Buch lesen: «Konstruktive Rhetorik»

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Jürg Häusermann

Konstruktive Rhetorik

Der Dialog als Schlüssel

zum erfolgreichen Vortrag


Jürg Häusermann, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, gibt seit den 1980er-Jahren Rhetorikkurse für Menschen aus den verschiedensten Berufen. Er zeigt dabei, wie man auch beim Sachvortrag vor Publikum den Dialog betonen kann und damit Rednern und Zuhörenden die Sache leichter macht. Seine Lehrbücher basieren auf seiner Erfahrung in der linguistischen Forschung, der eigenen Vortragstätigkeit und der Arbeit als Radiojournalist.

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© UVK Verlag 2019

– ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG

Lektorat: Rainer Berger, München

Einbandgestaltung: Vanessa Seitz, Tübingen

Einbandmotiv: © ComicSans, iStock

Strichzeichnungen: © Jürg Häusermann, Tübingen

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ISBN 978-3-7398-3007-0

eISBN 978-3-7398-0178-0

für Bärbel

Prolog: Das Überschreiten der Schwelle

Mit ihren Vorlesungen über Radioaktivität hat Marie Curie Geschichte geschrieben. Sie war die erste Frau auf einem Lehrstuhl einer französischen Universität, und was sie dozierte, waren Ergebnisse aus der Spitzenforschung einer Nobelpreisträgerin. Dennoch kostete es sie jedes Mal Überwindung, vor den Studierenden oder vor einer größeren Öffentlichkeit zu sprechen. Ihr liebstes Medium waren die privaten Gespräche mit ihrem Ehemann Pierre, mit den Studierenden und ihren Kollegen. Die biografischen Quellen lassen es leicht rekonstruieren: Marie Curie war in ihrem Element, wenn im kleinen Kreis ein aktuelles Thema diskutiert wurde – und noch mehr, wenn sie mit ihrem Gatten Pierre zu zweit über „ihr geliebtes Radium“ plauderte. Aber dieselben Gedanken zu präsentieren, bedeutete für sie Stress.

So wie es ihr ging, geht es vielen. Ob es sich als Lampenfieber ausdrückt oder einfach als erhöhte Konzentration – wer auch immer sich an ein Publikum wendet, spürt den Unterschied zwischen dem alltäglichen Gespräch und der öffentlichen Rede.

Marie Curie war zwar eine gute Rednerin; schon in ihrem zweiten Jahr an der École Normale Supérieure de Sèvres hatte sie sich zu einer sehr beliebten Dozentin entwickelt. Aber sie spürte den Schritt zur öffentlichen Präsentation jedes Mal als große Herausforderung, wie ihre Tochter Eve Curie erzählt:

»Montag und Mittwoch ist Marie vom frühesten Morgen an nervös und aufgeregt. Um fünf Uhr hat sie Vorlesung. Nach Tisch schließt sie sich in dem Arbeitszimmer ihrer Wohnung ein. Sie bereitet die Vorlesung vor, notiert sich die einzelnen Abschnitte des Vortrags. Gegen halb fünf Uhr fährt sie ins Laboratorium und schließt sich wieder in dem kleinen Ruheraum ein. Sie ist unruhig, gespannt, unzugänglich. Seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren liest Marie. Und doch hat sie unweigerlich jedes Mal Lampenfieber, wenn sie vor ihren zwanzig oder dreißig Schülern in dem kleinen Vortragssaal erscheinen soll.«1

Wer vor Publikum spricht, überschreitet spürbar eine Schwelle. Er verlässt die Kommunikationsformen des alltäglichen Gesprächs und betritt einen Bereich, in dem andere Regeln gelten. Die Anforderungen an Sprache, Sprechweise und Körpersprache sind grundlegend anders, sobald man sich an eine Gruppe wendet: Es wird eine aufrechte Haltung erwartet, eine deutliche Aussprache, eine strukturierte Rede, bei der man nicht unterbrochen wird – und das sind nur einige Besonderheiten dieser Art des Redens. Sie ergeben sich aus der einfachen Tatsache, dass die Rollen der Beteiligten klar aufgeteilt sind, in einen Sprecher und eine Gruppe von Zuhörenden.

