Die Abenteuer des Kapitän Hatteras

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Aus der Reihe: Jules Verne bei Null Papier #15
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»Kei­ner rührt sich vom Platz!« rief der Kom­man­dant in stren­gem Ton. »Je­der an sei­nen Pos­ten!«

Eine Luftspiegelung

»Mei­ne Freun­de, ha­ben Sie doch kei­ne Angst«, sag­te der Dok­tor; »’s ist kei­ne Ge­fahr! Se­hen Sie, Kom­man­dant, se­hen Sie, Herr Wall, ’s ist eine Luft­spie­ge­lung, nichts wei­ter!«

»Sie ha­ben recht, Herr Cla­w­bon­ny«, ver­setz­te Meis­ter John­son; »die­se Leu­te ha­ben sich aus Un­wis­sen­heit durch ein Luft­ge­bil­de ängs­ti­gen las­sen.«

Auf die Wor­te des Dok­tors wa­ren die meis­ten der Ma­tro­sen her­bei­ge­kom­men, und ihre Furcht ver­wan­del­te sich in Be­wun­de­rung die­ses merk­wür­di­gen Phä­no­mens, wel­ches als­bald er­losch.

»Sie nen­nen das Luft­spie­ge­lung!« sag­te Clif­ton, »nun, der Teu­fel steckt doch et­was dar­in­nen, Ihr könnt mir’s glau­ben.«

»Ganz ge­wiss«, er­wi­der­te ihm Grip­per.

Aber als sich der Ne­bel ein we­nig zer­klüf­te­te, er­blick­te der Kom­man­dant eine große und freie Fahr­stra­ße, die er nicht ver­mu­tet hat­te. Er be­schloss un­ver­züg­lich die­sen güns­ti­gen Fall zu be­nut­zen; die Leu­te wur­den auf bei­den Sei­ten des Fahr­was­sers auf­ge­stellt, es wur­den ih­nen star­ke Taue ge­reicht, und sie be­gan­nen das Schiff in nörd­li­cher Rich­tung zu zie­hen.

Stun­den­lang wur­de die­ses Ma­nö­ver eif­rig, ob­wohl schwei­gend, aus­ge­führt; Shan­don hat­te die Öfen hei­zen las­sen, um den glück­li­cher­wei­se ent­deck­ten Kanal zu be­nut­zen.

»Es ist ein güns­ti­ger Zu­fall«, sag­te er zu John­son, »und wenn wir nur ei­ni­ge Mei­len noch vor­wärts­kom­men kön­nen, wer­den wir viel­leicht am Ende un­se­rer Müh­sal sein! Herr Br­un­ton, hei­zen Sie stär­ker, und so­bald der Dampf hin­ri­chend sein wird, las­sen Sie mich es wis­sen. Wenn in­zwi­schen un­se­re Leu­te wie­der mehr Mut ge­win­nen, ist das ein eben­so großer Ge­winn. Sie ei­len sich, vom Teu­fels­dau­men weg­zu­kom­men! Nun, so be­nut­zen wir die­se gute Stim­mung.«

Auf ein­mal wur­de der Zug der Brigg plötz­lich ge­hemmt.

»Was gibt es?« frag­te Shan­don. »Wall, sind un­se­re Schlepp­taue zer­ris­sen?«

»Nein, Kom­man­dant«, er­wi­der­te Wall, in­dem er sich über das Ge­län­der neig­te. »Ei! Da kom­men un­se­re Leu­te zu­rück, klet­tern auf das Schiff; sie schei­nen von ei­nem son­der­ba­ren Schre­cken be­fal­len!«

»Was gibt es denn?« rief Shan­don, auf das Vor­der­teil stür­zend.

»An Bord! An Bord!« schri­en die Ma­tro­sen in ärgs­tem Schre­cken.

Shan­don blick­te nach Nor­den hin, und Schau­dern be­fiel ihn wi­der Wil­len.

Ein selt­sa­mes Tier, mit sprü­hen­der Zun­ge und rie­sen­haf­tem Sch­lund, sprang mit gräss­li­chen Be­we­gun­gen eine Ka­bel­län­ge vom Schiff ent­fernt; es schi­en über zwan­zig Fuß hoch zu sein, mit strup­pig star­ren­den Haa­ren; es ver­folg­te die Ma­tro­sen und stürz­te auf sie zu, wäh­rend es mit furcht­ba­rem, zehn Fuß lan­gem Schwanz den Schnee feg­te und in dich­ten Wir­beln auf­reg­te.

