Ein Lebenstraum

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Ein Lebenstraum
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Ein Lebenstraum

Roman

von

Julie Burow


Inhaltsverzeichnis

Erster Teil.

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel.

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Dreizehntes Kapitel.

Vierzehntes Kapitel.

Fünfzehntes Kapitel.

Sechszehntes Kapitel.

Siebzehntes Kapitel.

Achtzehntes Kapitel.

Neunzehntes Kapitel.

Zwanzigstes Kapitel.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Vierundzwanzigstes Kapitel.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Zweiter Teil.

Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Achtundzwanzigstes Kapitel.

Neunundzwanzigstes Kapitel.

Dreißigstes Kapitel.

Einunddreißigstes Kapitel.

Zweiunddreißigstes Kapitel.

Dreiunddreißigstes Kapitel.

Vierunddreißigstes Kapitel.

Fünfunddreißigstes Kapitel.

Sechsunddreißigstes Kapitel.

Siebenunddreißigstes Kapitel.

Achtunddreißigstes Kapitel.

Neununddreißigstes Kapitel.

Vierzigstes Kapitel.

Einundvierzigstes Kapitel

Zweiundvierzigstes Kapitel.

Dreiundvierzigstes Kapitel

Vierundvierzigstes Kapitel.

Fünfundvierzigstes Kapitel.

Dritter Teil.

Sechsundvierzigstes Kapitel.

Siebenundvierzigstes Kapitel.

Achtundvierzigstes Kapitel.

Neunundvierzigstes Kapitel.

Fünfzigstes Kapitel.

Einundfünfzigstes Kapitel

Zweiundfünfzigstes Kapitel.

Dreiundfünfzigstes Kapitel.

Vierundfünfzigstes Kapitel.

Fünfundfünfzigstes Kapitel.

Sechsundfünfzigstes Kapitel

Impressum

Erster Teil.
Erstes Kapitel.

In Tilsit war großer Ball. Der glänzendste im Jahr. Der Pferdemarkt, dies Ereignis im Leben der ostpreußischen Landbesitzer, versammelt in der Mitte des November alle in der hübschen Kreisstadt.

Viele Polen und Russen finden oder fanden sich, zur Zeit, da unsere Erzählung beginnt, dann auch dort ein. Ein reges Leben herrscht auf wenige Tage in allen Straßen; der Schluss desselben ist eben jener Ball, zu welchem die Hallen des alten Schlosses am Niemen aufs Beste geschmückt waren, während aus der langen Reihe seiner gotischen Bogenfenster ein voller Lichtstrom dem Wagen entgegenstrahlte, der eben dumpf rollend über die Zugbrücke fuhr.

Die Insassen desselben waren ein Herr und zwei Damen, von denen die eine eben nicht besonders platziert war, da sie, rückwärts sitzend, vor dem niederrieselnden, eiskalten, mit Schnee gemischten Regen nur durch ihr Mäntelchen und ihre Kapuze geschützt wurde; denn der Wagen hatte nicht die Bequemlichkeit eines Hinterverdeckes. Da indes die Fahrt vor der erleuchteten Halle des Schlosses ein Ende hatte, so war die Sache zu ertragen, besonders für ein fünfzehnjähriges Kind, das zum ersten Mal im Leben die Herrlichkeit eines Balles schauen sollte. Wie ihr das Herz schlug, der Kleinen! Man hätte es gegen die rosenrote Schärpe klopfen sehen können, wenn irgendein Auge sich die Mühe genommen, unter das graue Mäntelchen zu schauen, das leicht über den einfachen Ballputz geworfen war.

»Zieh’ die Füße zurück, Lorchen«, sagte der Herr auf dem Vordersitz, indem er seine auffallend lange Gestalt aus verschiedenen winterlichen Hüllen herauswickelte, und während er den Kopf unter dem Verdeck hervorstreckte, bemerkte er, ebenso neu als geistreich:

»Es ist ein erbärmliches Wetter!«

Dagegen ließ sich nichts einwenden. Die Damen schwiegen also und ließen sich die Kavalierdienste ihres Begleiters gefallen, die mit ziemlicher Gewandtheit geleistet wurden. Dann reichte er mit einer echten Ehemanns-Gleichgültigkeit der einen den Arm, und Lorchen folgte dem Paare durch die hallenden Korridors über eine breite, hell beleuchtete, mit Tannenzweigen und Papierblumen geschmückte Treppe, bis zu einer Tür, über der mit großen gotischen Buchstaben geschrieben stand:

»Damengarderobe.«

Wer auch nur fünfzig Schritt durch eine nordische Novembernacht gefahren, muss, wenn er sich im Lichte zeigen will, zuvor seine Kleidung ordnen.

