Buch lesen: «Gretge. „mit Hexen verwandt, als Hexe verbrannt“»

Schriftart:

ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhalt

Das Buch

Hauptpersonenregister

Glossar

Prolog

Kapitel 1 Die Jahre 1646-1659

Kapitel 2 Die Jahre 1660-1663

Kapitel 3 Das Jahr 1664

Kapitel 4 Tag der Hinrichtung 9. September 1664

Epilog

Das Buch

Über diesen als „Hexenprozess“ bekannten Fall gab es bereits seit 1785 viele Veröffentlichungen. Er ist im Buch von Hoops und Ringe, „mißbraucht & verbrannt“, ibidem-Verlag Stuttgart, 2009 erstmals umfangreich anhand aller noch vorhandenen Gerichtsprotokolle und Hinweise bearbeitet und veröffentlicht worden.

Über den tragischen Prozess gegen eine 17jährige Frau, die als Hexe verurteilt und hingerichtet wurde, dessen Aktenlage dazu sehr umfangreich ist, berichtet dieser historisch begründete Roman.

Dieser Roman fußt auf wahren und folgenschweren Begebenheiten. Er beinhaltet überlieferte Tatsachen, die teilweise übernommen, zum Teil auch frei erfunden sind. Weiterhin stehen darin neben authentischen frei erfundenen Personen, mitunter Aussagen und Hand-lungen ergänzt worden.

Die Orte sowie die Namen der in den historischen Texten erwähnten Personen wurden nicht verändert.

Viel Freude beim Lesen wünscht Ihnen


Jürgen Hoops von Scheeßel


Geschichte des Kirchspiel Scheeßel, Meyer, 1955, Seite 517

Hauptpersonenregister
Familie der Angeklagten
Margarethe Meinken, genannt Gretge Angeklagte

Mette Meinken, geborene Hoops Gretges Mutter

Claus Meinken Gretges Vater

Harm Hoops Mettes Bruder

Tipke Pape, geborene Hoops Mettes Schwester

Tietke Meinken Claus’ Vater

Margarethe Meinken, die Alte Claus’ Mutter

Catharina Meinken, genannt Trine Gretges Cousine

Personen aus dem Kirchspiel Scheeßel

Johann Holsten Claus Meinkens Nachbar

Tietke Holsten Johanns Vater

Dorothea Holsten, geborene Müller Johanns Frau

Berend Müller, der Müller Dorotheas Vater

Harm Baden Claus Meinkens Nachbar

Albert Dornemann Pastor bis 1654

Hinrich Meyer Pastor ab 1654

Christoph Wohlberg Jurat, Schmied, Kötner

Johann Jordan Oberförster und stv. Vogt

Hinrich Köster Untervogt

Amtspersonen in Rotenburg

Jost Prott Drost und Oberinspektor

Peter Pabst Amtmann (2.Beamter)

Burghardt Schmidt 1. Amtsschreiber

Christoph Keubler 2. Amtsschreiber

Hans Zapf, auch Meister Hans Henker (Nachrichter)

Gerdt Schellermann Wächter im Gefängnis

Henning Schröder Probst und Pastor

Andere Personen

Herman Höborg Bürger in Buxtehude

Jacob Ebbers Bäcker in Rotenburg

Hier sind nur jene Personen aufgeführt, die am Geschehen wesentlich beteiligt sind. Dieses Register soll dem Leser zur Orientierung über die im Roman erwähnten Menschen dienen.
Von Gretge der Hexerei beschuldigten Frauen

Margaretha Sonnenberg, Rotenburg

Zillie Bassen, Wittkopsbostel

Cillia Meinken, Oldenhöfen

Anna Veersemann, Ostervesede auch „Piepen Annken“ genannt

Catharina Heitmann geb. Bade, Abbendorf

Tibke Hollmann, Bartelsdorf auch als Tipke Behrens und Tibke von Bartelsdorf bekannt

Grete (Margarethe) Heitmann, Westeresch

Anna Hastede, Hetzwege

N.N., eine Frau aus Westerholz

Anna Ratchen, Westervesede

Über das Schicksal dieser Frauen wird in zwei weiteren historischen Romanen berichtet werden.