Beim Er­bli­cken ei­nes sol­chen Un­ge­heu­ers wur­den auch die Un­ver­zag­tes­ten von ei­si­gem Schre­cken be­fal­len.

»’s ist ein Bär!« sag­te der eine.

»’s ist der Wehr­wolf!«

»Der Löwe in­der Apo­ka­lyp­se!«

Shan­don hol­te ei­ligst aus sei­ner Ka­bi­ne einen stets ge­la­de­nen Re­vol­ver; der Dok­tor griff rasch zu sei­ner Waf­fe, um auf das Tier zu feu­ern, des­sen Grö­ße an die Vier­füß­ler der Ur­zeit er­in­ner­te.

Es kam mit un­ge­heu­ren Sprün­gen nä­her; Shan­don und der Dok­tor feu­er­ten zu­gleich, und es zeig­te sich plötz­lich durch die Er­schüt­te­rung der Luft­schich­ten eine un­er­war­te­te Wir­kung.

Als der Dok­tor ge­nau hin­sah, konn­te er nicht um­hin, laut auf­zu­la­chen.

»Die Strah­len­bre­chung!« sag­te er.

»Die Strah­len­bre­chung!« rief Shan­don.

Aber da­zwi­schen fürch­ter­li­che Angst­ru­fe aus der Mann­schaft:

»Der Hund!« rief Clif­ton.

»Der Ka­pi­tän Hund!« wie­der­hol­ten sei­ne Ka­me­ra­den.

»Er ist es!« rief Pen. »Im­mer noch der Hund!«

Es war wirk­lich der Hund, dem es ge­lun­gen war, sei­ne Ban­de zu zer­rei­ßen und durch eine an­de­re Öff­nung wie­der auf die Ober­flä­che des Eis­fel­des zu ge­lan­gen. In die­sem Au­gen­blick war durch die Re­frak­ti­on,1 – eine un­ter die­sen Brei­ten­gra­den ge­wöhn­li­che Er­schei­nung – sei­ne Ge­stalt in furcht­ba­ren Ver­hält­nis­sen an­ge­wach­sen. Die­se Täu­schung war zwar durch die Luf­ter­schüt­te­rung be­sei­tigt, aber es blieb doch eine schlim­me Wir­kung auf die Ge­mü­ter der Ma­tro­sen, wel­che we­nig fä­hig wa­ren, die Er­klä­rung der Tat­sa­che aus rein phy­si­schen Grün­den gel­ten zu las­sen. Das Aben­teu­er des Teu­fels­dau­mens, das Wie­de­rer­schei­nen des Hun­des un­ter so fan­tas­ti­schen Um­stän­den, mach­ten sie vollends in ih­rer Hal­tung irre, und lau­tes Mur­ren ließ sich auf al­len Sei­ten hö­ren.

1 Bre­chung (von Licht­strah­len) <<<

Zwölftes Kapitel – Der Kapitän Hatteras

Der For­ward drang mit Damp­fes­kraft zwi­schen den Eis­fel­dern und Eis­ber­gen rasch vor­wärts. John­son hielt selbst das Steu­er. Shan­don un­ter­such­te mit sei­ner Schnee­bril­le den Ho­ri­zont; aber sei­ne Freu­de dau­er­te nicht lan­ge, denn er er­kann­te bald, dass man am Ende des Fahr­pas­ses sich rings von Ber­gen um­ge­ben fand.

Doch zog er den Schwie­rig­kei­ten ei­ner Um­kehr das Miss­li­che ei­ner Fort­set­zung der Fahrt vor.

Der Hund lief auf der Eis­flä­che hin­ter der Brigg her, aber in ziem­li­cher Ent­fer­nung. Da hör­te man, wenn er zu­rück­b­lieb, ein ei­gen­tüm­li­ches Pfei­fen, wor­auf er so­gleich zu­rück­kehr­te.

Als sich die­ses Pfei­fen zum ers­ten Mal hö­ren ließ, sa­hen sich die Ma­tro­sen um; sie wa­ren al­lein auf dem Ver­deck und be­rie­ten zu­sam­men; kein Frem­der, kein Un­be­kann­ter; und doch ver­nahm man das Pfei­fen ei­ni­ge Mal.

Clif­ton wur­de zu­erst un­ru­hig.

»Hö­ren Sie?« sag­te er. »Und se­hen Sie, wie das Tier springt, wenn es pfei­fen hört.«

»Das ist ganz un­glaub­lich«, er­wi­der­te Grip­per.

