»Beruhigen Sie sich, lieber Zorn«, begann der Amerikaner. »Wollten Sie mir freundlichst alle in den Salon folgen, wo der Kaffee aufgetragen ist? Dort können wir in Ruhe plaudern, und nach Schluss unseres Gesprächs …«
»Erwürge ich Sie!« fiel ihm Sébastien Zorn ins Wort.
»Nein … Sie werden mir die Hände küssen …«
»Ich werde Ihnen gar nichts küssen!« polterte der Violoncellist, der vor Wut einmal blass und einmal blaurot wurde.
Kurze Zeit darauf haben sich’s die Gäste Calistus Munbars auf weichen Sofas bequem gemacht, während sich der Yankee auf einem Schaukelstuhle wiegt.
Hier stellt er sich nun seinen Gästen formgerecht in folgender Weise vor:
»Calistus Munbar, aus New York, fünfzig Jahre alt, Urenkel des berühmten Barnum,1 zurzeit Oberintendant der Künste auf Standard Island, verantwortlich für alles, was Malerei, Skulptur, Musik und im Allgemeinen alle Unterhaltungen in Milliard City angeht. Da Sie mich nun kennen, meine Herren …«
»Sind Sie«, fragt Sébastien Zorn, »nicht zufällig auch Polizeispitzel mit der Verpflichtung, fremde Leute in Fallen zu locken und sie darin wider ihren Willen zurückzuhalten?«
»Übereilen Sie sich mit meiner Beurteilung nicht, Sie reizbares Violoncell, und warten Sie erst das Ende ab.«
»Wir wollen warten«, erwidert Frascolin ernsten Tones, »warten und Sie anhören.«
»Meine Herren«, nimmt Calistus Munbar, sich eine graziöse Haltung gebend, wieder das Wort, »ich wünsche mit Ihnen bei dem jetzigen Gespräch nur die musikalische Frage zu erörtern, so wie diese zurzeit auf unserer Schraubeninsel liegt. Theater besitzt Milliard City allerdings noch nicht, doch wenn es das wollte, würden solche wie durch Zauberschlag aus ihrem Boden aufwachsen. Bisher haben unsere Mitbürger ihre musikalischen Bedürfnisse durch vervollkommnete Apparate befriedigt, wodurch sie über dramatische und lyrische Meisterschöpfungen auf dem laufenden erhalten wurden. Wir hören die alten und neuen Komponisten, die Tagesgrößen der Schauspielkunst, die beliebtesten Künstler mittels der Phonographen, wann und so oft es uns gefällt …«
»Eine Drehorgel, Ihr Phonograph!« warf Yvernes verächtlich ein.
»Doch nicht in der Weise, wie Sie das glauben mögen, mein Herr erster Violinist«, antwortet der Oberintendant. »Wir besitzen Apparate, die mehr als einmal die Indiskretion begangen haben, Ihnen zu lauschen, wenn Sie sich in Boston oder Philadelphia hören ließen. Wenn es Ihnen Spaß macht, können Sie sich hier mit eigenen Händen applaudieren.«
Jener Zeit haben die Erfindungen des berühmten Edison2 nämlich den höchsten Grad der Vollendung erreicht. Der Phonograph ist keineswegs mehr der Musikkasten oder die Spieldose, dem und der er ursprünglich gar zu sehr glich. Dank seinem geistvollen Erfinder bewahrt er jetzt das ephemere Talent der Schauspieler, Instrumentisten oder Sänger für die Bewunderung kommender Geschlechter mit der gleichen Treue auf, wie die Werke der Bildhauer und Maler aufbewahrt bleiben. Ein Echo etwa ist der Apparat geworden, doch ein Echo, treu wie eine Fotografie, das alle Nuancen, alle Feinheiten des Gesanges oder Spiels in unveränderter Reinheit wiedergibt.
Calistus Munbar ergeht sich hierüber mit solcher Wärme, dass es auf seine Zuhörer einen tiefen Eindruck macht.