Die beiden Damen legten also ihre Hüllen ab und die Ältere rollte lange, rabendunkle Locken noch einmal über ihre schlanken Finger, und ließ sie dann auf eine Stirn niedersinken, die, weiß und leer wie ein Blatt Postpapier, ein Gesicht von seltener Regelmäßigkeit krönte. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr zu ihrer vollen Herzensbefriedigung, dass niemand ihr die achtundzwanzig Jahre ansehen konnte, die sie nun schon seit vier Wintern zählte und dass ihr neues Kleid von amaranthfarbigem Satin ihr vortrefflich stand. Auch Lorchen sah verstohlen in den Spiegel, und während sie mit einer auffallend kleinen bräunlichen Hand die aschfarbigen Haare glättete, wollen wir versuchen, das Bild zu beschreiben, das sie darin er blickte.

Es war das eines schlanken Mädchens, das kleiner erschien als es war, weil alle Glieder, im allervollkommensten Ebenmaße stehend und mit der leichtesten Anmut bewegt, den Eindruck des feinen Zierlichen auf den Beschauer hervorbrachten. Das Gesicht – ja schön war es nicht, dazu war die Stirn zu hoch, die Lippe zu schmal, die samtene Wange, welche der Scheitel so hübsch umschloss, zu bräunlich. Nur das Auge hätte der ärgste Tadler für schön, für wunderbar schön erklären müssen, dies Auge tief und dunkelblau, wie das Bild des Himmels, das uns aus den ruhenden Wellen des Meeres entgegenschaut. Eine eigene Zierde für das liebreizende Kind waren auch die prächtigen Flechten von der seltensten Färbung und die blendend weißen Zähnchen, die sich aber fast gänzlich hinter die feinen Lippen versteckten.

 

Es lag etwas in dem Gesichte des jungen Mädchens, das Teilnahme erweckte, das leise erzählte, wie diese schönen Augen sich schon im Weinen geübt, diese sanften Lippen schon im Schmerz gebebt hatten.

Jetzt freilich lächelten sie gar fröhlich, und in den Augen glänzte das Feuer der Erwartung. Ein Ball, ein großer glänzender Ball! Welche Vorstellungen verbindet die Phantasie eines jungen Mädchens mit diesem Worte, und Lorchen gehörte zu denjenigen, deren Phantasie einige Ähnlichkeit mit den Rossen am Wagen des weiland verstorbenen Ikarus haben.

»Seid Ihr fertig?« fragte der Begleiter, den Kopf in die Tür steckend, als Lorchen eben noch einen ganz fröhlichen Blick auf den Rosenknospenkranz heftete, der die ungewöhnliche Höhe ihrer Stirn etwas verminderte.

»Wir kommen!« antwortete seine Frau, und nach einer Minute stand Lorchen zum ersten Mal in einem hell erleuchteten Ballsaale.

Eine Flut von Licht, ein Meer von Feuer, strömten ihr blendend entgegen. Um die Säulen, welche die Decke trugen, drehten sich geschmückte Paare im einfachen deutschen Walzer. Die hellblauen Uniformen der Dragoner-Offiziere von der Besatzung kontrastierten seltsam mit den schwarzen Fracks der Zivilisten und den goldgestickten Krägen der Herren vom Landstande. Lorchen befand sich im Mittelpunkte einer märchenhaften Pracht, oder eigentlich befand sich der Mittelpunkt derselben in ihr, in ihrem frischen phantasiereichen, nach Glück und Genuss durstenden fünfzehnjährigen Herzen, und als sie nun gar in den Armen eines stattlichen jungen Mannes in Landstands-Uniform dahinflog, getragen von jener sanften Musik, deren ganzen Zauber nur der Deutsche kennt, da wogte in ihr ein Strom von Vergnügen, ihre Augen leuchteten, ihre Wangen glühten. Das kleine Mädchen, das in einsamen Stunden so düster, so traurig aussehen konnte, war schön, nicht wie ein Engel oder Seraph, sondern wie ein reizendes Weib. Ein ältlicher rotwangiger Herr, dem man es am Schnitt seiner Weste ansehen konnte, dass er im Alltagsanzuge seine eigne, aus Stallgeruch, Tabaksdampf und den Dünsten des Maischbottichs zusammengesetzte Atmosphäre mit sich herumtrug, fasste seinen Nachbar, einen großen blassen Mann von ganz städtischer Tournüre am Rockknopf und fragte so laut, dass alle Umstehenden es hörten:

»Wer zum Teufel, Justizrat, ist das hübsche Mädchen, das dort eben mit dem Baron von Kandern walzt? Die dort rechts, mit dem Rosenkranz und dem Füßchen, das man wie einen jungen Vogel in der hohlen Hand halten könnte.«

»Freut mich, dass sie Ihnen gefällt, Herr Ober-Inspektor, es ist niemand anders als die Nichte meiner Frau, Leonore Arnold«, entgegnete der Gefragte mit einem eigentümlichen Lächeln.

»Was, was, na unmöglich, doch nicht die Tochter von Ihrer Frauen Schwester, die mit dem Schauspieler Arnold davonging? Na unmöglich! Mir ist, als wenn die Geschichte, die die ganze Welt halb toll machte, erst gestern geschehen wäre. Ah, ein Sakkermentskerl war der Arnold, und ihre Schwägerin war ein hübsches Ding zu ihrer Zeit.«

»Sie ist ihre Tochter«, entgegnete der Justizrat mit einigem Ernst, »und wir haben sie seit sechs Wochen zu uns genommen, weil sie in den Umgebungen, wo sie aufwuchs, wahrscheinlich zugrunde gegangen wäre. Die Mutter starb vor sechs Jahren. Damals schon wollten meine verstorbenen Schwiegereltern das Kind haben, aber der Vater verweigerte es ihnen! Jetzt hat er sich anders besonnen. Er schrieb selbst an uns und trug uns das Mädchen an. Er hat zum zweiten Mal geheiratet, die Stiefmutter ist auch Schauspielerin, Prima-Donna einer in der Mark irgendwo vagabundierenden Truppe, und mag die erwachsene Tochter als keine sehr angenehme Zugabe betrachtet haben. Wir nahmen sie natürlich, wir sind kinderlos, meiner Frau ist die Gesellschaft und gelegentliche Aushilfe des Mädchens bei häuslichen Arbeiten angenehm, und meiner Schwiegermutter letzter Wunsch geht in Erfüllung; denn sie starb, indem sie uns bat, das Kind ihrer ältesten Tochter nicht aus den Augen zu lassen.«

»Ich habe sie gekannt! Ich habe sie gekannt, die wackere alte Dame«, sagte der Ober-Inspektor mit trübem Kopfnicken. »Sie hat es nie vergessen können, dass ihre Älteste, ihr Stolz, ihres Herzens Liebling sich zu einem Gespött gemacht hatte. Und der Oberst, der ehrliche Haudegen! Wissen Sie, Justizrat, ich war noch halb und halb ein Junge, kaum zwanzig Jahre alt, als Anna von Korff den Teufelsstreich machte, aber Gott strafe mich, ich habe geweint, als ich den alten Soldaten sah, dem man sein Bestes, sein Kind, geraubt hatte.«

»Kannten Sie den Schauspieler Arnold, Herr Ober-Inspektor?«

»Hm ja! So halb und halb, hab’ ihn auf dem Theater gesehen, auch ein paarmal in der Weinstube drüben! Er spielte Heldenrollen und so die – wie nennt man sie – die Schändlichen, die in den Stücken vorkommen. Es war nichts Besonderes an dem Kerl zu sehen, er hatte nicht einmal eine rechte Figur, ich bin wenigstens gute zwei Zoll größer als er, aber reden konnte er wie ein Buch.«

»Vielleicht auch aus einem Buch«, sagte der Justizrat mit seinem gewöhnlichen Lächeln, das zwei Reihen blendender sehr großer Zähne entblößte.


Zweites Kapitel.

Das junge Mädchen, die Veranlassung dieses Gesprächs, stand während desselben am obern Ende des Saales neben ihrem stattlichen Tänzer.

»Sie sind zum ersten Mal in dieser Gesellschaft, mein Fräulein?« fragte derselbe, seinen hübschen Kopf zu ihr neigend.

»Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben auf einem Ball.«

»Und doch eine so graziöse Tänzerin!«

»Ich weiß nicht, ob ich das bin, mein Herr, aber ich denke, das wäre kein besonderer Vorzug; tanzen mein’ ich, kann jeder, der Atem holt und noch vieles, was das nicht einmal tut; tanzen doch Ball und Kreisel und das Geldstück oder der Knopf, den Sie auf dem Tisch einmal drehen, und wie heißt’s in dem Liedchen:

›O – der unnennbaren Seligkeit

Unter der Hörner Getön

Traulich in süßer Umschlungenheit

Sich wie die Sphären zu dreh’n!‹«

Baron Kandern warf einen erstaunten Blick auf das glühende Angesicht seiner Tänzerin. Wo in aller Welt hatte das junge Geschöpf mit den Sternenaugen das anstößige Zitat her? Aber in diesen Augen lag nichts, nichts als vollständige Unschuld und eine leuchtende funkelnde Freude, die seltsamerweise für den Beobachter etwas Rührendes, fast Schmerzendes hatte.

»Sie sind in dieser Gegend nicht heimisch?« begann er von Neuem zu fragen, doch Leonore deutete mit dem Finger auf das ihnen vortanzende Paar, das sich eben zur neuen Tour anschickte; Kandern legte seinen Arm um ihre feine Taille und dahin flogen sie; mit ihrer Tour war auch der Tanz beendet, Leonore musste ihrem Tänzer die Antwort auf seine Frage schuldig bleiben. – – –

Eine Nacht des Vergnügens verfliegt wie Champagner-Schaum, auch Lorchens erste Ballnacht war vorüber, sie hatte jenen unruhigen, von Tanzmusik durchbrausten, von Träumen durchwebten Schlaf gehabt, der einer solchen zu folgen pflegt, und stand bleich und mit abgespannten Nerven am Fenster ihres kleinen Stübchens. Der Schnee wirbelte in dichten großen Flocken um die Giebel und Dächer der Häuser, die sie von dort sehen konnte. Es war ein Teil der Hinterfronte der Hauptstraße, und wie anders sah sie aus als ihre Vorderseite. Blinde Fenster ohne Gardinen, Hoftüren, aus der schlumpige Mägde den Kehricht gleich an die baufällige Treppe geworfen, um sich den Weg bis zur Düngergrube zu sparen, die wenige Schritte davon entfernt, jetzt vom Schnee mit einer zarten Decke überwebt wurde. Ställe, aus denen Vieh hervorbrüllte und rechts dicht neben ihr, der Hof eines Schlächters, in dem eine Blutlache noch rot durch den Schnee schimmerte und an Leinen und Stäben in hässlichen Girlanden, die Gedärme verschiedener Tiere aufgehängt waren. Es lief ein Grauen durch des jungen Mädchens Glieder bei diesem Anblick.

»O wie unangenehm«, dachte sie, »sieht doch das ganze Leben von seiner Kehrseite aus, und wie viel wahrer ist die eigentlich, als die vordere. Hier zeigen sich die Menschen, wie sie sind, dort, wie sie uns scheinen wollen. An jedem Hofe sieht man, was für Leute das Haus bewohnen. Pfui, wie garstig! So garstig wie – der Tag nach einem Ball.«

Sie setzte sich matt auf den Stuhl am Fenster und stützte den Kopf in die Hand.

Er war wüst und brannte.

»Kann man sich noch auf einen Ball freuen, wenn man weiß, wie hässlich einem den Tag darauf zumute ist? Gewiss, ich möchte niemals mehr tanzen, niemals! Wie ein Spuk kommt mir die gestrige Aufregung und Luft vor.«

Sie wandte sich vom Fenster ab. Auf der Kommode ihres Stübchens lag der Rosenknospenkranz, der ihr gestern so ausnehmend gefallen.

»Rotgefärbte Zeugläppchen und grünes Papier«, flüsterte sie vor sich hin, »die schlechtesten Lappen, die es gibt, kann man zu Blumen der Art verarbeiten. Ja! eine Rose, eine wirkliche Rose! Die ist schön, sie duftet, sie lebt, und eine Hand voll Veilchen! Ha, wer die jetzt hätte! Blauveilchen, Kinderaugen des lieben Waldes, wann werdet ihr euch wieder öffnen und mich anlächeln?«

In diesem Augenblick klopfte man an ihre Tür und auf ihr: »Herein!« erschien ein Diener in grauer silbergestickter Livree und fragte:

»Hab’ ich die Ehre, Fräulein Leonore Arnold vor mir zu sehen?«

»Ja«, entgegnete die Kleine ziemlich betreten.