Die „Öffentlichkeit“, vor der Marie Curie Respekt hatte, bestand nicht nur in der Gruppe von zwanzig bis dreißig Studierenden, die sich „alle zusammen erhoben, wenn sie den Hörsaal betrat,“2 und die ihr kritisch folgten. Es kam der universitäre Rahmen dazu, der ihre Vorlesungen ermöglichte. Was sie sagte, wurde beobachtet und weiterverbreitet, weit über die Hochschule hinaus. Sie wusste, dass ihr Wort in der ganzen wissenschaftlichen Welt – und darüber hinaus – Aufmerksamkeit fand. Auch dies trug dazu bei, dass ihr der ganz konkrete Schritt vom Labor in den Hörsaal, vom Gespräch zur Vorlesung, schwerfiel.

Es ist dieser Übergang von der nichtöffentlichen zur öffentlichen Kommunikation, der die Faszination, aber auch die Schwierigkeiten des Redens ausmacht. Menschen, die sich in der persönlichen Begegnung problemlos behaupten, müssen große Hürden überwinden, sobald sie vor einer Gruppe von Zuhörenden stehen, weil sie fürchten, den Anforderungen, die da an sie gestellt werden, nicht zu genügen. Dieses Buch behandelt dieses Thema in zwei Teilen. Der erste beschreibt die Bedingungen und Herausforderungen des öffentlichen Redens. Der zweite Teil zeigt, wie damit praktisch umgegangen werden kann und dass bessere Resultate erzielt werden, wenn das Reden vor Publikum als Dialog verstanden wird.

Inhalt

Prolog: Das Überschreiten der Schwelle

1. Teil|Reden in der Öffentlichkeit: Was sich beim Reden vor Publikum verändert

1Eine neue Rolle, ein weiter Raum

2Die Zeit ist begrenzt

3Der Veranstalter spielt mit

4Normen von Kultur und Gesellschaft

5Reden entstehen geplant

6Das Publikum ist nie passiv

7Das Problem: Monolog statt Dialog

8Rhetorik: Die Lehre vom Reden in der Öffentlichkeit

9Das Gegenprogramm: Dialog

2. Teil|Wie aus dem Vortrag ein Dialog wird: Praxis der konstruktiven Rhetorik

Verbal|Mit Wörtern den Dialog eröffnen

10Verständlich, attraktiv, transparent

11Fragen und Antworten als Schlüssel zum Dialog

12Erzählen intensiviert den Kontakt

13Redeaufbau als Frucht der Zusammenarbeit

14Beweisen, begründen, plausibel machen

15Von der geschriebenen Sprache wegkommen

16Verständliche Sätze

17Wo sind wir eigentlich gerade? – Transparenz schafft Orientierung

18Damit alle dranbleiben: Attraktivität

19Freies Formulieren macht den Dialog leichter

Übungen|Verbal

Portionieren

Frei formulieren

Storytelling

Aussagen beleben

Metakommunikation einfügen

Paraverbal|Wie man Menschen mit der Stimme erreicht

20Sprechtraining und seine Grenzen

21Wie es klingt: Atem, Stimme, Artikulation

22So erreichen die Worte die Zuhörenden

23Das Geheimnis der Sprechhandlung

24Probleme und Lösungen bei der freien Rede

Übungen|Paraverbal

Tätscheln

Befreite Lektüre

Der hilfreiche Korken

Sinnschritte erkennen

Eine Partitur anfertigen

Sprechhandlungen nutzen

Nonverbal|Wie man mit dem Körper auf den Raum und die Menschen eingeht

25Was kommt zurück? Wie die Körpersprache den Dialog unterstützt

26Wie man auf den Raum reagiert

27Was heißt Blickkontakt mit einer ganzen Gruppe?

28Die verräterische Mimik

29Gesten, die Kontakt schaffen

Übungen|Nonverbal

Auseinandersetzung mit dem Raum (Gruppenübung)

Stehenbleiben (Einzelübung)

Sightseeing (Gruppenübung)

Gestik-Repertoire (Einzelübung)

Medial|Wie Wandtafel, Handout und Beamer den Dialog fördern

30Medienverwendung im Alltag

31Wie wir Medien im Vortrag einsetzen

32So unterstützen Medien die Rede

33Wie Vortrag und Bilder zusammenspielen

34Redner, Publikum und Medium im Raum

35Einzelne Medien, und wie man sie im Dialog einsetzt

36Vorbereitung auf den Dialog

Übungen|Medial

Texte vereinfachen

Choreografie für Flipchart/Whiteboard/Tafel

Objektpräsentation

PowerPoint-Karaoke

Epilog

Weiterführende Literatur

Anmerkungen

Personen- und Sachregister

Gender-Hinweis

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen zwischen der männlichen und der weiblichen Form abgewechselt. Leserinnen und Leser sind gleichermaßen angesprochen.