Glossar

Altenteiler Bauer, der die Führung seines Hofes an seinen Nachfolger übergeben hat

Bademutter ortsübliche Bezeichnung für Hebamme

Flett Diele mit offener Feuerstelle im Niedersachsenhaus

Häusling Bewohner eines kleinen Hauses ohne Ackerland, Häuslingshaus kleines Haus, gehört zu einem Hof

Herrenmeier Erbpächter eines Amtshofes

Hester kleines Bäumchen

Holzklotschen geschnitzte Holzschuhe

Kate kleines Haus mit wenig Ackerland

Kötner Bewohner einer Kate, welcher meist ein Handwerk (Schneider, Schuster) ausübte

MagisterDoktorand mit Studium, z. B. Jurist

Pollholz am Waldboden liegendes Astwerk

Prieche Empore in der Kirche

Rähm Funkenschutz über dem offenen Feuer

Schauer überdachter Unterstellplatz für Fuhrwerke

snacken Plattdeutsch für „sich unterhalten“

Voller Hof ein ungeteilter Hof, Vollhof


Grundriss eines Niedersachsenhauses mit Flett und Diele aus:Gerhard Eitzen, Bauernhausforschung in Deutschland, Seite 240 Abb. 15.2 Maßstab 1:200


Fachwerkhaus aus Wilhelm Bomann, Bäuerliches Hauswesen und Tagewerk im alten Niedersachsen, Seite 6. Abb.4 Zweiständerhaus

Prolog

Der Morgen des 9. September 1664 war gerade angebrochen, die ersten Sonnenstrahlen trafen unschuldig, prickelnd und wärmend das Gesicht der jungen Frau, die ermattet ihre rot unterlaufenen, von Tränen verquollenen Augen aufschlug. Sie hatte in dieser Nacht voller Angst und Verzweiflung kaum geschlafen, allenfalls kurz vor Erschöpfung.

Die Holzpritsche im Gefängnis der Rotenburger Burg, indem sie nun schon seit Monaten leben musste, war mehr als ungemütlich, die Zelle dreckig und kalt. Der stroh-gefüllte Sack stellte keine genügende Polsterung auf der hölzernen Pritsche dar. Wie sehnte sie sich nach ihrer kuscheligen Schlafkammer mit dem Daunenbett im elterlichen Bauernhaus in Westeresch, ihrem kleinen Dorf, zurück.

Der Gedanke gab ihr für einen Moment ein Gefühl der Sicherheit, und im gleichen Augenblick seufzte sie und wurde traurig, denn ihre Mutter, ihr liebster Mensch auf Erden, lebte nicht mehr. Sie fehlte ihr unendlich.

Es würde nie wieder so sein, wie es einstmals war. Dann schreckte sie aus dem Träumen wieder in diese Welt zurück, die sie bald verlassen sollte.

Gretge hatte wahnsinnige Angst vor dem, was sie in wenigen Stunden erwartete. Es war ihre eigene Hinrichtung. Sie wollen sie verbrennen, einfach ver-brennen und sie wusste nicht warum. In wenigen Wochen, am Heiligen Abend hätte sie ihren 18. Geburtstag und am 2. Weihnachtstag ihren Tauftag feiern können. Sie wollte so gerne leben, aber sie werden sie nicht leben lassen. Sie wird niemals einen Ehemann und Kinder haben, Enkel auf dem Schoß sitzen sehen, wie ihre Großmutter Margarethe sie auf den Beinen hatte sitzen lassen. Bei ihr hatte sie sich gerne aufgehalten, denn sie war immer im Hause, während die Eltern auf dem Feld oder im Stall arbeiteten.

Hier war niemand, sie zu trösten oder in den Arm zu nehmen und mit der Hand liebevoll über das Haar zu streicheln, wie es die Mutter und die Großmutter taten. Gleich würden die neuen, ihr fremden Gefängniswärter kommen, ihr Brot und einen Krug Milch zu bringen.

Nach ihrem gescheiterten Fluchtversuch waren die ihr vertrauten Wärter ausgetauscht und die Anzahl der neuen verdoppelt worden. Es sollte die letzte Mahlzeit sein, die sie in ihrem kurzen Dasein zu sich nehmen würde.

Die ganze Nacht hatte sie alle Erinnerungen ihres jungen Lebens in Gedanken und Bildern mehrfach durchlebt und dabei sehr viel geweint.



...aus Gerhard Eitzen, Bauernforschung in Deutschland, Seite 416, Abb.A, Zweiständerhaus mit Walmdach, erbaut 1650

Kapitel 1
Die Jahre 1646-1659

I


Bereits am Weihnachtsmorgen des Jahres 1646 kündigte sich für die junge Mette Meinken das Ende der Schwanger-schaft und die Geburt ihres ersten Kindes an.