»Jetzt sind wir fer­tig!« rief Pen. »Wei­ter gehe ich nicht.«

»Pen hat recht«, ver­setz­te Br­un­ton, »das heißt Gott ver­su­chen.«

»Den Teu­fel ver­su­chen«, er­wi­der­te Clif­ton. »Lie­ber geb’ ich mei­nen gan­zen Teil an der Prä­mie hin, als dass ich noch einen Schritt wei­ter­ge­he.«

»Wir kom­men nicht wie­der zu­rück«, sag­te Bol­ton nie­der­ge­schla­gen.

Die Mann­schaft war im höchs­ten Gra­de ent­mu­tigt.

»Nicht einen Schritt wei­ter!« rief Wol­s­ten. »Seid ihr ein­ver­stan­den?«

»Ja! Ja!« er­wi­der­ten die Ma­tro­sen.

»Nun denn«, sag­te Bol­ton, »so ge­hen wir zum Kom­man­dan­ten; ich über­neh­me es mit ihm zu re­den.«

Die Ma­tro­sen gin­gen in dich­ten Hau­fen aufs Hin­ter­deck zu.

Der For­ward kam eben an eine große kreis­run­de Stel­le von etwa acht­hun­dert Fuß Durch­mes­ser; sie war voll­stän­dig rings ver­sperrt, mit Aus­nah­me ei­nes ein­zi­gen Aus­wegs, wel­chen man ge­kom­men war.

Shan­don be­griff, dass er sich selbst ein­ge­sperrt hat­te. Aber was nun an­fan­gen? Wie zu­rück­keh­ren? Er fühl­te sei­ne gan­ze Verant­wort­lich­keit; es ball­te sich ihm die Faust.

Der Dok­tor schau­te mit ge­kreuz­ten Ar­men, ohne ein Wort vor­zu­brin­gen. Er sah die Eis­wän­de an, de­ren Höhe durch­schnitt­lich drei­hun­dert Fuß be­tra­gen moch­te. Dich­ter Ne­bel la­ger­te über die­sem Ab­grund.

In die­sem Au­gen­blick re­de­te Bol­ton den Kom­man­dan­ten an.

»Kom­man­dant«, sprach er mit be­weg­ter Stim­me, »wir kön­nen nicht wei­ter!«

»Das sagt ihr?« er­wi­der­te Shan­don, dem der Zorn über die Ver­let­zung sei­ner Au­to­ri­tät ins An­ge­sicht stieg.

»Wir er­klä­ren, Kom­man­dant«, fuhr Bol­ton fort, »dass wir für den un­sicht­ba­ren Ka­pi­tän ge­nug ge­leis­tet ha­ben, und wir sind ent­schlos­sen, nicht wei­ter vor­wärts­zu­ge­hen.«


»Sie sind ent­schlos­sen? …« rief Shan­don. »So spre­chen Sie, Bol­ton! Hü­ten Sie sich!«

»Ihre Dro­hung macht nichts aus«, er­wi­der­te Pen bru­tal, »wir ge­hen nicht wei­ter!«

Shan­don ging auf die em­pör­ten Ma­tro­sen zu, als der Rüst­meis­ter lei­se zu ihm sag­te:

»Kom­man­dant, wenn wir wie­der von hier her­aus wol­len, ha­ben wir kei­nen Au­gen­blick zu ver­lie­ren. Da schwimmt ein Eis­berg zu dem Fahr­pass hin, der kann uns ganz ab­sper­ren.«

Shan­don un­ter­such­te noch­mals die Lage.

»Sie wer­den mir spä­ter Ihr Ver­hal­ten ver­ant­wor­ten«, sag­te er zu den Auf­rüh­rern. »In­zwi­schen, das Schiff ge­wen­det!«

Die Ma­tro­sen eil­ten an ihre Pos­ten. Der For­ward wen­de­te rasch, die Öfen wur­den stär­ker ge­heizt; es galt dem schwim­men­den Berg zu­vor­zu­kom­men. Es war eine Wett­fahrt zwi­schen der Brigg und dem Eis­berg; die ers­te­re eil­te süd­lich, um hin­aus­zu­kom­men, der letz­te­re trieb nord­wärts, den Weg zu ver­sper­ren.