»Eine Empfehlung an Sie, mein Fräulein, ich habe den Befehl, das hier abzuliefern.«

Er setzte dabei einen Zentifolienstock, dessen Knospen sich eben röteten, ein über und über blau blühendes Töpfchen Winterveilchen und eine Anthemis, deren Sternblumen von geschlagenem Golde zu sein schienen, an das Fenster und war verschwunden, ehe Lorchen auch nur hätte fragen können, wer ihn beauftragt und für wen diese schönen Blumen bestimmt? Sie standen vor ihr, in aller Pracht ihrer natürlichen Schönheit, als ob die Feen sie auf ihren Wunsch hergesandt. O die Veilchen! Die herzigen Veilchen! Lorchen hätte in lauten Jubel ausbrechen mögen über ihren Frühlingsduft und ihr Maigrün und das Blau ihrer Blütchen.

»Wie die Augen meiner sel’gen Mutter«, dachte sie, als sie sich wieder und wieder über ihre Lieblinge beugte und plötzlich fielen ein paar glänzende Tränenperlen auf die grünen Blätter, sie hingen daran wie Tautropfen, und Lorchen bemerkte jetzt erst, dass zwischen denselben ein Papierstreifen stak. Sie zog ihn hervor.

»Der Blume, die Blumen!« stand darauf geschrieben. –

Lorchen war das Kind eines Schauspielers, aber es war der Wille ihres Vaters gewesen, dass sie nie das Theater besucht. Ebenso entschieden hatte derselbe sie ferngehalten von gewöhnlicher Roman-Lektüre.

Er selbst hatte sie dagegen frühzeitig bekanntgemacht mit der klassischen Literatur Deutschlands, nicht im Zusammenhang, nicht in durchdachter Reihenfolge, sondern ruckweise, wie eine seltsam wechselnde Laune ihn antrieb. –

Das fünfzehnjährige Mädchen hatte viel und nur Gutes gelesen, und ihre Lektüre, mehr noch ihr früh schon bewegtes Leben, hatte sie zu eigenem Denken geführt! In ihr arbeiteten und wogten tausend verschiedene Kräfte. Wie das Innere jener Wundergrotte in Capris Felsen, war das ihrige ein unbekanntes, fast unzugängliches Prachtwerk der Natur. Himmel und Meer und die leuchtenden Brillanten von tausend und wieder tausend Gedanken lagen still und verschwiegen in ihr und niemand ahnte, dass die schroffe Felswand dieser noch unentwickelten Jungfräulichkeit einen solchen Schatz verberge.

»O wie schön! Wie schön!« musste sie wieder und wieder sagen, während Trän’ um Trän’ auf die Blumen, auf das Papierblättchen, auf den eignen jungen Busen fielen.

Es war neun Uhr morgens. Justizrat Delbruck, ihr Onkel, hatte sich schon vor einer halben Stunde in sein Geschäftslokal begeben, wohin Lorchen ein für alle Mal ihm selbst das Frühstück bringen musste. Er hatte das seit dem zweiten Tage ihrer Anwesenheit in seinem Hause so verlangt und Lorchen, mit jenem dem Weibe angeborenen Instinkt zu sorgen, zu schaffen, zu pflegen, fand Vergnügen daran, dem Onkel alles so hübsch und nett als möglich zu machen.

Justizrat Delbruck, der gesuchteste Rechts-Anwalt Tilsits war ein Gourmand. Sein Frühstück besonders war seine Lieblingsmahlzeit, er liebte es in der Einsamkeit eines Arbeitszimmers ein Täubchen, ein Hühnchen zu speisen und ein Glas Pontac dazu zu genießen. Mitten in der freudigen Rührung, die jene Blumen ihr verursachten, durchzuckte Lorchen der Gedanke an den Onkel.

 

Sie lief in die Küche. Das gebratene Vögelchen stand schon bereit und roch höchst appetitlich. Lorchen stellte alles, was zu dem kleinen leckeren Mahl gehörte, zierlich und sorglich auf ein Teebrett und ging damit die Treppe hinab ins Arbeitszimmer.