Ihr Ehemann Claus, welcher seit ihrer Heirat vor zwei Jahren nun der Bauer auf dem Hof war, sandte seinen Knecht und älteren Bruder Joachim aus, die Bademutter, andernorts auch Hebamme genannt, zu informieren und am besten sogleich mitzubringen. Es war ein uralter voller Hof mit einem in die Jahre gekommenen, strohgedeckten Fachwerkhaus und mehreren Nebengebäuden, deren Alter man ihnen an jedem Balken ansah. Die hölzernen Windbretter der Giebelzier mit den nach innen gekreuzten Pferdeköpfen waren sichtlich schon von Wind und Wetter gezeichnet.

Längst hätte das Stroh auf dem Dach ausgebessert oder gar erneuert werden müssen, aber dafür gab der Grundherr, das Amt Rotenburg, keine Gelder frei. Es war selbst unter der Kriegslast hoch verschuldet.

II


Claus’ Vater, der Altenteiler Tietke, redete beruhigend auf seinen Sohn ein, wie es sein Vater einst, bei Claus eigener Geburt getan hatte. Die Jahre als Bauer und die Erlebnisse während der Kriegszeit, sowohl mit den katholischen,,als auch mit den protestantischen Truppen, hatten ihn schwer gezeichnet. Er war nicht nur alt an Jahren, sondern auch gebrechlich geworden. Seine Beine wollten nicht mehr so recht, seit er von Tillys Soldateska, die er zur Einquartierung auf seinem Hof hatte, mit dem Stock blutig geschlagen wurde.

Das ganze Dorf hatte seinerzeit sehr gelitten. Alle Vorräte hatten die Soldaten aus den Häusern und Speichern gestohlen. Das Vieh im Dorf hatten sie geschlachtet und verzehrt. Auch die Pferde wurden ihnen weggenommen. Für den Winter war den Dorfbewohnern nichts geblieben und in den Nachbardörfern sah es nicht besser aus.

Als Tietke sich dagegen wehren wollte und einen Leutnant ansprach, wurde er als gottloser Geselle beschimpft und barsch abgewiesen. Er erinnerte sich noch genau daran, als sei es gestern erst gewesen. Tietke hatte schon manchen schlechten Winter im Dorf erlebt, der durch seine Härte und Dauer die Vorräte auffraß. Damals aber hatten sie schon im Herbst nach der Ernte nichts mehr zu essen. Deswegen flehte er den Leutnant, einen böhmischen Junker, der die Truppe im Dorf befehligte und nun abziehen wollte, in seiner Eigenschaft als Bauernvogt an, sie mögen sich erbarmen. Er solle ihnen Lebensmittel und einige Stück Vieh da lassen.

Die schwedischen Truppen waren nicht mehr weit. Das wusste Tietke, denn er hatte die Soldaten ängstlich reden hören. Der Leutnant entgegnete ihm mit einem verächt-lichen Grinsen von seinem Pferd herunter, er könne froh sein, dass er ihm nicht das Dorf über den Köpfen anzünden lassen würde. „Bauernvogt, ich komme bald wieder, dann brauche ich die Häuser zum Wohnen für meine Leute. Seid froh, dass ich Euch leben lasse, und spart uns eure Weiber für die kalten Wintertage auf.“ Tietke wurde ungewöhnlich laut, und er beschimpfte den Leutnant von Bodenthal als Henkersknecht seines Heer-führers und seiner Pfaffen. Das Blitzen in den Augen des Offiziers hatte Tietke bis heute nicht vergessen.

Er wurde daraufhin von zwei übel aussehenden Lands-knechten auf die Knie gezwungen und ein Dritter gab ihm auf Befehl des Leutnants dreißig Stockhiebe auf die nackten Fußsohlen, dass das Blut im Sand eine kleine Lache bildete. Der Leutnant lachte dabei und forderte seinen Schergen auf, recht heftig auf den protestantischen Tropf dreinzuschlagen.

Nach laut vorgezählten dreißig Hieben unter Gejohle der umstehenden Söldner wurde Tietke losgelassen. Ohnmächtig fiel er vornüber auf den Boden. Seine Füße waren gebrochen und blutig zerfetzt, die Schmerzen raubten ihm die Sinne. „So wird es allen ergehen, die das Maul zu weit aufreißen. Es lebe der Kaiser.“ Mit diesen Worten verschwand der Leutnant mit seiner Truppe und ließ die Menschen im Dorf zurück.