Er spricht von Saint-Saëns, von Reyer, Ambroise Thomas, von Gounod, Massenet und Verdi, von den unvergänglichen Meisterwerken eines Berlioz, Meyerbeer, Halévy, Rossini, Beethoven und Mozart wie ein Mann, der alle aus dem Grunde kennt, sie zu schätzen weiß und der sich schon lange Zeit bemüht hat, ihren Ruhm noch zu verbreiten, sodass man ihm mit Vergnügen zuhört. Von der schon etwas ablaufenden Wagnerepidemie scheint er jedoch nicht besonders gelitten zu haben.
Als er einmal aussetzt, um Atem zu schöpfen, macht sich Pinchinat die Pause gleich zunutze.
»Das ist ja alles ganz schön und gut«, sagt er; »Ihr Milliard City hat aber nie etwas anderes gehört als Schachtelmusik, als konservierte Melodien, die man ihr wie konservierte Sardinen oder Salt-beef zusendet …«
»Verzeihen Sie, Herr Bratschist …«
»Ja, ja, ich verzeihe Ihnen, bleibe aber doch dabei, dass Ihre Phonographen immer nur Dagewesenes enthalten, dass in Milliard City niemals ein Künstler in dem Augenblick der Ausübung seiner Kunst gehört werden kann …«
»Da möchte ich noch einmal um Verzeihung bitten.«
»Unser Freund Pinchinat verzeiht Ihnen gewiss so oft, wie Sie es wünschen«, bemerkt Frascolin. »Sein Einwurf ist aber dennoch richtig. Ja, wenn Sie sich mit den Theatern Amerikas und Europas in unmittelbare Verbindung setzen können …«
»Halten Sie das für unmöglich, lieber Frascolin?« ruft der Oberintendant, der die Bewegungen seines Schaukelstuhles hemmt.
»Sie behaupten das wirklich?«
»Ich sage nur, dass das ausschließlich eine Geldfrage ist, und unsere Stadt ist reich genug, um sich alle Liebhabereien, jedes Verlangen bezüglich der lyrischen Kunst gewähren zu können. Das ist auch bereits geschehen …«
»Aber wie?«
»Mittels der Theatrophone, die im Konzertsaale des Kasinos aufgestellt sind. Die Gesellschaft besitzt ja zahlreiche unterseeische Kabel, die den Großen Ozean durchziehen und von denen das eine Ende an der Madeleinebai ausläuft und das andere durch unsere großen Bojen schwimmend erhalten wird. Wünscht nun einer unserer Mitbürger einen Sänger der Alten oder Neuen Welt zu hören, so fischt man eines jener Kabel auf und benachrichtigt telefonisch die Beamten an der Madeleinebai. Diese stellen dann die Verbindung mit Europa oder Amerika her. Man verbindet die Drähte oder Kabel mit dem oder jenem Theater, dem oder jenem Konzertsaale, und unsere, hier im Kasino weilenden Dilettanten wohnen den entferntesten Aufführungen bei und applaudieren …«
»Ja, da draußen hört man ihre Beifallsbezeugungen aber gar nicht!« ruft Yvernes.
»Da muss ich um Verzeihung bitten, lieber Herr Yvernes, gewiss hört man sie mittels einer vorhandenen Rückleitung.«
Hierauf verliert sich Calistus Munbar in transzendentale Erörterungen über die Musik nicht allein als Kunst, sondern auch als therapeutisches Agens. Nach dem Systeme J. Harfords, von der Westminster-Abtei, haben die hiesigen Milliardäre mit der Ausnützung der lyrischen Künste schon ganz erstaunliche Erfolge erzielt. Dieses System gewährleistet ihnen einen Zustand vollkommener Gesundheit. Die Musik übt eine Reflexwirkung auf die Nervenzentren aus, die harmonischen Vibrationen helfen zur Erweiterung der arteriellen Gefäße und beeinflussen den Blutumlauf, den sie nach Bedarf beschleunigen oder verlangsamen. Sie bewirkt eine Anregung der Herztätigkeit und der Atembewegungen je nach Klangfarbe und Intensität des Tones, wobei sie gleichzeitig die Ernährung der Gewebe unterstützt. Deshalb hat man in Millard-City auch Einrichtungen getroffen, durch die beliebige Mengen musikalischer Energie auf telefonischem Wege in die Einzelwohnungen geleitet werden können.
