich auf der Basis von Talent gewinnen zu können.“

„Lasst uns idealistisch sein, aber gleichzeitig auch praktisch.“

„Ihr könnt nicht normal sein. Denn der normale Mensch schafft es nirgendwo hin. Ihr müsst unkonventionell sein.“

Vor dem Spiel, im engen Umkleideraum Nummer 5 vom Olympic Field House, gibt er ihnen diese Botschaft mit auf den Weg, die dem Projekt eine messianische Note gibt: „Ihr seid als Sieger geboren worden. Ihr wart dazu bestimmt, hier zu sein. Das ist euer Augenblick.“

„Ich habe mit Herb nie ein Problem gehabt“, sagt Buzz Schneider. „Er war ein Mann, der zu seinem Wort stand. Solche Leute gibt es heute gar nicht mehr.“

*

Übrigens wird in der Erinnerung an die Leistung der amerikanischen Spieler und an ihren emotionalen Erfolg meistens gerne unterschlagen, was aus dem Gegner wurde, der an diesem Freitag 1980 zur eigenen Verblüffung die vermutlich härteste Niederlage in der stolzen Geschichte des sowjetischen Eishockeys erleidet.

Es dauert Jahre, ehe man sich in Amerika dafür interessiert, das Schicksal der Geschlagenen filmisch aufzuarbeiten. Gabe Polsky, Sohn russischer Einwanderer und ein ehemaliger College-Eishockeyspieler, dreht die Dokumentation Red Army und bringt sie 2015 in die Kinos. Im selben Jahr wird die Fernsehproduktion Of Miracles and Men ausgestrahlt. Beide zeigen eindrücklich die andere Seite der Medaille: die nachhaltige Enttäuschung.

Was war damals in den zwei Stunden im Olympic Field House von Lake Placid passiert? Wie konnte eine derart glanzvolle Truppe in einem solchen Moment versagen?

Für die Spieler ist die Sache heute klar: Trainer Wiktor Tichonow, ein erfolgsverwöhnter Autokrat und genialer Kopf, hatte nach dem ersten Drittel unmittelbar nach dem Ausgleich der Amerikaner zum 2:2 völlig überraschend seinen legendären Torwart Wladislaw Tretjak vom Eis geholt und den Ersatzmann Wladimir Myschkin rausgeschickt. „Keiner im Team war glücklich über die Entscheidung“, verrät Sergej Makarow Jahre danach. „Tichonow war in Panik geraten. Er hatte sich nicht mehr im Griff.“

Zwar gehen die Sowjets danach im zweiten Drittel mit 3:2 erneut in Führung und fühlen sich zunächst scheinbar sicher. Doch die Amerikaner geben sich nicht geschlagen.

Tichonow gibt hinterher seinen Spielern die Schuld. Sie hätten sich selbst über- und den Gegner unterschätzt, giftet er seine Stars an: „Das ist eure Niederlage. Das ist eure Niederlage.“

Dass die Mannschaft beim Turnier immerhin Silber gewinnt, ist für die Verlierer kein Trost. „Ich habe meine Medaille nicht mehr“, gibt Makarow Jahre danach gegenüber dem amerikanischen Sportjournalisten Wayne Coffey während der Recherchen zu dessen Buch The Boys of Winter zu.51 „Ich glaube, sie ist in einem Mülleimer in Lake Placid gelandet.“

Anders ergeht es der Goldmedaille, die Buzz Schneider mit nach Hause bringt. Er holt sie in den vier Jahrzehnten danach ziemlich oft aus der Vitrine. Und so geht das Verbindungsstück zur Schleife kaputt, mit dem man sich die Memorabilie um den Hals hängen kann.

Kein Problem. Das Wunder ist ja vollbracht. Und das Echo darauf scheint nie wieder abzuebben.

(2021)

48 Ein Begriff, der, wie die New York Times herausfand, bei NBC Sports 1992 während der Sommerspiele von Barcelona von Chefproduzent Terry O’Neil geprägt wurde, um die Praxis zu beschönigen, aufgezeichnete Übertragungen kosmetisch so aufzuwerten und sie so zu präsentieren, als würden sie in dem Augenblick stattfinden.