»Hei­zen, hei­zen!« rief Shan­don. »Mit vol­lem Dampf! Br­un­ton, ver­ste­hen Sie?«

Der For­ward glitt rasch wie ein Vo­gel zwi­schen den zer­streu­ten Eis­blö­cken durch, wel­che sein Vor­der­teil rasch durch­schnitt; die Schrau­be wirk­te, dass der Rumpf des Schif­fes zit­ter­te, und das Ma­no­me­ter zeig­te eine äu­ßers­te Span­nung des Damp­fes, der zum Be­täu­ben laut pfiff.

 

»Die Klap­pen be­schwert!« rief Shan­don.

Der Ma­schi­nist ge­horch­te, auf die Ge­fahr hin, das Schiff in die Luft zu spren­gen.

Doch wa­ren die­se ver­zwei­fel­ten An­stren­gun­gen ver­ge­bens; der Eis­berg, von ei­ner un­ter­see­i­schen Strö­mung ge­trie­ben, kam zu­vor; die Brigg war noch drei Ka­bel­län­gen ent­fernt, als der Eis­berg wie ein Keil in den frei­en Platz ein­drang und je­den Aus­weg sperr­te.

»Jetzt sind wir ver­lo­ren!« rief Shan­don, dem das un­vor­sich­ti­ge Wort ent­schlüpf­te.

»Ver­lo­ren!« rief die Mann­schaft.

»Ret­te sich, wer kann!« sag­ten die einen.

»Die Boo­te ins Meer!« rie­fen an­de­re.

»In die Vor­rats­kam­mer!« schri­en Pen und an­de­re sei­nes Ge­lich­ters. »Sol­len wir er­sau­fen, so wol­len wirs im Gin!«

Alle Zü­gel ris­sen, die Un­ord­nung stieg auf das höchs­te. Shan­don fühl­te sich über­meis­tert; er woll­te kom­man­die­ren, stam­mel­te, stock­te; sein Ge­dan­ke konn­te nicht Wor­te fin­den. Der Dok­tor ging voll Un­ru­he auf und ab. John­son kreuz­te mit stoi­schem Schwei­gen die Arme.

Da ließ sich plötz­lich eine star­ke, ener­gi­sche, ge­bie­te­ri­sche Stim­me ver­neh­men, mit dem Ruf:

»Je­der an sei­nen Pos­ten! Rasch ge­wen­det!«

John­son ge­horch­te zit­ternd, ohne sich zu be­sin­nen ließ er ei­ligst das Rad des Steu­ers dre­hen.

Es war hohe Zeit; die Brigg war im Be­griff, mit al­ler Kraft wi­der die Wän­de pral­lend, zu schei­tern.

Aber, wäh­rend John­son in­stinkt­mä­ßig Fol­ge leis­te­te, eil­ten Shan­don, Cla­w­bon­ny, die ge­sam­te Mann­schaft bis auf den Hei­zer Wa­ren und den Ne­ger Strong aufs Ver­deck, und alle sa­hen aus der Ka­bi­ne, des­sen Schlüs­sel al­lein im Be­sitz des Ka­pi­täns war, einen Mann her­austre­ten …

Die­ser Mann war der Ma­tro­se Gar­ry.

»Gar­ry!« rief Shan­don er­blei­chend – »Sie … was ha­ben Sie für Recht, hier zu kom­man­die­ren? …«


»Duk!« rief Gar­ry und wie­der­hol­te das Pfei­fen, wel­ches der Mann­schaft so sehr auf­ge­fal­len war.

Als der Hund sei­nen wah­ren Na­men ver­nahm, sprang er mit ei­nem Satz auf das Hin­ter­deck und leg­te sich ru­hig zu den Fü­ßen sei­nes Herrn.

Die Mann­schaft ließ kei­nen Laut ver­neh­men.

Der Kapitän enthüllt sich.

Die­ser Schlüs­sel, wel­chen al­lein der Ka­pi­tän der For­ward in Hän­den ha­ben konn­te, die­ser Hund, wel­chen er ge­schickt und der eben so­zu­sa­gen sei­ne Per­sön­lich­keit be­ur­kun­det hat­te, die­ser Be­fehls­ha­ber­ton, den man un­mög­lich ver­ken­nen konn­te – al­les dies mach­te einen mäch­ti­gen Ein­druck auf die Ma­tro­sen und ge­nüg­te, Gar­rys Au­to­ri­tät fest­zu­stel­len.