Das Quartett hört ihm mit offenem Munde zu. Noch nie hat es über seine Kunst von medizinischem Standpunkte aus reden gehört, und wahrscheinlich ist es darüber nicht gerade entzückt. Nichtsdestoweniger geht der fantastische Yvernes sofort auf diese Theorien ein, die übrigens – man denke an den berühmten Harfenisten David – bis zurzeit des Königs Saul zurückreichen.
»Jawohl, jawohl! …« ruft er nach der letzten Tirade des Oberintendanten, »das ist ganz richtig. Es gehört nur eine gute Diagnose dazu! Wagner und Berlioz z.B. sind indiziert für anämische Konstitutionen …«
»Gewiss, und Mendelssohn oder Mozart für sanguinische Temperamente, bei denen sie das Strontiumbromür vorteilhaft ersetzen!« fügt Calistus Munbar hinzu.
Da mischt sich Sébastien Zorn ein und schleudert einen rauen Missklang in diese hochfliegende Plauderei.
»Um alles das handelt es sich gar nicht«, ruft er barsch. »Warum haben Sie uns überhaupt hierhergeführt?«
»Weil die Saiteninstrumente es sind, die grade die mächtigste Wirkung ausüben.«
»Wirklich? Also um Ihre männlichen und weiblichen Nervenkranken zu beruhigen, haben Sie unsere Reise unterbrochen, uns verhindert, in San Diego einzutreffen, wo wir morgen ein Konzert geben sollen …«
»Ja, ja, deshalb, meine vortrefflichen Freunde!«
»Und Sie erblickten in uns nichts anderes, als musikalische Karabiner, als lyrische Apotheker?« ruft Pinchinat.
»O nein, meine Herren«, versichert Calistus Munbar sich erhebend. »Ich betrachtete Sie nur als Künstler von großem Talent und weitreichendem Renommee. Die Hurras, die dem Konzert-Quartett bei seinen Reisen durch Amerika entgegendröhnten, sind auch bis zu unserer Insel gedrungen. Da glaubte die Standard Island Company den Zeitpunkt gekommen, die Phonographen und Theatrophone einmal durch wirkliche Virtuosen mit Fleisch und Bein ersetzen und den Milliardesern den unbeschreiblichen Genuss einer unmittelbaren Vorführung der Meisterwerke der Kunst verschaffen zu sollen. Sie wollte dabei und vor der Errichtung eines Opernorchesters mit der Kammermusik den Anfang machen. Dabei dachte sie an Sie, die hervorragendsten Vertreter dieser Musikgattung, und mir gab sie den Auftrag, Sie um jeden Preis hierherzuschaffen, im Notfalle, Sie zu entführen. Sie sind also die ersten Künstler, die in Standard Island auftreten werden, und ich überlasse es Ihnen, sich auszudenken, welcher Empfang Ihnen bevorsteht!«
Yvernes und Pinchinat fühlen sich von den enthusiastischen Worten des Oberintendanten tief ergriffen. Dass die Geschichte auf eine Mystifikation3 hinauslaufen könnte, kommt ihnen gar nicht in den Sinn. Der mehr überlegende Frascolin fragt sich, ob dieses Abenteuer wirklich ernst zu nehmen sei. Doch warum sollte auf dieser ganz außergewöhnlichen Insel nicht auch alles andere ein außergewöhnliches Aussehen haben? Nur Sébastien Zorn beharrt dabei, sich nicht zu ergeben.
»Nein, mein Herr«, ruft er, »man bemächtigt sich fremder Leute nicht in dieser Weise ohne deren Einwilligung! … Wir werden gegen Sie Klage erheben …«
»Klage … wo Sie, Undankbare, mir tausendmal danken sollten?« erwidert der Oberintendant.
»Und es wird uns eine Entschädigung zugesprochen werden, mein Herr …«
»Eine Entschädigung … wo ich Ihnen hundertmal mehr zu bieten habe, als Sie erhoffen könnten …«
»Um was handelt es sich?« fragt der praktische Frascolin.