49 Es war nicht die erste Verfilmung des Jahrhundert-Triumphs. Bereits ein Jahr nach dem Erfolg kam ein Dokudrama mit dem Titel Miracle on Ice ins amerikanische Fernsehen. In der Hauptrolle: der damals bereits 69 Jahre alte Hollywood-Schauspieler Karl Malden (Endstation Sehnsucht, Die Straßen von San Francisco). Ein deutlicher Kontrast zum echten Herb Brooks, der in Lake Placid gerade mal 42 gewesen war. Er wurde in der Neuauflage 2004 fürs Kino von Kurt Russell (Elvis, Die Klapperschlange), der bei den Dreharbeiten im selben Alter war wie Brooks in Lake Placid, sehr viel plausibler als komplexer Charakter auf die Leinwand gebracht. Weshalb die Produktion (Drehbuch: Eric Guggenheim und Mike Rich, Regie: Gavin O’Connor) als einer der 50 besten amerikanischen Sportfilme gilt. Das Werk von 1981 hingegen hinterließ keinen bleibenden Eindruck. Unter anderem auch deshalb nicht, weil er nach Meinung von Kritikern nicht verstanden hatte, die Essenz der Sportart Eishockey einzufangen und die zentralen Figuren erstaunlich hilflos in Karikaturen ihrer selbst verwandelt hatte.

50 In der letzten Phase seines Lebens sorgte Mark Pavelich für neue Schlagzeilen, die so gar nicht in das Image des Eishockey-Helden passten. Im Sommer 2019 wurde er verhaftet, weil er einen Nachbarn körperlich angegriffen hatte, mit dem er auf einem gemeinsamen Angelausflug gewesen war. Er wurde jedoch für nicht verhandlungsfähig erklärt und in eine geschlossene Therapieeinrichtung überstellt. Familienangehörige äußerten die Vermutung, dass er schon länger unter der Gehirnerkrankung Chronische Traumatische Enzephalopathie (CTE) litt, die zu Verhaltensveränderungen führen kann. Er nahm sich im März 2021 das Leben (siehe auch Wie viele kleine Autounfälle über die in den letzten Jahren gereiften Erkenntnisse über die Langzeitrisiken von Sportarten wie Fußball, Football und Eishockey auf Seite 297ff.

51 Wayne Coffey: The Boys of Winter – The Untold Story of a Coach, a Dream, and the 1980 U.S. Olympic Hockey Team, New York, 2005

ALLES NUR THEATER?

Amerikas berühmtester Football-Trainer war der Verfechter eines erbarmungslosen Körperkults. Ein Typ wie geschaffen für den Broadway

Rund eine Stunde ehe im fernen Dallas die Begegnung des Jahres angepfiffen wird, beginnt im Circle in the Square Theatre am New Yorker Broadway ein Rennen gegen die Uhr.

„Viele von ihnen sind Packers-Fans geworden“, sagte der Produzent der Broadway-Produktion neulich über die Schauspieler, die in ihrem neuesten Stück mit dem schlichten Titel Lombardi die Erfolgsgeschichte des berühmtesten Football-Trainers Amerikas erzählen und sie zu einem Publikumserfolg gemacht haben.

Also werden die Mitglieder des Ensembles nach dem letzten Vorhang der Nachmittagsvorstellung wie schon vor zwei Wochen vor dem Spiel um die Conference Championship von der Bühne hasten und sich abschminken, um rechtzeitig in einer der Kneipen in der Gegend einen Platz zu erhaschen und das Ganze im Fernsehen verfolgen zu können. Für sie hat das Spiel nämlich eine besondere Bedeutung: In diesem Jahr haben die Green Bay Packers, zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren den Super Bowl erreicht und greifen mal wieder nach dem schweren Goldpokal, eine Auszeichnung, die man zu Ehren des alten Packers-Trainers Vince Lombardi Trophy nennt52. Also jenes Mannes, den die Schauspieler in Manhattan aus dem altvertrauten Milieu herausgezogen und auf die Bühne gebracht haben.

Halb Amerika steht beim Finale der National Football League still. Mehr als 100 Millionen Amerikaner verfolgen das Spiel live am Bildschirm. So mancher von denen wird in solchen Momenten nostalgisch, nicht nur die Schauspieler am Broadway, die sich dieser Tage beruflich mit der Geschichte des legendären Coachs auseinandersetzen, der vor einem halben Jahrhundert den Profi-Football mit einfachen Spielzügen und schlichten, einpeitschenden Slogans geprägt hatte. Zu seinen Hinterlassenschaften gehören wahre Aphorismen-Klassiker, die heute jedes Kind in den USA kennt. Wie etwa dieser: „Gewinnen ist nicht alles, es ist ein und alles.“

Lombardis Sprüche, mit denen er seine Spieler im Stil eines aufgeblasenen Feldwebels anherrschte, klangen kaltschnäuzig und zynisch zugleich: „Niemand hat jemals wirklich Schmerzen“, sagte der autoritäre Patriarch, dessen kurzkrempiger Hut und dessen dickrandige Brille zum Markenzeichen wurden, seinen verletzten Spielern. „Schmerzen hat man nur im Kopf.“