Zwei Stunden später rückten die ersten schwedischen Reiter in das Dorf ein. Auch sie hatten keine Verpflegung übrig. Einige Tage später wurde veranlasst, dass über den Herrn von Schulten und das Amt Rotenburg alle Dörfer ebenda für den bevorstehenden Winter Vorräte erhielten. Dass sie es dem Leutnant und den ausweichenden katholischen Truppen nach einem kurzen Gefecht südlich von Rotenburg abgenommen hatten, wussten die Menschen nicht. Der böhmische Leutnant war dabei von einer Kugel in die Brust getroffen worden. Er stürzte von seinem Pferd und brach sich das Genick.

Die Menschen im Dorf hielten in diesen schweren Zeiten einiges an Vieh in den Wäldern versteckt, hatten Lebens-mittel in geheime Erdbunker vergraben und holten nur das heraus, was sie eben brauchten. Sie mussten in diesen harten Jahren zusammenhalten. Hätte auch nur einer den fremden Truppen, welcher Partei sie auch angehörten, diese Verstecke verraten, wäre es schlecht um sie bestellt gewesen. Dieser Zusammenhalt zerbrach in den besseren Zeiten, wie wir noch erfahren werden.

Es dauerte Monate, bis Tietke wieder auf eigenen Füßen stehen konnte, was er der Pflege seiner Frau und den Kräutern ihrer Verwandten zu verdanken hatte. Niemand im Dorf glaubte noch, er würde jemals wieder richtig gehen können. Seinen Hof konnte er aber nie wieder mit voller Kraft führen. Da seine Väter schon seit Generationen dem Amt auf diesem Hof dienten, er selbst stets seine Abgaben bis dato pünktlich entrichtete hatte, gestattete ihm der Amtmann, den Hof weiterzuführen. Zur Unter-stützung wurde Tietkes jüngerer Bruder Johann als Interimswirt eingesetzt.

Tietkes Sohn Claus und sein Großknecht Lewerenz bekamen mehr Aufgaben zugewiesen. Daneben waren noch ein Knecht und eine Magd auf dem Hof beschäftigt. Claus wurde als Hoferbe angelernt, würde er doch bei der eigenen Heirat den Hof des Vaters übernehmen. Claus lernte dabei die Tochter der Anverwandten von Tietkes Frau kennen. Sie hieß Mette, und sie machte Tietke heute zum Großvater. Darüber war der alte Tietke sehr froh, zog an seiner Pfeife, schaute ins offene Flettfeuer, atmete tief ein, als sei ihm ein Stein vom Herzen gefallen. Dann sah er auf und schaute seine Frau Margarethe mit einem zufriedenen Lächeln an.

III


Die alte Margarethe, Claus’ Mutter, war noch gut beieinander und bereitete schon alles für die Arbeit der Bademutter mit der Dienstmagd Anne vor. Anne war Jungmagd und erst 15 Jahre alt. Sie war ein fröhliches, aber sehr zurückhaltendes Mädchen. Für sie war es die erste Geburt, die sie als Magd miterleben durfte. Es war ihre erste Anstellung. Sicherlich hatte sie schon daheim mitbekommen, dass die eigene Mutter Kinder bekam, aber dabei mitgeholfen hatte sie noch nie. Sie war erst seit diesem Jahr auf dem Hof und stammte aus einem nahen Nachbardorf. Sie war eines von elf Kindern ihrer Eltern. Schon ihr älterer Bruder Lütke war als Jungknecht hier bei Meinken gewesen. Ihre Mutter war eine Nichte des alten Tietke. Sie passte auf, das ihr Aufgetragene stets richtig zu machen. Selbstverständlich wollte sie später auch einmal heiraten und Mutter werden. Bademutter aber wollte sie nicht werden, denn diese waren ihr unheimlich. Die Großeltern und die Alten in ihrem Dorf erzählten sich die sonderlichsten Dinge über diese Frauen, die sich mit Kräutern auskannten.

Sie hatte auch Gespräche der katholischen Soldaten mitgehört, dass Frauen, welche sich mit Kräutern auskannten und Bademütter waren, als „Hexen“, die man verbrennen müsse, bezeichnet wurden. Das hatte ihr große Angst und einige schlaflose Nächte bereitet, denn sie kannte ja Bademütter und Kräuterfrauen. Da die fremden Soldaten auch darüber sprachen, dass, wer mit diesen Weibern verkehre, sich ebenso der Zauberei schuldig machen und verbrannt werden würde, hatte sie Angst um das eigene Leben bekommen. Sie wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, denn Bademutter Hibbel verlangte lautstark nach heißem Wasser.