Calistus Munbar zieht sein Portefeuille hervor und entnimmt ihm ein Blatt Papier mit dem Stempel von Standard Island, das er den vier Künstlern vor Augen hält.
»Ihre vier Unterschriften unter diesen Kontrakt«, sagt er, »und die ganze Angelegenheit ist geregelt.«
»Etwas unterschreiben, ohne es gelesen zu haben?« antwortet die zweite Violine. »Das geschieht nie und nirgends!«
»Sie dürften aber keine Ursache haben, es zu bereuen«, fährt Calistus Munbar fort, der jetzt so heiter wird, dass er von oben bis unten wackelt. »Doch meinetwegen, gehen wir ordnungsmäßig zuwege. Hier habe ich einen Engagementsvertrag, den die Kompanie Ihnen anbietet, ein Engagement für ein Jahr von heute ab, das Sie verpflichtet zur Aufführung derselben Kammermusikstücke, die Ihre Programme in Amerika enthielten. Nach zwölf Monaten wird Standard Island an der Madeleinebai zurücksein, und Sie werden da zeitig genug eintreffen …«
»Für unser Konzert in San Diego, nicht wahr?« ruft Sébastien Zorn, »für San Diego, wo man uns mit Pfeifen empfangen wird …«
»Nein, meine Herren, mit Hips und Hurras! Künstler wie Sie zu hören, fühlen sich alle Leute gar zu geehrt und sind glücklich, wenn sich solche hören lassen … selbst mit einem Jahre Verspätung!«
Mit einem solchen Mann soll einer nun etwas anfangen!
Frascolin ergreift das Blatt und durchliest es aufmerksam.
»Ja, welche Garantie wird uns geboten?« fragte er.
»Die Garantie der Standard Island Company, bestätigt durch die Unterschrift unseres Gouverneurs, des Herrn Cyrus Bikerstaff.«
»Und die Bedingungen sind genau so, wie sie hier stehen?«
»Ganz genau, also eine Million Francs …«
»Für uns vier!« fällt Pinchinat ein.
»Für jeden einzelnen«, antwortet Calistus Munbar lächelnd, »und diese Summe steht noch außer Verhältnis zu Ihren Verdiensten, die doch niemand voll zu bezahlen vermöchte!«
Liebenswürdiger kann einer doch nicht wohl sein. Dennoch erhebt Sébastien Zorn Widerspruch. Er will um keinen Preis annehmen, sondern unbedingt nach San Diego abreisen, sodass Frascolin große Mühe hat, seine Entrüstung zu dämpfen.
Er will um keinen Preis annehmen.
Gegenüber dem Angebote des Oberintendanten erscheint indes etwas Misstrauen am Platze. Ein Engagement auf ein Jahr mit dem Honorar von einer Million Francs für jeden der Künstler … durften sie das ernst nehmen? Ja, ganz ernst, wie Frascolin versichern konnte, als er fragte: »Und das Honorar ist zahlbar? …«
»Vierteljährlich, und hier bringe ich es für die ersten drei Monate.«
Aus ganzen Stößen von Bankscheinen, die sein Portefeuille zum Platzen füllen, formt Calistus Munbar vier Pakete mit je fünfzigtausend Dollar oder zweihundertfünfzigtausend Francs, die er Frascolin und dessen Kameraden einhändigt.
Das ist so ein amerikanisches Geschäftsverfahren.
Nun geht die Sache dem Sébastien Zorn doch etwas näher. Da die schlechte Laune bei ihm aber niemals ihre Rechte aufgibt, bemerkt er weiter:
»Ganz schön; doch bei dem Preise, in dem auf Ihrer Insel alles steht und wo man fünfundzwanzig Francs für ein Rebhuhn bezahlt, da wird man jedenfalls hundert Francs für ein Paar Handschuhe und fünfhundert Francs für ein Paar Stiefel anlegen müssen?«
»O, Herr Zorn, die Kompanie legt auf solche Kleinigkeiten kein Gewicht«, erklärt Calistus Munbar, »und sie wünscht, dass die Künstler des Konzert-Quartetts während ihres hiesigen Aufenthalts von allen Nebenkosten frei bleiben.«
Womit konnte man auf ein so großmütiges Angebot anders antworten, als mit der Namensunterschrift unter den Kontrakt?