1. Teil|Reden in der Öffentlichkeit:
Was sich beim Reden vor Publikum verändert

Reden traditionell

Der erste Teil dieses Buchs macht die Herausforderungen des öffentlichen Redens erfahrbar. Im Mittelpunkt stehen die Faktoren, die die Kommunikation für Redner und Publikum erschweren:

räumliche und zeitliche Bedingungen

soziale und kulturelle Vorgaben

sprachliche, sprecherische und körpersprachliche Normen

Seit dem Jahr 2003 lädt die Universität Münster die Schulkinder der Stadt zu spektakulären Vorlesungen ein – etwa: Wie verklage ich meine Eltern auf Taschengeld? oder: Warum brennt ein Pups?3 Die Kinder verfolgen die Vorträge fasziniert. Sie schildern ihre Professoren als „schlau, aber nicht allwissend“, als „locker und lustig“.4 Dennoch sind sie nicht mit allem zufrieden. Was sie unter anderem stört, ist der Raum, in dem die Professoren zu ihnen reden. Es ist gewöhnlich der Hörsaal H1 am Münsteraner Schlossplatz, der 1.142 Sitzplätze umfasst. Pädagoginnen haben sie dazu befragt und herausgefunden: Die Kinder sind zwar von der Größe des Hörsaals beeindruckt, beklagen aber auch, dass es ihnen schwerfällt, sich aktiv zu beteiligen, und dass die Redner in dem Rahmen schlecht auf individuelle Bedürfnisse eingehen können.5


Abb. 1: Begegnung mit einem traditionellen Redner: Kinder-Uni im großen Hörsaal.

Zum einen genießen die Kinder, dass sie Vorträge besuchen können, die sonst Erwachsenen vorbehalten sind. Zum anderen legen sie auch sogleich den Finger auf den wunden Punkt: Zum ersten Mal mit einer öffentlichen Rede konfrontiert, erkennen sie, dass die Rahmenbedingungen die Kommunikation auch erschweren können. Der Einzelne verschwindet in der Masse, die Distanz zum Vortragenden ist größer als zum Lehrer in der Schule, und wenn sich jemand zu Wort meldet, verstehen ihn die anderen Zuhörenden nicht.

Die kritischen Reaktionen der Kinder sind also gar nicht überraschend. Interessant ist vielmehr, wie die Autorinnen der Studie, die selbst aus der Universität stammen, damit umgehen: Darauf, dass die Kinder bedauern, dass der Dialog erschwert ist, gehen sie gar nicht ein. Sie kommentieren es mit dem lapidaren Satz: „Dies steht aber bei der Organisationsform einer Vorlesung auch nicht im Vordergrund.“

Die Forscherinnen stammen selbst aus der Universität und sind seit ihrem Studium mit der herkömmlichen Form des wissenschaftlichen Vortrags vertraut. Diese ist für sie so selbstverständlich, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, das Feedback der Kinder ernst zu nehmen. Es könnte ja eine berechtigte Kritik sein – nicht an dem Stoff, der hier für sie aufbereitet wird, sondern an den Rahmenbedingungen. Vorträge vor großem Publikum sind gerade wegen ihrer monologischen Anordnung weniger erfolgreich als die Unterrichtsformen, die Kinden aus der Schule kennen und in denen der Dialog zentral ist. Sie macht den Dialog nicht unmöglich, aber sie erschwert ihn.

Wer erfolgreich vortragen will, muss die Rahmenbedingungen kennen, die über Jahrtausende hinweg das Reden in der Öffentlichkeit geprägt haben. Und dann geht es darum, ihnen etwas entgegenzusetzen. Die räumlichen Verhältnisse, die Zeitvorgaben, die Zielsetzungen des Veranstalters stehen einer ungezwungenen, fruchtbaren Kommunikation entgegen. Aber das ist nicht unüberwindbar. Es ist möglich, die prinzipiell monologische Situation in eine tendenziell dialogische zu verwandeln. Um dies zu erreichen, muss man aber die Ausgangslage kennen – die Vorgaben des öffentlichen Redens – und erkennen, dass sie Chancen zu einer unkonventionellen Kommunikation bieten.