»Wie seltsam es ist«, dachte sie dabei, »dass alles in der Welt schön und hässlich aussehen kann, je nachdem man es stellt und anordnet. Wie hässlich könnten diese Speisen, diese Flasche mit dem Glase aussehen, wenn ich nun alles durcheinander würfe. Was mag’s nur eigentlich sein, das die Schönheit hervorbringt? O wie angenehm und wohltuend ist das, was man unter Schönheit versteht!«

Sie klopfte mit leichtem Finger an des Onkels Sanktuarium, das nie der Fuß einer Magd betreten durfte, da Wurmser, der Schreiber, das Amt hatte, das Zimmer zu reinigen. Delbruck öffnet mit eigener Hand. Sein gewöhnliches, gar nicht schönes Lächeln blitzte über sein Gesicht. Er beugte sich, sah dem jungen Mädchen ins Auge, legte ihr die Finger unters Kinn und fragte mit einem eigenen Ausdruck:

»Wie ist der Ball bekommen, Fräulein Lorchen, mein Püppchen?«

Ein seltsames Gefühl rann leise, aber rasch durch alle Glieder des Mädchens. Sie konnte nicht gleich antworten, weil sie sich erst besinnen musste, wie es nur zuginge, dass des Onkels Berührung ihr stets die nämliche unangenehme Empfindung erweckte. Es war, als ob eine Raupe sich auf ihre Hand niederließe – Lorchen liebte die Raupen gar nicht.

»Nun, Kleine?«

»Wahrhaftig, Onkelchen, ich weiß nicht, mir war heute recht hässlich zumute, so hässlich, dass ich dachte, ich wollte in meinem Leben nicht mehr tanzen, nicht dass ich unwohl oder müde wäre, behüte!– siehe nur, ich kann noch prächtig tanzen«, und dabei drehte sie sich, das Teebrett in der Hand haltend, graziös auf einem Fuße um und machte einen allerliebsten Menuetten-Knix,– »aber innerlich war mir’s gar nicht behaglich, ich hätte weinen können, über gar nichts, ja ich habe sogar geweint.«

»Das nennt man moralischen Katzenjammer, Liebchen«, sagte der Justizrat und führte dabei das Kind, ohne dass sie eigentlich wusste wie, nach dem kleinen Sofa, auf das er sie mit einer leichten Handbewegung niederdrückte.

»Nun iss mit mir, Leonore«, fügte er dann hinzu, »hier trink’ aus meinem Glase, der Wein, den so frische Mädchenlippen kredenzen, schmeckt noch einmal so gut.«

Lorchen nippte und Delbruck schlürfte den Rest, mit seinen Lippen genau die Stelle berührend, an der das Mädchen getrunken. Justizrat Delbruck war ein Mann von etwa fünfzig Jahren. Er musste sehr hübsch gewesen sein. Figur, Haltung und Sprache hatten ein gewisses vornehmes sich Gehenlassen, das ihm vortrefflich stand. Sein Haar war noch voll und lockte sich leicht über eine Stirn, die jetzt wohl höher als vor zwanzig Jahren sein mochte. Sein Mund war hübsch, er mochte in jüngeren Jahren zu denen gehört haben, die man mit Kirschen zu vergleichen pflegt. Jetzt lag etwas Schlaffes um denselben und sein Lächeln war durchaus nicht schön, ja es hatte für Lorchen geradehin etwas Furchterweckendes, denn es zeigte die goldene Vernietung der falschen Zähne, vor denen der Kleinen ein wenig graute. Alle seine Züge waren regelmäßig, die Augen braun und länglich und sie pflegten sich, wenn er lächelte, zu schließen, so dass unter den bleichen, gesenkten Lidern der Blick wie ein Blitz aus Wolken, wie eine funkelnde Kohle aus einem tiefen Schlot hervorzuleuchten schien. Seine Gesichtsfarbe war bleich und schwammig, und seine Hand, die er eben in Lorchens weißen Nacken legte, feucht.

»Iss mit mir, Liebchen«, sagte er sehr leise und sich, als ob er ihr ein wichtiges Geheimnis anvertraue, an Lorchens Ohr neigend.

»Danke, Onkelchen, ich habe gar keinen Appetit.«

»Du siehst so nachdenkend aus, Leonore, was fehlt Dir, Mädchen?«

»Nichts, Onkel, ich dachte nur wirklich nach, ich dachte daran, weshalb Sie wohl in dieser Stube so sehr, sehr viel freundlicher gegen mich sind, als an jedem andern Orte, man möchte glauben, es läge in diesen vier Wänden ein Feenzauber.«

»Freut Dich meine Freundlichkeit, reizendes Geschöpfchen?«

»Aufrichtig gesagt, mein lieber Onkel, und darüber mache ich mir Gewissensbisse, Sie sind doch der Mann von meiner lieben sel’gen Mutter einziger Schwester, Sie sind mein Wohltäter und doch mag ich lieber, wenn Sie mich ganz und gar nicht ansehen, als wenn Sie mir so nahe rücken und mir die Hand aufs Kinn oder in den Nacken legen, ich denke eben nach, woher das kommen mag?«