Frascolin, Pinchinat und Yvernes bequemen sich dazu ohne Zögern. Nur Sébastien Zorn brummt, dass das Ganze ein Unsinn sei, sich auf einer beweglichen Insel einzuschiffen, das habe keinen Verstand … man werde schon sehen, wie die Geschichte endigen würde usw. – Schließlich ließ er sich aber doch herbei, mit zu unterzeichnen.
Wenn Frascolin, Pinchinat und Yvernes nach Erfüllung dieser Formalität dem Calistus Munbar auch nicht die Hände küssten, so drückten sie sie ihm wenigstens herzlichst. Vier Händedrücke, jeder zu einer Million!
So ließ sich das Konzert-Quartett also auf ein Abenteuer sondergleichen ein, und unter genannten Umständen wurden die vier Künstler die Gäste – inviti – Standard Islands.
1 Phineas Taylor Barnum (1810 – 1891) war ein US-amerikanischer Zirkuspionier und Politiker. <<<
2 Nach Joseph Swan und Thomas Edison, die zunächst die Glühbirne unabhängig voneinander entwickelt und dann ab 1883 gemeinschaftlich arbeiteten. <<<
3 Verschleierung, Verdunkelung <<<
Standard Island gleitet sanft über das Wasser des Stillen Ozeans, der zu dieser Jahreszeit seinem Namen alle Ehre macht. An diese ruhige Fortbewegung seit vierundzwanzig Stunden gewöhnt, bemerken Sébastien Zorn und seine Kameraden gar nicht, dass sie weitersegeln. So mächtig die Hunderte, von zehn Millionen Pferdekräften bewegten Schrauben auch sind, verbreiten sie durch den metallnen Unterbau der Insel doch kaum ein leises Zittern. Milliard City bleibt unbewegt und spürt auch nichts von dem Seegange, dem sonst die größten Panzerschiffe der Kriegsmarine unterliegen. In den Wohnungen oder auf den Schiffen benützt man hier keine Schwebelampen. Wozu auch? Die Häuser von London, Paris oder New York stehen auf ihrem Grund ja auch nicht fester und sicherer.
Nach mehrwöchigem Aufenthalt in der Madeleinebai hatte der Rat der Notabeln von Standard Island, den der Präsident zusammenrief, das Programm für die Jahresreise entworfen. Die Schraubeninsel sollte die hauptsächlichsten Inselgruppen des östlichen Stillen Ozeans besuchen, und zwar inmitten jener hygienischen Atmosphäre, die so reich an Ozon, an verdichtetem Sauerstoff ist, der durch Elektrisierung weit wirksamere Eigenschaften besitzt, als der gewöhnliche Sauerstoff der Luft. Da der ganze Apparat völlig frei beweglich ist, zieht er daraus Nutzen, und so begibt er sich auf Wunsch nach Westen oder nach Osten, nähert sich der Küste Amerikas, wenn es ihm beliebt, oder streift nach Gefallen längs der Ostküsten Asiens dahin. Standard Island geht, wohin es will, und macht sich seine Seefahrt so angenehm wie möglich. Selbst wenn es ihm beliebte, den Stillen Ozean gegen den Atlantischen Ozean zu vertauschen, wenn es um das Kap Hoorn oder das Kap der Guten Hoffnung segeln wollte, bräuchte es nur die betreffende Richtung einzuschlagen, und weder Strömungen noch Stürme würden ihm hinderlich sein, sein Ziel zu erreichen.