Üb­ri­gens war Gar­ry nicht mehr kennt­lich; er hat­te den brei­ten Ba­cken­bart, wel­cher sein Ge­sicht um­rahm­te, ab­ge­legt, und umso mehr tra­ten sei­ne lei­den­schafts­lo­sen Züge voll Tat­kraft und Be­fehls­ha­ber­wür­de ins Licht; er trat auf in sei­ner Stan­des­klei­dung mit den Ab­zei­chen des Kom­man­dan­ten.

So wur­de denn auch die Mann­schaft der For­ward wi­der Wil­len fort­ge­ris­sen und rief ein­stim­mig:

»Hur­ra! Hur­ra! Hur­ra für den Ka­pi­tän!«

»Shan­don«, sprach die­ser zu sei­nem Stell­ver­tre­ter, »las­sen Sie die Mann­schaft sich auf­stel­len, ich will Mus­te­rung hal­ten.«

Shan­don ge­horch­te und gab mit be­weg­ter Stim­me sei­ne Be­feh­le. Der Ka­pi­tän trat vor sei­ne Of­fi­zie­re und Ma­tro­sen und sprach zu je­dem, was sei­nem bis­he­ri­gen Ver­hal­ten ge­mäß pas­send war.

Hier­auf stieg er auf die Kam­pa­nie und sprach in ru­hi­gem Ton die fol­gen­den Wor­te:

»Of­fi­zie­re und Ma­tro­sen, ich bin Eng­län­der, wie Sie auch, und mein Wahl­spruch ist der des Ad­mi­rals Nel­son:

›Eng­land er­war­tet von je­dem, dass er sei­ne Pf­licht er­fül­le.‹

Als Eng­län­der will ich nicht, wol­len wir nicht, dass küh­ne­re Män­ner da­hin drin­gen, wo­hin wir nicht ver­mocht hät­ten. Als Eng­län­der will ich nicht, wol­len wir nicht ge­sche­hen las­sen, dass an­de­re den Ruhm da­von­tra­gen, wei­ter nach dem Nor­den zu drin­gen. Wenn je­mals ei­nes Man­nes Fuß das Po­lar­land be­tre­ten darf, so muss das der Fuß ei­nes Eng­län­ders sein! Hier ist die Flag­ge Eng­lands. Ich habe dies Schiff aus­ge­rüs­tet, ich habe mein Ver­mö­gen an das Un­ter­neh­men ge­setzt und will mein Le­ben und das Eu­ri­ge da­für ein­set­zen, aber die­se Flag­ge soll am Nord­pol we­hen. Las­sen Sie es an Zu­ver­sicht nicht feh­len. Tau­send Pfund Ster­lind sind Euch für je­den Grad zu­ge­sagt, wel­chen wir von heu­te an wei­ter nörd­lich vor­drin­gen. Jetzt sind wir un­term zwei­und­sieb­zigs­ten, und es sind neun­zig Grad. Nun rech­net. Mein Name wird Ih­nen üb­ri­gens eine Bürg­schaft sein; Ener­gie und Pa­trio­tis­mus sind ihm ei­gen. Ich bin der Ka­pi­tän Hat­teras!«

»Der Ka­pi­tän Hat­teras!« rief Shan­don.

Die­ser Name war un­ter den eng­li­schen See­leu­ten wohl­be­kannt. Die Mann­schaft ver­nahm ihn mit stil­lem Re­spekt.

»Jetzt«, fuhr Hat­teras fort, »soll man die Brigg an die Eis­blö­cke fes­t­an­kern, die Feu­er aus­ge­hen las­sen, und je­der gehe an sein ge­wöhn­tes Ta­ge­werk. Shan­don, ich habe mit Ih­nen über die Schiffsan­ge­le­gen­hei­ten zu re­den. Kom­men Sie nebst dem Dok­tor, Wall und dem Rüst­meis­ter zu mir in mei­ne Ka­bi­ne. John­son, las­sen Sie die Leu­te aus­ein­an­der­ge­hen.«

Hat­teras, kalt­blü­tig und kühl, stieg ru­hig vom Hin­ter­deck her­ab, wäh­rend Shan­don die Brigg fes­t­an­kern ließ.

Wer war denn die­ser Hat­teras, und wes­halb mach­te sein Name einen so tie­fen Ein­druck auf die Mann­schaft?