Die knochenkrachende Sportart konnte nun mal keine Weichlinge gebrauchen. Schon gar nicht in einer Zeit, als in den USA dank Rassenunruhen, Flower Power und dem Krieg in Vietnam die gesellschaftliche Orientierung aus dem Ruder lief. „Ich denke, es gibt nur einen Weg, um Spieler in diesem Geschäft zu trainieren“, sagte Lombardi, der einst unter anderem an der Militärakademie in West Point als Assistenztrainer gearbeitet hatte. „Du musst so hart sein wie das Geschäft.“

Dass die gute alte Zeit romantisiert und ihre erfolgreichsten Repräsentanten zu Überfiguren stilisiert werden, wirkt verstörend und nachvollziehbar zugleich. Schließlich hatte Lombardi, der Sohn italienischer Einwanderer aus Brooklyn, die Packers vom schlechtesten Team der Liga zum unschlagbaren Abonnementssieger gemacht und Green Bay, die kleinste Stadt im Universum der NFL, wo man im Winter während der Saison bei Temperaturen bis zu minus 25 Grad vor ausverkauften Rängen Football spielt, zur Title Town.

Das Theaterstück am Broadway, das auf der 1999 erschienenen Biographie When Pride Still Mattered: A Life of Vince Lombardi von David Maraniss beruht, ist nur ein Teil der Kanonisierung des Mannes, der 1970 im Alter von 57 Jahren an Krebs starb.

Lombardis Vita verlief keinesfalls geradlinig. Er war ein abgebrochener Jurastudent, der mit 26 als Lehrer an einer High-School gelandet war. Dort unterrichtete er Latein, Chemie und Physik. Erst mit 41 fand er seine wahre Berufung. Da übernahm Vince Lombardi eine Position als Assistenztrainer eines New Yorker Profi-Football-Clubs.

Dies war das Sprungbrett für den großen Karriereschritt vier Jahre danach zum Cheftrainer der Green Bay Packers. In dieser Position wurde er wenig später so etwas wie der Chefideologe einer schlichten Weltsicht. Die eines autoritären Denkens – als Teamgeist verbrämt –, wie es im Volkssport American Football verankert ist.

Das Anforderungsprofil, das seine Spieler erfüllen mussten, so sagte er mal in einem Interview, bestehe aus nur drei Dingen: Familiensinn, Religiosität und Einsatzbereitschaft:

„There is three things as far as I am concerned. One is the man’s family and two is religion and number three must be the Packer football team.“

Football ist ein Spiel voller Gewalt und militärtaktischer Disziplin. Seine wichtigsten Figuren sind nicht die Gladiatoren auf dem Platz, sondern die Trainer am Rand. Feldherrn und Marionettenspieler. Mystiker und Poeten eines erbarmungslosen Körperkults.

In dieser Rolle brillierte Vince Lombardi wie kein anderer. Denn seine Packers gewannen und bestätigten auf diese Weise seine Aura, durch die er für ein paar Jahre so etwas wie der Pädagoge der Nation wurde.

Ein harter Mann in einem harten Geschäft, dessen Organisatoren sich auf eine einfache Weise bei ihm bedankten. Sie gaben dem Pokal, den die siegreiche Mannschaft beim Super Bowl erhält, seinen Namen.

Um eine solche Figur auf die Bühne zu bringen, brauchte der stämmige Hauptdarsteller Dan Lauria kaum Requisiten. Nur eine Brille, eine mit schwarzer Farbe vorgetäuschte Zahnlücke und diesen deftigen New Yorker Akzent: „We’re only here because we wanna win and when we lose we’re gone. Therefore we have to win.“

„Wir sind nur hier, weil wir gewinnen wollen. Wenn wir verlieren, sind wir weg vom Fenster. Also müssen wir gewinnen.“

Gewinnen – das war von Anfang an natürlich auch das Ziel von Eric Simonson, dem Autor des Stückes, der vor fünf Jahren einen Oskar für den Dokumentarfilm A Note of Triumph erhielt. Die Rechnung scheint aufgegangen. Die Produktion ist ein Publikumserfolg.