Es kommt jedoch gar nicht infrage, jene entfernten Meere aufzusuchen, wo das Juwel des Stillen Ozeans das nicht finden würde, was dieser Ozean ihm inmitten seiner endlosen Inselgruppen bietet. Hier ist Raum genug, um die verschiedensten Fahrten zu unternehmen. Die Propeller-Insel kann von einem Archipel zum anderen segeln. Ist sie auch nicht mit dem Instinkt der Tiere begabt, diesem sechsten Sinne der Orientierung, der jene dahinführt, wohin ihre Bedürfnisse sie rufen, so wird sie dafür von sicherer Hand und nach einem Programm geführt, das lange vorher erwogen und einstimmig angenommen worden war. Bisher ist es hierüber zu keiner Meinungsverschiedenheit zwischen den Bewohnern des Steuerbords und des Backbords gekommen.
Augenblicklich steuert man entsprechend einem gefassten Beschlusse nach Westen auf die Gruppe der Sandwichinseln zu. Bei mäßiger Schnelligkeit wird die Zurücklegung der Zwölfhundertmeilen-Strecke, die jene Inselgruppe von der Stelle trennt, wo das Quartett sich einschiffte, etwa binnen einem Monat zurückgelegt werden, bis es Standard Island beliebt, einen anderen Archipel der südlichen Halbkugel anzulaufen.
Am Morgen dieses denkwürdigen Tages verlässt das Quartett das Exzelsior-Hotel und richtet sich häuslich in einigen, ihm zur Verfügung gestellten Zimmern des Kasino ein – natürlich in einer geräumigen, prächtig ausgestatteten Wohnung. Vor deren Fenstern zieht sich die First Avenue hin. Sébastien Zorn, Frascolin, Pinchinat und Yvernes haben jeder sein eigenes Zimmer an den Seiten des gemeinschaftlichen Salons. Der Hof des Etablissements gewährt ihnen angenehmen Schatten durch seine in voller Belaubung stehenden Bäume, und Kühlung durch seine plätschernden Springbrunnen. An der einen Seite dieses Hofes liegt das Museum von Milliard City, an der anderen der Konzertsaal, wo die Pariser Künstler die Echos der Phonographen und die Übertragungen der Theatrophone so glücklich ersetzen. Täglich zwei-, drei- oder so viele Male, wie sie es wünschen, wird ihnen im Rstaurant aufgetragen, wonach es ihnen gelüstet, ohne dass der Oberkellner ihnen seine fast unglaublichen Rechnungen dafür vorlegt.
Als sie an diesem Morgen noch im Salon beisammen waren, ehe sie sich zum Frühstück hinunterbegaben, fragte Pinchinat:
»Nun, ihr Violinen, was sagt ihr nun darüber, wie es uns ergangen ist?«
»O, es ist ein Traum«, antwortete Yvernes, »ein Traum, in dem wir für eine Million für das Jahr befangen bleiben …«
»Nein, es ist die reine, schöne Wirklichkeit«, erwiderte Frascolin. »Suche nur in deiner Tasche, und du wirst das erste Viertel der Million schon entdecken.«
»Wenn man nur wüsste, wie die Sache ausläuft … Meiner Ansicht nach ganz schlecht«, ruft Sébastien Zorn, der unbedingt Dornen in dem Rosenbette, worauf man ihn gelegt hat, finden will.
»Und übrigens unser Gepäck? …«
Ja freilich, das Gepäck musste in San Diego ausgeliefert sein, von wo es nicht zurückkommen konnte, und die Eigentümer es auch nicht zu holen imstande waren. Im ganzen machte das nicht viel aus: einige Reisesäcke mit Leibwäsche, Toilettegegenständen, Kleidern zum Wechseln und das offizielle Kostüm der Künstler, wenn sie öffentlich auftraten … das war alles.
Darüber brauchten sie sich jedenfalls nicht zu beunruhigen. Binnen achtundvierzig Stunden war diese etwas abgenutzte Garderobe durch eine andere ersetzt, die man den vier Künstlern zur Verfügung stellte, ohne dass sie fünfzehnhundert Francs für einen Anzug oder fünfhundert Francs für ihre Stiefeletten zu bezahlen gehabt hätten.