John Hat­teras, der ein­zi­ge Sohn ei­nes Brau­ers zu Lon­don, der im Jah­re 1852 im Be­sit­ze von sechs Mil­lio­nen starb, wid­me­te sich noch in jun­gen Jah­ren, trotz des glän­zen­den Ver­mö­gens, das er er­ben soll­te, dem See­we­sen. Nicht der Han­dels­be­ruf führ­te ihn dazu, son­dern sein Herz war vom Trieb nach geo­gra­fi­schen Ent­de­ckun­gen durch­drun­gen; er sann un­abläs­sig dar­auf, sei­nen Fuß da­hin zu set­zen, wo­hin noch kein Mensch ge­drun­gen war.

Be­reits zwan­zig Jah­re alt be­saß er die kräf­ti­ge Lei­bes­be­schaf­fen­heit ma­ge­rer und san­gui­ni­scher Men­schen: ener­gi­sche Ge­sichts­zü­ge mit geo­me­trisch be­stimm­ten Li­ni­en, hohe Stirn senk­recht auf der Ebe­ne schö­ner, aber kal­ter Au­gen, fei­ne Lip­pen ei­nes wort­kar­gen Mun­des, mitt­le­re Sta­tur, fes­ter Glie­der­bau mit ei­ser­nen Mus­keln – ga­ben das Ge­samt­bild ei­nes Man­nes von er­prob­tem Cha­rak­ter. Sein Aus­se­hen ver­riet Kühn­heit, sein Ton küh­le Lei­den­schaft; un­beug­sam, nie zu­rück­zu­wei­chen fä­hig, war er be­reit, das Le­ben an­de­rer mit glei­cher Über­zeu­gung wie das sei­ni­ge auf das Spiel zu set­zen. Es galt da­her zwei­mal zu über­le­gen, ehe man sich zur Teil­nah­me an sei­nen Un­ter­neh­mun­gen ent­schloss.

Den Stolz des Eng­län­ders be­saß er im höchs­ten Gra­de. Als in sei­ner Ge­gen­wart ein Fran­zo­se mit ver­meint­li­cher Höf­lich­keit und selbst Lie­bens­wür­dig­keit sag­te:

»Wäre ich nicht Fran­zo­se, so möcht’ ich Eng­län­der sein«, so er­wi­der­te Hat­teras:

»Wäre ich nicht Eng­län­der, so möcht’ ich Eng­län­der sein.«

Über al­les ging ihm der Wunsch, den Ruhm geo­gra­fi­scher Ent­de­ckun­gen sei­nen Lands­leu­ten al­lein zu wah­ren; aber zu sei­nem großen Miss­fal­len hat­ten die­se im Lau­fe der frü­he­ren Jahr­hun­der­te in Hin­sicht auf Ent­de­ckun­gen we­nig ge­leis­tet.

Die Ent­de­ckung Ame­ri­kas ver­dank­te man dem Ge­nue­sen Chri­stoph Co­lum­bus, In­diens dem Por­tu­gie­sen Vas­co de Gama, Chinas dem Por­tu­gie­sen Fer­nand d’An­dra­da, der Feu­er­lan­de dem Por­tu­gie­sen Ma­gelhaen, Ka­na­das dem Fran­zo­sen Jac­ques Car­tier; die Sun­da-In­seln, La­b­ra­dor, Bra­si­li­en, das Kap der Gu­ten Hoff­nung, die Azo­ren, Ma­dei­ra, New-Found­land, Gui­nea, Kon­go, Me­xi­ko, Kap Blan­co, Grön­land, Is­land, die Süd­see, Ka­li­for­ni­en, Ja­pan, Kam­bo­dscha, Peru, Kamtschat­ka, die Phil­ip­pi­nen, Spitz­ber­gen, das Kap Horn, die Beh­rings-Stra­ße, Tas­ma­ni­en, Neu-See­land, Neu-Bri­tan­ni­en, Neu-Hol­land, Loui­sia­na, die In­sel Jan-Mayen – wur­den von Is­län­dern, Skan­di­na­vi­ern, Rus­sen, Por­tu­gie­sen, Dä­nen, Spa­ni­ern, Ge­nue­sen, Hol­län­dern auf­ge­fun­den; aber kein ein­zi­ger Eng­län­der be­fand sich un­ter ih­nen; für Hat­teras zum Verzwei­feln, dass sei­ne Lands­leu­te nicht die­ser glor­rei­chen Schar von See­fah­rern an­ge­hör­ten, wel­chen man die großen Ent­de­ckun­gen des fünf­zehn­ten und sech­zehn­ten Jahr­hun­derts ver­dank­te.