Bestimmende Faktoren des öffentlichen Redens

Rollenaufteilung Redner – Publikum

Erweiterung des Raumes

zeitliche Begrenzung

formale und inhaltliche Vorgaben des Veranstalters

gesellschaftliche und kulturelle Normen

besondere Produktionsweisen bei Vorbereitung und Formulierung

eingeschränkte Beteiligung des Publikums

1Eine neue Rolle, ein weiter Raum

Öffentlich zu reden, bedeutet, in einem größeren Raum zu reden. Dies ergibt sich aus der einfachen Tatsache, dass sich eine einzelne Person an eine Gruppe von Menschen wendet. Sie braucht deshalb einige Meter Abstand und die Zuhörenden brauchen alle ihren Platz. Oft werden diese Bedingungen noch verschärft: Eine Rednertribüne, ein Lehrerpult oder eine Bühne sorgt für die Sicht- und Hörbarkeit. Stühle, Bänke, Sitzreihen richten die Zuhörenden auf die wichtigste Person im Raum aus. Auch in informellen Situationen ist es weithin üblich, dass ein Redner sich vom Sitz erhebt und die Menschen, die ihn hören sollen, im Stehen anspricht, auch wenn diese selbst sitzen. Indem er aufsteht und einen besonderen Standort einnimmt, setzt er ein Zeichen. Er erhöht aber auch die Verständlichkeit und zeigt Respekt für die um ihn Versammelten. Wer sitzen bleibt, gilt schnell als unhöflich, auch wenn es als Zeichen der Bescheidenheit oder der Originalität gemeint ist.

In vielen Fällen sind für öffentliche Reden spezielle architektonische Räume geschaffen worden. In Parlamentsgebäuden, Gerichtssälen, Kirchen, oder Schulzimmern bestimmen starre architektonische Vorgaben, wo der Redner steht und wo die Zuhörenden sitzen: Es gibt das Podium, die Kanzel, das Katheder. Diese Wörter allein lassen an bestimmte Arten des Redens denken: Podiumsredner, Kanzelwort, Kathederweisheit etc.

Dass der Raum sich weitet, hat zu bestimmten Verhaltensformen geführt, insbesondere was die Körpersprache betrifft. Vieles, was Redner intuitiv tun – wie sie sich bewegen, wie sie dastehen, welche Gesten sie ausführen – sind durch die Distanz zum Publikum zu erklären, die zur traditionellen öffentlichen Rede gehört, auch wenn diese in vielen Fällen längst aufgehoben ist.

Honoré Daumier hat dies illustriert, als er Mitte des 19. Jahrhunderts Anwälte karikierte. Es war die französische Julimonarchie, eine Zeit der Skandale und sozialen Missstände. In der Serie Les gens de justice zeichnete er zwei Advokaten, die sich noch auf ihren Auftritt vorbereiten. Der eine ordnet seine Halsbinde, der andere schlüpft gerade in den Talar. Die Art ihres Gesprächs ist aus diesen privaten Handlungen, aus der Mimik, aber auch schon allein aus der Nähe der beiden Figuren erkenntlich. Sie werden gleich gegnerische Parteien vertreten; aber eigentlich sind sie Kumpel und vertrauen sich an, was sie wirklich von der Sache denken.


Abb. 2: Honoré Daumier: Zwei Anwälte vor ihrem Auftritt in kollegialem Gespräch.6

Ein anderes Bild zeigt die beiden in der Hitze des rhetorischen Gefechts. Dem plädierenden Anwalt ist anzusehen, dass er zu einem ganzen Saal spricht. Man ahnt die große Lautstärke, auch die Gestik ist für die Wirkung im Raum ausgelegt. Mit seiner Körperhaltung, leicht nach hinten gedehnt, vergrößert er sogar noch die Distanz zum gegnerischen Anwalt, der den indignierten Kollegen spielt.


Abb. 3: Honoré Daumier: Der Anwalt beim Plädoyer.7

Dieser drastische Unterschied zwischen nichtöffentlicher und öffentlicher Rede gilt auch in vielen anderen Situationen – sogar bei einfachen Vorträgen. Der Redner ist exponiert und weiß um die Sichtbarkeit seines körperlichen Ausdrucks. Das verleitet die einen zu besonders deutlichen Gesten, andere hemmt es. In den meisten Fällen ist das Repertoire aber im Vergleich zur Alltagskommunikation reduziert, auf einige wenige Formen beschränkt.