IV

Es war ein bitterkalter, aber trockener und schöner Wintermorgen, von dem die Menschen im Hause der Familie Meinken nichts mitbekamen. Die Bäume, Felder und Häuser des Dorfes waren mit einer glatten, fast kniehohen Schneedecke überzogen. Von den Strohdächern hingen große und kleine Eiszapfen herunter, die im Licht der Sonne blinkten.

Der Schneefall hatte schon am Vortag aufgehört. Dennoch würden der Knecht Lewerenz und die Bademutter einige Stunden benötigen, um hierher zu kommen.

In der zweiten Stunde nach Mittag traf der Knecht mit der alten und erfahrenen Bademutter Hibbel ein. Er hatte sie nicht bei ihr zu Hause angetroffen. Sie war am Abend zuvor zu einer anderen Geburt gerufen worden und dort über Nacht geblieben. Sie half einem Knaben, das Licht der Welt zu erblicken. Von dort holte sie der Knecht ab und brachte sie mit dem alten Leiterwagen zum Hof in Westeresch. Hibbel schaute sehr müde drein, als sie ins Haus trat, ging sogleich zu Mette in die Kammer und kam nach einigen Minuten wieder heraus, um die Vorbereitungen im Hause zu prüfen. Sie beruhigte die Anwesenden mit einer knappen Handbewegung und teilte ihre Einschätzung mit, dass es noch zwei bis drei Stunden dauern würde, bis das Kind zur Welt käme. Es würde also heute am Weihnachtstag geboren werden, das konnte sie aus ihrer Jahre währenden Erfahrung beurteilen.

Sie bekam erst einmal eine heiße Suppe und wärmte sich am offenen Feuer im Flett auf, während Mette in der kleinen ungeheizten Kammer im Bett lag und Angst hatte, denn sie wusste, dass die erste Geburt für eine Frau stets ein Risiko war. Eine von Mettes Schwestern war unter der Geburt gestorben, ohne das Kind herauszubringen. Sie hatte drei ganze Tage und Nächte gelitten, bis der Herr sie endlich von ihren Qualen erlöst hatte.

Die Menschen im Heimatdorf redeten von der Strafe Gottes gegen die Hexenbrut. Mettes Mutter und Großmutter waren nicht gut angesehen, denn der Hof der Eltern und Großeltern warf stets gute Erträge ab, während die anderen Bauern Hunger leiden mussten. Das ging für die Nachbarn nicht mit rechten Dingen zu.

V


Hibbel dagegen war zufrieden, denn als alte Witwe hatte sie als Bademutter noch eine wichtige und geachtete Aufgabe in den Dörfern und ein kleines Zubrot in den schlechten Zeiten. Sie wusste aber auch, dass sie in ihrer Tätigkeit vorsichtig sein musste, denn der Aberglaube, ihr Berufsstand habe etwas Mystisches an sich, hatte schon manch andere Frau in arge Bedrängnis mit der Gerichts-barkeit gebracht.

So war es auch Mettes Mutter und Schwiegermutter ergangen, die sie beide noch gekannt hatte. Sie waren, wie Hibbel heute, Bademütter gewesen und wurden der Zauberei verdächtigt und beschuldigt.

Hibbel heiratete einst, wie Mette, in dieses Kirchspiel ein. Ursprünglich stammte sie aus einem Nachbardorf von Mettes Eltern. Hibbel hatte als junge Dienstmagd noch bei der alten Hoops in Höperhöfen, das Handwerk der Hebamme erlernt, es aber für sich behalten.

Nach dem frühen Tod ihres Mannes Hans fing sie an, es auszuüben, weil sie eine Aufgabe brauchte. Sie hatte keine eigenen überlebenden Kinder, obwohl sie so gerne welche gehabt hätte. Vier mal gebar sie tote Kinder, drei Mädchen und einen Knaben. Nun führte der Neffe ihres Mannes den Hof, und sie fühlte sich fremd im eigenen Haus. Sicherlich durfte sie dort bis zu ihrem Lebensende wohnen bleiben, dennoch war sie stets froh, wenn sie aus dem Haus konnte.

Die Aufgabe als Bademutter gab ihrem Leben noch einen Sinn. In ihrer Tätigkeit kam sie sehr viel herum und die Menschen sprachen offen und vertraulich mit ihr. Dadurch wusste sie vieles, kannte aber auch die Gerüchte und Lügen, wusste auch um die Falschheit einiger. Sie hielt sich stets neutral, soweit es eben ging.