Die neue­ren Zei­ten konn­ten Hat­teras ein we­nig trös­ten; die Eng­län­der fan­den doch eine Ent­schä­di­gung an ih­rem Sturt, Da­niel Stuart, Bur­ke, Wills, King, Gray in Aus­tra­li­en; an Pal­li­ser in Ame­ri­ka, an Cy­rill Gra­ham, Wa­ding­ton, Cum­ming­ham in In­di­en, an Bur­ton, Spee­ke, Grant, Li­ving­sto­ne in Afri­ka.

Aber dies reich­te nicht hin; nach Hat­teras An­sicht wa­ren die Leis­tun­gen die­ser küh­nen Rei­sen­den viel­mehr Ver­voll­stän­di­gun­gen als Ent­de­ckun­gen; er streb­te nach Bes­se­rem.

Er hat­te be­merkt, dass, ob­wohl die Eng­län­der nicht un­ter den äl­te­ren Ent­de­ckern die Mehr­zahl bil­de­ten, und dass man bis auf Cook zu­rück­ge­hen muss­te, um Neu-Ca­le­do­ni­en (1774) und die Sand­wich-In­seln (1778) zu be­kom­men, es doch eine ent­le­ge­ne Ge­gend des Erd­balls gab, wo sie durch ver­ein­te Be­mü­hun­gen et­was ge­leis­tet hat­ten, näm­lich die Eis­mee­re und Nord-Län­der Ame­ri­kas.

Die Ent­de­ckun­gen der Po­lar­lan­de über­sieht man an die­ser Zu­sam­men­stel­lung:

 No­wa­ja-Sem­lia, ent­deckt von Wil­lough­by (1553)

 Die In­sel Wai­gatz, ent­deckt von Bar­rough (1556)

 Die West­küs­te Grön­lands, ent­deckt von Da­vis (1585)

 Die Da­vis-Stra­ße, ent­deckt von Da­vis (1587)

 Spitz­ber­gen, ent­deckt von Wil­lough­by (1596)

 Die Hud­son-Bai, ent­deckt von Hud­son (1610)

 Die Baf­fin-Bai, ent­deckt von Baf­fin (1616)

Wäh­rend der letz­te­ren Jah­re sind Hear­ne, Ma­cken­zie, John Ross, Par­ry, Fran­klin, Richard­son, Bee­chey, Ja­mes Ross, Back, Dea­se, Somp­son, Rae, Ingle­field, Bel­cher, Aus­tin, Kel­let, Moo­re, Mac Clu­re, Ken­ne­dy, Mac Clintock un­abläs­sig mit der Durch­for­schung die­ser un­be­kann­ten Ge­gen­den be­schäf­tigt ge­we­sen.

Man hat­te die Nord­küs­ten Ame­ri­kas ge­nau ab­ge­steckt, die nord­west­li­che Durch­fahrt fast ent­deckt, aber das ge­nüg­te nicht; mehr und Bes­se­res zu leis­ten hat­te John Hat­teras be­reits zwei­mal mit auf ei­ge­ne Kos­ten aus­ge­rüs­te­ten Schif­fen ver­sucht; er woll­te zum Pol selbst vor­drin­gen, und so der Rei­he der eng­li­schen Ent­de­ckun­gen durch die glän­zends­te Un­ter­neh­mung die Kro­ne auf­set­zen.

Nach dem Pol zu drin­gen, war für ihn Le­bens­zweck.

Nach­dem Hat­teras sehr schö­ne Rei­sen in die Süd­mee­re ge­macht, ver­such­te er zum ers­ten Mal im Jah­re 1846 durch das Baf­fins-Meer wei­ter nörd­lich zu ge­lan­gen, aber er kam mit der Kor­vet­te Ha­li­fax nicht über den vierund­sieb­zigs­ten Brei­ten­grad hin­aus; sei­ne Mann­schaft hat­te schreck­lich zu lei­den, und John Hat­teras trieb sei­ne aben­teu­er­li­che Ver­we­gen­heit so­weit, dass seit­dem die See­leu­te we­nig Lust hat­ten, noch­mals sol­che Un­ter­neh­mun­gen un­ter ei­nem sol­chen Füh­rer vor­zu­neh­men.

Doch ge­lang es ihm im Jah­re 1850 auf der Go­elet­te1 Fa­re­well zwan­zig ent­schlos­se­ne Män­ner durch hohe Löh­nung zu ge­win­nen. Bei die­ser Ge­le­gen­heit hat­te der Dok­tor Cla­w­bon­ny bei Hat­teras, den er nicht kann­te, nach­ge­sucht, die Rei­se mitz­u­ma­chen; aber die Stel­le des Arz­tes war be­reits be­setzt, zum Glück für Cla­w­bon­ny.