Auch das Verhalten des Publikums wird durch die räumliche Einrichtung geleitet. Die Menschen werden auf eigens angeordnete Sitze verwiesen. Das gibt die Blickrichtung vor und fördert damit die Aufmerksamkeit. Es schränkt aber auch ihre Beweglichkeit ein. Zwischen anderen Zuhörenden eingepfercht, ist man zu einer ruhigen, wenn nicht gar starren Haltung gezwungen. In einem gewissen Sinn isoliert die räumliche Anordnung den Redner; sie verstärkt den Eindruck der Distanz zwischen ihm und dem Publikum.

Die Raumverhältnisse beim öffentlichen Reden beeinflussen auch die akustische Gestaltung. In hohen und weiten Räumen entsteht ein starker Hall – ein Effekt, der beim nichtöffentlichen Gespräch in kurzer Distanz kaum eine Rolle spielt. Wer dagegen im Freien redet, spürt, dass der Nachhall fast völlig fehlt und sich die Stimme leicht verflüchtigt. In beiden Fällen ist die sprecherische Kommunikation grundsätzlich erschwert. Deshalb hat sich eine redetypische Sprechweise entwickelt; Menschen klingen anders, sobald sie „öffentlich“ werden. Da lauter gesprochen werden muss, sind längere Pausen zwischen Satzteilen oder gar Wörtern erforderlich. Dies führt meistens zu einer gleichförmigen Betonung. Und auch wenn heutzutage Mikrofone und Verstärkeranlagen eingesetzt werden, ist diese typische Festredner-Sprechweise noch immer nicht ausgerottet.

Der Einfluss des Raums

größere Distanz des Redners zum Publikum

reduzierte Bewegungsmöglichkeiten des Publikums

vereinfachte, auf Deutlichkeit ausgerichtete Körpersprache

lautes, gleichförmiges Sprechen

Deshalb ist sie auch in weniger offiziellen Situationen erkennbar, sobald jemand die Ebene des nichtöffentlichen Redens verlässt und gleichsam symbolisch den Raum weitet. Körperhaltung und Sprechweise zeigen dies ebenso wie ein Rückgriff auf ein respektableres Vokabular.

Ich kauere mit meinem kleinen Sohn im Sandhaufen und wir sprechen unsere vertraute Familiensprache. Rings um uns und mit uns spielen andere Kinder. Da tut Andreas etwas, das meinen Erziehungsprinzipien widerspricht und ein kurzes erzieherisches Gespräch erfordert. Aber ich weiß: Wir stehen unter der Beobachtung aufmerksamer schwäbischer Mütter und Väter. Also richte ich mich auf, erhebe meine Stimme und weise ihn zurecht. Ich werde für alle, die in der Nähe sind, hörbar und ich verwende einige festgefügte Wendungen, die die Gesellschaft für solche Fälle entwickelt hat. „Das tut man nicht!“ – „Reiß dich zusammen!“ – „Wird's bald?“8

Dass ich mich aufrichte, lauter rede und solche festen Redewendungen gebrauche, zeigt: Ich rede im Bewusstsein, dass andere Leute zuhören. Ich rede so, als ob das Gespräch von diesen Zuhörenden kontrolliert würde. Die Redesituation wird etwas geöffnet; die Redeabsicht verändert sich, die Rede scheint an Wichtigkeit zu gewinnen. Öffentlichkeit im soziologischen Sinne wird da zwar nicht hergestellt.9 Für die praktische Rhetorik aber ist das Bild eines konkreten Raums hilfreich, in dem sich die Distanzen zwischen den Beteiligten vergrößern, sobald einer von ihnen die Rolle des Redners annimmt. Unsere Kommunikation wird für andere zugänglich – ein erster Grad des Veröffentlichens. Und generell wird damit gerechnet, dass die Inhalte der Rede weitergetragen werden und über das anwesende Publikum hinaus wirken. Dies gilt für die Kinder-Uni ebenso wie für die Vereinsversammlung. Die Anwesenden werden das Gehörte weiterverbreiten, in der Familie, in anderen sozialen Gruppen. Deshalb werden die Redner in ihrem Verhalten dadurch bestimmt, dass mehr Resonanz möglich ist als im Alltagsgespräch.

Rhetorik ist die Lehre vom öffentlichen Reden in diesem Sinne: vom Reden, wenn der Raum sich weitet und die Rollen in Redner und Publikum aufgeteilt sind. Man sieht und hört es einem Menschen an, wenn er seine private Redeweise verlässt und – je nach Typ – doziert oder referiert oder predigt. Er begibt sich auf Distanz, nimmt eine neue Rolle an und verhält sich nach anderen Normen.

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