Höchst befriedigt, diese peinliche Angelegenheit zu so gutem Ende geführt zu haben, macht es sich Calistus Munbar zur Pflicht, bei dem Quartett gar keinen Wunsch erst aufkommen zu lassen. Einen zuvorkommenderen Oberintendanten konnte man sich gar nicht vorstellen. Er bewohnte ebenfalls Räumlichkeiten des Kasinos, dessen einzelne Abteilungen unter seiner Leitung stehen, und die Kompanie honoriert ihn dafür in einer Weise, wie es seiner Würde entspricht. Die Summe wollen wir lieber verschweigen.
Das Kasino enthält auch Lese- und Spielsäle; Baccarac, Trente et quarante, Roulette, Poker und andere Hazardspiele sind aber strengstens untersagt. Man findet hier ferner ein Rauchetablissement,1 von wo auch durch eine unlängst gegründete Gesellschaft der Rauch von präpariertem Tabak unmittelbar in die Wohnungen geleitet wird. Dieser Rauch, der in der Hauptanstalt in großen Brennöfen hergestellt und von allem Nikotin befreit wird, steht durch Röhren, die in Bernsteinmundstücken endigen, jedem Liebhaber zur Verfügung. Man braucht daher nur die Lippen anzulegen und ein Zählwerk registriert den täglichen Verbrauch.
Ein Rauchetablissement
In dem Kasino, wo die Musikfreunde sich an den Tönen aus weiter Ferne berauschen können, woneben jetzt auch noch die Konzerte des Quartetts stattfinden, befinden sich endlich die Sammlungen von Milliard City. Liebhabern der Malerei bietet das an alten und neuen Bildern reiche Museum zahlreiche, für hohe Preise erstandene Meisterwerke der italienischen, holländischen, deutschen und französischen Schule, um die es die Sammlungen von Paris, London, München, Rom und Florenz beneiden könnten, Gemälde von Raphael, da Vinci, Giorgione, Correggio, Dominiquin, Ribeira, Murillo, Ruysdael, Rembrandt, Rubens, Cuyp, Frans Hals, Hobbema, Van Dyck, Holbein u.a., sowie unter den Modernen von Fragonard, Ingres, Delacroix, Scheffer, Cabat, Delaroche, Regnaut, Couture, Meissonier, Millet, Rousseaux, Jules Duprè, Brascassat, Makart, Turner, Troyon, Corot, Daubigny, Baudry, Bonnat, Car. Duran, Jules Lefebvre, Volton, Breton, Binet, Yon, Cabanel usw. Um ihnen eine ewige Dauer zu sichern, sind die Gemälde in völlig luftleeren Glasbehältern untergebracht. Zu bemerken ist, dass die Impressionisten, die Futuristen und ähnliche in dieses Museum noch keinen Eingang gefunden haben, das wird aber wahrscheinlich nicht lange so fortdauern, und Standard Island dürfte einem Einfalle der niedrigeren, verfallenden Kunst auch nicht mehr entgehen. Das Museum enthält ferner Statuen von hohem Werte, Marmorarbeiten der größten alten und neuem Bildhauer, die im Hofe des Kasinos Aufstellung fanden. Dank dem hier herrschenden Klima ohne Regen und Nebel können Gruppen, Statuen und Büsten der Witterung ganz gefahrlos ausgesetzt bleiben. Dass alle diese Wunder viele Besucher fänden, dass die Nabobs von Milliard City ausgesprochenen Geschmack für die Werke der Kunst bewiesen, dass bei ihnen künstlerischer Sinn besonders entwickelt wäre, möchten wir nicht gerade behaupten. Zu bemerken wäre höchstens, dass die Steuerbordhälfte mehr Liebhaber zählt als die Backbordhälfte. Alle sind dagegen völlig einig, wenn es sich um die Erwerbung eines Meisterstückes handelt, und dann sind ihre unvergleichlichen Gebote stets imstande, solche jedem Herzog von Aumale, jedem Chauchard der Alten und der Neuen Welt zu entwinden.