Nun saß sie in dem Haus, in dem Mette heute ein Kind gebären sollte. Hibbel kannte die Abneigung der Nachbarn gegenüber der Familie Meinken. Sie sprachen hinter vorgehaltener Hand, Mette sei die Tochter einer Hexe und habe den Bauern verzaubert. Ansonsten hätte er sicherlich eine Frau aus dem Dorf geheiratet. Ja, dachte Hibbel, so ist das und erinnerte sich an ihre ersten Jahre hier im Kirchspiel. Mettes Wehklagen holte Hibbel aus ihren Gedanken zurück. Sie stand auf und ging zu ihr in die Kammer zurück. Die alte Margarethe und die junge Dienstmagd Anne gingen mit, um ihr zu helfen.

Die Männer blieben im Flett rund ums offene Feuer unter dem Rähm sitzen und rauchten ihre Pfeifen. Der alte Tietke holte eine Buddel Selbst gebrannten aus seiner Kammer, die er für besondere Anlässe aufgehoben hatte. Heute, da er die Geburt seines ersten Enkelkinds erleben durfte, war so ein besonderer Anlass.

Weil die Soldaten auch das Zinngeschirr mitgenommen hatten, waren keine Becher im Hause, aus denen man den Holunderschnaps hätte trinken können. Man hatte sich mit Holztellern und Holzbesteck begnügt, die der Drechsler Hans Grobben hergestellt hatte, denn es war kein Geld zum Kauf für teures Besteck übrig geblieben. So ging die Flasche reihum. Tietke reichte sie dem zukünftigen Vater und Claus nahm einen kräftigen Schluck, der ihm eine gesunde Röte ins Gesicht zauberte. Dann trank Nachbar Ratchen, nachdem er Claus zugeprostet hatte. Die Flasche wanderte zurück zu Tietke, der reichte sie seinem Bruder Lewerenz, dem Großknecht, welcher mit am Feuer saß. Die Flasche ging weiter in der Runde umher, die nunmehr immer fröhlicher wurde. Tietke erzählte Geschichten aus alten Zeiten, aber man sprach auch über die Sorgen, wie man über den Winter kommen würde, wenn er zu lange andauerte. Lewerenz stand zwischendrin auf, um trockenes Pollholz in den eisernen Gitterkorb zu legen. Mit der Zeit verlor die Sonne an Kraft und Wärme, sodass die Winterkälte ins Haus kroch.

Die Holzklotschen, welche die Männer an den Füßen trugen, wärmten nicht und waren schon recht abgenutzt. Sie boten nur einen geringen Kälteschutz gegen den Lehmfußboden, der mit kleinen pflaumengroßen Fluss-steinen mosaikförmig ausgelegt war. So gingen die Stunden dahin, Tietke holte noch eine zweite Flasche hervor, seine Letzte und ließ sie zwischen den Männern kreisen. Hibbel, die zwischendurch ans Feuer kam, sich zu wärmen, trank gerne einen kräftigen Schluck mit.

VI

Mette lag unterdessen im Bett ihrer kleinen kalten Kammer und wurde von ihrer Schwiegermutter, der Magd Anne und Hibbel umsorgt. Das kleine Fenster war mit dünngeschabter gespannter Schweinehaut als Fenster-glasersatz bespannt, wodurch an hellen Tagen auch ein wenig Licht hereinfiel. Wenn es Abend wurde, stopfte die Magd gegen die eindringende Kälte Lumpen in die Löcher und verkeilte sie gegen Herausfallen mit einem eigens dafür vom alten Bauern gefertigten Brett. Es standen noch ein hölzerner Schrank mit zwei Schwenktüren und eine große eichene Truhe im Raum. Diese Truhe hatte Mette zur Hochzeit von ihren Eltern mitbekommen, um die Mitgift, aus Leinen, Tüchern, Bettzeug, Tischdecken, Nachthemden und vielerlei anderer Wäsche sowie die Tracht darin aufzunehmen. Die Spinn- und Webarbeiten sowie Stickereien hatte sie schon, wie alle anderen auch, als junges Mädchen erlernt und so in den Winterabenden im Kreise der Familie gefertigt, während die Männer am Feuer Geschichten erzählten.