Ein Docudrama, wie die Zeitung USA Today nach der Premiere im Oktober schrieb – „vorhersehbar und verdaulich“. Leider beschäftigt sich das Schauspiel nur wenig mit den inneren Befindlichkeiten des Menschen Lombardi, in dem ein Vulkan gebrodelt haben muss. Stattdessen geht es einmal mehr um sein Rollenspiel als Trainer, Stratege und Phrasendrescher. Mit anderen Worten: Eine vertane Chance. So besteht die eigentliche Leistung des Bühnenwerks vor allem darin, die proletarisch geprägte Footballkundschaft an den Broadway zu locken.

 

Das Timing für die Produktion hätte übrigens nicht besser sein können. Denn die Packers von heute genügen zum ersten Mal seit langem wieder Lombardis Ansprüchen. Sie sind erfolgreich und haben beste Chancen, den Super Bowl gegen die Pittsburgh Steelers zu gewinnen.

In den Übertragungen vom Super Bowl erfährt man nur wenig darüber, auf welch vielfältige Weise sich in den USA immer wieder Sport und der klassische Kulturbetrieb begegnen. Dabei waren und sind dies höchst anregende und unterhaltsame Experimente. Selbst dann, wenn sie gar nicht erst versuchen, die sperrige kultische Dimension von Sport einer gebührenden kritischen Aufarbeitung zu unterziehen, sondern eher die Legendenbildung vorantreiben. Kinofilme über das Leben und Leiden von Baseball-Profis wie Babe Ruth oder Lou Gehrig oder ironische Komödien voller Sympathien für ihre Charaktere wie Bull Durham oder Slap Shot wollen ihre Zuschauer vor allem unterhalten. Die Anregung zum Nachdenken verstehen sie nicht als ihre Aufgabe.

Trotzdem nimmt immer mal wieder jemand die Folie des Sports und arbeitet sie konsequent in ein Stück Literatur ein – so wie etwa Don DeLillo in seinem Roman Unterwelt von 1997, in dem ein historischer Homerun als Zeitachse für das große Ganze dient – von den Katakomben des Kalten Krieges bis zu den Müllhalden der Zivilisation.

Zu den gelungenen Ergebnissen, Sportalltag und künstlerische Ambitionen zu verflechten, gehört übrigens ebenfalls eine Broadway-Produktion: das Baseball-Musical Damn Yankees von 1955 von Richard Adler und Jerry Ross, eine moderne Form des klassischen Faust-Stoffs. Es wurde auch in der Film-Version 1958 ein Erfolg. Ein Hollywood-Remake ist im Gespräch.

Ein Film über das Leben des Footballtrainers Vince Lombardiist seitdem ebenfalls geplant. Niemand anderer als Robert De Niro soll ihn spielen.

(2011)

Verglichen mit der Popularität des amerikanischen Sports sind Versuche, seine Themenwelt auf die Bühne zu bringen, eher dünn gesät. Immerhin: Es gibt und gab eine Reihe von Musicals wie Damn Yankees oder Good News, das ein bedeutendes Football-Spiel als Aufhänger nutzt und in den zwanziger-Jahren entstand. Es fand zu jener Zeit durchaus sein Publikum. Ebenso wie Golden Boy, ein Stoff aus dem Boxer-Milieu der dreißiger-Jahren, das in der Fassung mit Sammy Davis Jr. in der Hauptrolle 1964 Premiere hatte. Der erfolgreiche Musical-Komponist Andrew Lloyd Webber (Cats, Jesus Christ Superstar, The Phantom of the Opera) nahm 2000 mit The Beautiful Game Fußball ins Visier.

Dramen ohne musikalische Elemente gab es häufiger. Beispielsweise The Changing Room von David Storey (1973), das als Schauplatz eine englische Rugby-Umkleidekabine nutzt. Howard Sackler schrieb in den Sechziger-Jahren ein Drama vor dem Hintergrund der Rassenproblematik im Boxen: The Great White Hope. Experimente gab es auch, wie 2012 die Produktion Magic/Bird über die besondere Beziehung der Basketball-Rivalen Magic Johnson and Larry Bird, an dem Kritiker des New Yorker vor allem die eingespielten Archivvideo-Elemente gefielen. Die Inszenierung selbst wirkte in ihrem Versuch, diese beiden Sportler mit gesellschaftlich relevanten Aspekten ihrer Biographien zu verknüpfen, allerdings eher „gestelzt“.

Manchmal sind scheinbar griffige Titel eher irreführend. In Federer Versus Murray zum Beispiel spielt Tennis nur eine Nebenrolle (im Hintergrund läuft die Fernsehübertragung eines Spiels der beiden).

52 Die Green Bay Packers gewannen in diesem Jahr (2011) tatsächlich den Super Bowl – zum vierten und vorerst letzten Mal. Die Mannschaft bezwang die Pittsburgh Steelers mit 31:25.