Am meisten besucht sind im Kasino die Lesezimmer mit den Revuen, den europäischen und den amerikanischen Zeitungen, die die Dampfer von Standard Island, welche den regelmäßigen Dienst zwischen diesem und der Madeleinebai versehen, immer herschaffen. Wenn sie durchblättert, gelesen und wieder gelesen sind, kommen sie nach den Regalen der Bibliothek, wo mehrere tausend Bücher stehen, die ein mit fünfundzwanzigtausend Dollar besoldeter Bibliothekar in Ordnung hält, und er ist vielleicht der Beamte der Insel, der am wenigsten zu tun hat. Die Bibliothek enthält auch eine Anzahl phonographischer Bücher; damit erspart man sich die Mühe des Lesens, man drückt nur auf einen Knopf und hört sofort die Stimme eines vortrefflichen Vortragenden, so als ob Legouvé etwa Racines »Phädra« laut vorläse.
Was »örtliche« Zeitungen angeht, so werden diese in den Ateliers des Kasinos unter der Aufsicht zweier Chefredakteure gesetzt und gedruckt. Die eine ist das »Standard-Chronicle« für die Steuerbordstadt, die andere, der »New Herald«, für die Backbordstadt. Die Chronik beider Blätter bringt verschiedene Nachrichten, berichtet über die Ankunft der Paketboote, über Vorkommnisse auf dem Meere und Begegnungen mit Schiffen, ferner Handelsnachrichten für die Kaufleute, die täglichen Bestimmungen der Länge und Breite, die Entscheidungen der Notabelnversammlung, die Verordnungen des Gouverneurs und die Vorkommnisse auf dem Standesamte: Geburten, Eheschließungen, Todesfälle – von letzteren nur sehr wenige. Diebstähle oder gar Mordtaten kommen nicht vor, die Gerichte haben nur mit Zivilangelegenheiten, höchstens mit Streitigkeiten unter einzelnen zu tun. Artikel über Hundertjährige sieht man niemals, weil die Erreichung eines so langen Lebens hier kein Privilegium einzelner ist.
Was die ausländische Politik angeht, hält man sich durch die Mitteilungen von der Madeleinebai auf dem laufenden, wo die in den Tiefen des Stillen Ozeans versenkten Kabel Landanschluss haben. Die Milliardeser sind auf diese Weise über alles unterrichtet, was auf der ganzen Welt vorgeht, wenn das nur irgend von größerem Interesse ist. Wir bemerken hierbei auch, dass das »Starboard-Chronicle« und der »New Herald« sich gegenseitig nicht mit rauen Händen anfassen. Bisher haben sie sich wenigstens gut vertragen, obwohl niemand dafür stehen kann, dass sich das nicht einmal ändern könnte. Bei großer Toleranz und weitgehender Nachsichtigkeit auf religiösem Gebiete, bestehen Protestantismus und Katholizismus auf Standard Island friedlich nebeneinander. In Zukunft, wenn sich vielleicht die hässliche Politik mit einmengt, wenn Geschäftsinteressen die oder jene mehr aufreizen, wenn bei irgendwelchen Fragen die Eigenliebe wachgerufen wird … wer weiß?…
Außer diesen beiden Tagesblättern gibt es noch Wochen- und Monatsblätter, die Artikel aus fremden Zeitungen wiedergeben, wie die der Nachfolger eines Sarcey, Charmes, Fournel, Deschamps, Fouquier, France und anderer Kritiker von hohem Ansehen. Dazu erscheinen illustrierte Magazine, ohne ein Dutzend anderer Blätter zu rechnen, die, für einzelne Kreise bestimmt oder des Abends auf den Straßen ausgeboten, die gewöhnlichen kleinen Nachrichten bringen. Sie haben keinen anderen Zweck, als einen Augenblick zur Unterhaltung zu dienen, den Geist und … sogar den Magen anzuregen. Ja, einzelne sind wirklich auf eine Art Kuchenteig mit Schokoladentinte gedruckt. Hat man sie gelesen, so verzehrt man sie als erstes Frühstück, dabei wirken die einen mehr stärkend, die anderen etwas schwächend, und der Körper befindet sich dabei ganz wohl. Das Quartett hält diese Erfindung für ebenso bequem als praktisch.