Der Fa­re­well schlug den Weg ein, wel­chen im Jah­re 1817 der Nep­tun aus Aber­de­en ge­nom­men hat­te, und ge­lang­te nörd­lich von Spitz­ber­gen bis zum sechs­und­sieb­zigs­ten Brei­ten­grad. Dort muss­te er über­win­tern; aber die Lei­den wa­ren so arg und die Käl­te so grim­mig, dass nicht ein ein­zi­ger von der Mann­schaft nach Eng­land zu­rück­kam, nur Hat­teras aus­ge­nom­men, der nach ei­nem Weg von mehr als zwei­hun­dert Mei­len über die Eis­fel­der, von ei­nem dä­ni­schen Wal­fisch­fah­rer heim­ge­bracht wur­de.

 

Die Rück­kehr die­ses ein­zi­gen Man­nes mach­te un­ge­heu­res Auf­se­hen. Wer soll­te es von nun an wa­gen, sich an Hat­teras bei sei­nen toll­küh­nen Un­ter­neh­mun­gen an­zu­schlie­ßen? Doch gab er die Hoff­nung da­für nicht auf. Sein Va­ter, der Brau­er, starb und hin­ter­ließ ihm ein un­ge­heu­res Ver­mö­gen.

In­zwi­schen be­gab sich ein geo­gra­fi­sches Er­eig­nis, das John Hat­teras aufs pein­lichs­te traf.

Der Kauf­mann Grin­nel hat­te eine Brigg, l’Ad­van­ce, mit sieb­zehn Mann un­ter dem Be­fehl des Dr. Kane aus­ge­rüs­tet und zur Auf­su­chung des Sir John Fran­klin ab­ge­schickt, und die­se drang im Jah­re 1853 durch das Baf­fins-Meer und den Smith-Sund bis zum zwei­un­dacht­zigs­ten Grad nörd­li­cher Brei­te nä­her zum Pol als ir­gend­ei­ner sei­ner Vor­gän­ger.

Das Schiff war aber ein ame­ri­ka­ni­sches, Grin­nel und Kane Ame­ri­ka­ner!

Na­tür­lich ging im Her­zen des Hat­teras die Ver­ach­tung des Eng­län­ders ge­gen den Yan­kee in Hass über; er fass­te den Ent­schluss, um je­den Preis sei­nen küh­nen Ne­ben­buh­ler zu über­tref­fen, bis an den Pol selbst zu drin­gen.

Er leb­te seit zwei Jah­ren zu Li­ver­pool in­ko­gni­to, in­dem er für einen Ma­tro­sen galt! Er er­kann­te in Richard Shan­don den Mann, wel­chen er be­durf­te, und mach­te ihm, so­wie dem Dok­tor Cla­w­bon­ny in an­ony­men Brie­fen An­trä­ge. Der For­ward wur­de er­baut, aus­ge­rüs­tet, be­mannt. Hat­teras hü­te­te sich wohl, sei­nen Na­men be­kannt zu ge­ben, sonst hät­te er kei­nen ein­zi­gen Beglei­ter ge­fun­den. Da­her ent­schloss er sich, das Kom­man­do der Brigg nur un­ter ge­bie­te­ri­schen Um­stän­den und wenn sei­ne Mann­schaft so­weit sich ein­ge­las­sen, um nicht mehr zu­rück­zu­kom­men, selbst zu über­neh­men. Er hat­te, wie ge­se­hen, den Rück­halt, sei­nen Leu­ten sol­che Geldan­bie­tun­gen zu ma­chen, dass nicht ein ein­zi­ger sich wei­gern wür­de, ihn bis ans Ende der Welt zu be­glei­ten.

Und das Ziel, wo­hin er streb­te, war ja auch das Ende der Welt.

Nun wa­ren kri­ti­sche Um­stän­de ein­ge­tre­ten, und Hat­teras gab sich un­ver­züg­lich zu er­ken­nen.

Sein Hund, der treue Duk, der Ge­fähr­te sei­ner Fahr­ten, war der ers­te, wel­cher ihn er­kann­te, und zum Glück für die Mu­ti­gen, zum Un­glück für die Ver­zag­ten, wur­de es ge­hö­rig fest­ge­stellt, dass John Hat­teras der Ka­pi­tän des For­ward war.

1 Scho­ner (Schiffs­klas­se) <<<