So häuften fleißige Mädchen viel Wäsche für die Aussteuer an und weniger fleißige litten später Not, was die Wäsche anging. Mettes Truhe hatte innen an der linken Seite eine Lade mit einer Klappe, in die sie ihre kleinen Schätze, wie die Brosche, welche sie zur Hochzeit geschenkt bekam, hineinlegen konnte. Weiterhin war die „Hohe Kante“, eine Leiste, um darauf die Taler und Schillinge zu legen, vorhanden. Das Geld verwaltete die Ehefrau und den Schlüssel zur Truhe trug sie stets in der Schürze.

In den späten Nachmittagsstunden hatte Mette ein gesundes Mädchen zur Welt gebracht. Hibbel wusch es mit warmem sauberem Wasser ab, nachdem sie die Nabelschnur mit einer Schere durchtrennt hatte. Dann trocknete sie das kleine Kind ab und wickelte es in wärmende Decken ein. Nun erst reichte sie Mette, die inzwischen von Anne und der alten Margarethe gewaschen und versorgt war, das Neugeborene.

Mette nahm ihre Tochter liebevoll in den Arm und schaute sie nachdenklich an. Das Mädchen hatte die Augen geschlossen, die wenigen Haare auf dem Kopf schimmerten hellblond im Kerzenlicht. Das Gesichtchen war noch ein wenig schrumpelig, wie bei alten Leuten. Mette lächelte ihre Schwiegermutter an und sagte: „Sie soll Margarethe wie ihre Großmutter getauft werden“, woraufhin sie der alten Margarethe ihre Enkelin reichte. Margarethe setzte sich auf die Bettkante, nahm die Enkeltochter liebevoll in die Arme und schaute sie versonnen an.

Als das Kind zum ersten Mal die Augen aufschlug, sah es seine Großmutter mit großen Augen an und lächelte. Das erste Wort, welches es hörte, war „Gretge“. Die alte Margarethe sprach es mit Stolz und tiefer Freude aus. Sie schaute ihre Schwiegertochter dankbar an und legte ihre Hand auf deren Arm, als wolle sie Dank sagen. Dann stand sie auf, das Kind in den Armen, ging aus der Kammer in die Diele, zeigte den Männern stolz das Mädchen und erzählte, was ihr Mette gesagt hatte. Tietke nahm seinen Sohn Claus anerkennend in den Arm und freute sich mit ihm. Das Leben auf dem Hof würde weitergehen, auch wenn er einmal nicht mehr sein würde.

Claus nahm seiner Mutter das Kind ab und ging zu seiner Frau in die Kammer. Man sah ihm die Freude an, als er sich auf die Bettkante setzte. Mette lächelte und sagte: „Beim nächsten Mal wird es der Hoferbe sein und der soll Tietke, wie Dein Vater, gerufen werden. Sag es ihm bitte.“ Claus erwiderte: „Lass es gut sein. Die Hauptsache ist, Ihr beiden seid wohlauf. Wir haben einen harten Winter vor uns, aber wir werden es schon schaffen.“ Dann legte er Mette das Kind in den Arm und ging aus der Kammer zurück zu den anderen.

Anne hatte inzwischen das Abendessen für die Anwesen-den zubereitet. Es war nicht viel, aber das Wenige wurde gerne gegeben. Sie sprachen ein Dankgebet, dann wurde gespeist.

VII

Am zweiten Weihnachtstag des Jahres 1646 wurde das Kind in der Scheeßeler Kirche nach dem Gottesdienst durch Pastor Dornemann auf den Namen Margarethe getauft; nach der Großmutter, so wie es Mette wollte. Weil die Mütter nach der Niederkunft als unrein galten und deswegen sechs Wochen nicht in die Kirchen durften, war Mette bei der Taufe ihrer Tochter nicht dabei. Sie blieb daheim und die Dienstmagd Anne bereite ein beschei-denes Mahl zur Tauffeier im Hause vor.

Das Taufkleidchen und die Taufmütze hatte Mette sich bei der Bademutter gegen eine geringe Gebühr ausgeliehen. “Gretge“, so wollte sie ihre Tochter Margarethe rufen, war in ein besticktes Tuch, welches ortsüblich „Lure“ bezeich-net wurde, eingewickelt. Die Lure konnten sich die Taufeltern beim Pastor ausleihen, mussten aber auch dafür eine Gebühr bezahlen. An diesem Tag gab es gleich zwei Taufen, denn am Heiligen Abend waren zwei Kinder im Kirchspiel lebend geboren worden.


Claus hatte nicht viele Freunde im Dorf. Er war zwar ein Vollhöfner, der aber arm war, wie viele andere während dieser schweren Zeiten auch. Sein Freundeskreis wurde nach der Hochzeit noch kleiner. Das Verhältnis zu den Nachbarn, bis auf einen, hatte sich merklich abgekühlt. Das begann, als sich herumsprach, dass er eine auswärtige Frau, die auch noch aus Höperhöfen im Nachbarkirchspiel stammte, heiraten würde.

Es mangelte ihm deswegen an Paten. Er konnte die im Kirchspiel Scheeßel üblichen fünf Paten, bei einem Mädchen drei Frauen und zwei Männer, nicht zusammen bekommen. Er brachte nur drei Paten auf, und das waren ausschließlich Verwandte. Seine eigene Mutter, seine Schwester Anna Heitmann aus Bartelsdorf und sein älterer Bruder Peter. Diese brachten den üblichen Tauftaler mit, auch wenn sie ebenso arm wie er waren. Die Einquartie-rungen und das Marodieren von Tillys Truppen zu seines Vaters Zeiten hatte immer noch verheerende wirtschaft-liche Auswirkungen auf die Menschen der Region. Das Wüten des nunmehr seit 28 Jahren tobenden Krieges hatten auch hier im Dorf schwere Folgen hinterlassen. Dieser Krieg sollte erst zwei Jahre nach Gretges Geburt offiziell beendet erklärt werden, wovon hier aber noch keiner etwas ahnte.

Die Paten bereiteten sich im Pastorenhaus auf die Taufe vor. Wie in früheren Zeiten hielt die älteste Patin das Kind über das mittelalterliche Taufbecken.

In diesem Fall stand die eigene Großmutter Margarethe als Patin stolz in der Stube des Pfarrhauses. Der Pfarrer hatte keine Diele mit einem offenen Feuer, wie es die anderen Häuser üblicherweise hatten. Es verfügte über mehrere kleinere ungeheizte Kammern, eine Küche mit einem Vorratsraum und eine große Stube, die einen steinernen Kamin mit einem gemauerten Schornstein hatte, mit dem der Raum beheizt wurde.

Für die Bauern war dieser Luxus nicht möglich, denn Ziegel waren viel zu teuer und auch Feuerholz konnten sie sich nicht leisten. Bäume durften sie nicht ohne Genehmigung schlagen und das Pollholz, welches auf dem Waldboden lag, reichte nicht für alle Haushalte. Meist nahmen sie getrockneten Torf oder Heide zum Heizen und Kochen, mussten damit aber haushalten. So genossen sie den warmen Raum sehr, in dem auch Taufen an Tagen durchgeführt wurden, wenn es nicht Sonntag war oder das Geld zur Taufe in der Kirche vor dem Altar Gottes nicht reichte.

Als der Gottesdienst vorbei war, holte der Küster Johann Grelle die beiden im Pfarrhaus wartenden Familien zur Kirche ab.

Das Haus Gottes war heute besonders gut besucht, denn es war Weihnachten, und heute sollten zwei Menschen in das Buch des Lebens eingeschrieben werden, wozu es der christlichen Taufe bedurfte.

Die Scheeßeler Kirche war ein über 500 Jahre altes Gotteshaus, dem dieses Alter durchaus anzusehen war. Der Kirchturm aus gemauerten Felssteinen diente zugleich als Wehr- und Glockenturm. Die letzte Glocke war im Jahre 1636 gegossen geworden. Deren Vorgängerglocke war zu Tillys Zeiten von den katholischen Truppen mitgenommen und zum Gießen von Kanonen verwendet worden. Die Holzschindeln auf dem Dach hatte schon vor etlichen Jahren der neue Scheeßeler Pastor durch gebrannte Tonziegel ersetzen lassen. Im Inneren der Kirche waren die Wasserschäden sowie die notdürftig reparierten Schäden aus der Zeit der Kriegsgeschehen noch deutlich zu sehen. Die Kirche wurde damals befestigt und verteidigt. Sie diente auch als Soldatenunterkunft, während das Pfarrhaus von Offizieren als Hauptquartier genutzt wurde. Die kleinen Fenster waren mit den unterschiedlichsten farbigen Bleiglasfenstern ausgestaltet, welche die Wappen der Pastoren und Amtsvögte abbildeten. Die meisten hatten die rauen Zeiten unbeschadet überstanden. Das Altarbild aus dem 12. Jahrhundert, gemalt in Öl auf Holz war schön anzusehen. Es zeigte in der Mitte den gekreuzigten Sohn Gottes sowie rechts und links zwei gekreuzigte Männer. Am Fuße des Kreuzes standen die Mutter Maria und Maria Magdalena.