Augenschön Das Herz der Zeit (Band 3)

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»Lexi ist eine hochmütige kleine Zicke, da gebe ich dir schon recht. Manchmal kann sie allerdings echt nett sein, das solltest du nicht unterschätzen. Sie hat mir zum Beispiel, ohne sich zu beschweren, geholfen, dein Bett zu beziehen und es umzustellen.«

Caitlin führte mich in einen großen Raum mit hoher Decke und weiß gestrichenen Wänden. Auf der rechten Seite drängte sich ein Bett neben dem anderen, ein ziemlich vollgestelltes Krankenzimmer. Auf der linken Seite stand ein einzelnes breites Bett, das im Gegensatz zu den anderen bezogen und mit einer dicken Daunendecke bestückt war. Daneben befanden sich ein kleiner Nachttisch und ein breiter Schrank aus dunklem Holz. Caitlin stellte meinen Koffer davor ab, den wir nur hatten schließen können, weil wir uns gemeinsam draufgesetzt hatten.

Währenddessen sah ich mich weiter in dem riesigen Raum um. Zwei Meter neben dem bezogenen Bett war ein riesiges Fenster in die Wand eingelassen, durch das man einen guten Blick auf Teile der Ost- und Westwiese sowie den Nordwald hatte.

Caitlin stellte sich neben mich und sah ebenfalls hinaus. »Später kommt Tatjana mit einer der Dromeden, um dich zu untersuchen. Bis dahin sollst du dich schonen und darauf achten, dich nicht erneut zu überlasten so wie heute Morgen. Das soll ich dir von ihr ausrichten. Und das auch: Essen wirst du ab sofort hier einnehmen, bis sich dein Zustand so weit gebessert hat, dass du für den Weg zum Speisesaal keine halbe Stunde brauchst. Das Bad ist nebenan. Zum Duschen benutzt du vielleicht besser den großen Duschraum, den du wahrscheinlich an deinem Ankunftstag schon gesehen hast, da die Dusche hier wirklich sehr klein ist. Besuch kannst du so oft und so viel empfangen, wie du willst, solange man davon ausgeht, dass du nicht ansteckend bist und es dich nicht überanstrengt. Selbstständig solltest du dich nicht auf dem Gelände bewegen, sondern immer eine Aufsichtsperson dabeihaben, falls du umkippst. Ach – und du sollst möglichst auf jegliche Magie verzichten, also sowohl auf Grund- wie auch Variantmagie. Falls du irgendetwas brauchst, drückst du den blauen Knopf neben dem Lichtschalter an der Tür«, leierte Caitlin monoton herunter. Dann verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse. »Wie gesagt, diese Anweisungen stammen alle von Tatjana. Ich soll sie bloß weitergeben. Echt ätzend.« Sie sah mich mitleidig an.

Wem sagte sie das? Ich stöhnte innerlich auf.

Caitlin ging zu dem Schrank, öffnete ihn und deutete auf eines der höheren Regalbretter, auf dem sich eine Reihe gebundener Bücher befand. »Hier ist, falls du überhaupt Lust zum Lesen hast, eine kleine Sammlung von Büchern. Keine Sachliteratur, sondern«, sie musterte die Einbände, »Fantasy- und Liebesromane, Abenteuerromane … ah, doch etwas höhere Literatur und … eine Biografie. Wie du siehst, jede Menge Auswahl.«

Ich nickte. Vielleicht würde ich etwas darunter finden.

Sie schloss die Schranktüren und zog ihre Omunalisuhr aus der Tasche. »Entschuldige bitte, ich muss wieder los. Training.« Es klang bedauernd. Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer wandern. »Am besten, du räumst deinen Koffer aus und richtest dich hier ein. Gegen drei Uhr wird Tatjana voraussichtlich kommen, bis dahin: schonen, schonen, schonen.« Sie versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln, das reichlich schief ausfiel. »Nun gut. Bis bald, Lulu«, sagte sie neckisch und drehte sich um.

Als sie schon fast an der Tür angelangt war, fiel mir etwas ein, um das ich sie bitten musste. »Ähm, Caitlin?«

Sie drehte sich um.

»Kannst du Rose Bescheid geben, dass ich hier bin? Damit würdest du mir einen großen Gefallen tun.«

»Natürlich.« Sie wandte sich ab.

Doch mir kam noch etwas in den Sinn. »Und … kannst du auch ab und zu mal vorbeischauen? Etwas helfen bei meinem Kampf gegen die Langeweile?« Und beim Kampf gegen meine innere Leere, fügte ich in Gedanken hinzu.

Caitlin lachte und salutierte. »Immer zu Diensten, Mylady.«

Ich rang mir ebenfalls ein Lächeln ab, bevor die schwere, ebenfalls weiß gestrichene Tür hinter Caitlin ins Schloss fiel und ich mich mutterseelenallein in einem riesigen Krankenzimmer wiederfand. Jetzt hätte ich sogar Xaviers Gesellschaft vorgezogen.

Tick-tack.

Tick-tack.

Tick-tack.

Ich beobachtete den dürren Zeiger, der über das Ziffernblatt meiner Omunalisuhr wanderte.

Tick-tack.

Tick-tack.

Tick-tack.

Meinen Koffer hatte ich ausgeräumt, den Inhalt in den Schrank geräumt und den leeren Koffer unter meinem Bett verstaut.

Tick-tack.

Tick-tack.

Tick-tack.

Die Jacke und die Stiefel hatte ich ausgezogen und die Jacke neben der Tür an einen Haken gehängt. Die Stiefel standen darunter. Jetzt trug ich nur noch Jeans, Socken, Unterwäsche, das Shirt und den dicken Rollkragenpullover da-rüber.

Tick-tack.

Tick-tack.

Tick-tack.

Ich war zweimal auf der Toilette gewesen, hatte eines der Bücher angefangen zu lesen und den Schrank komplett umgeräumt.

Tick-tack.

Tick-tack.

Tick-tack.

Und inzwischen lag ich bäuchlings auf meinem Bett und versuchte, durch das Vortäuschen von Interesse für den sich langsam vorwärts bewegenden Zeiger einem Abdriften in die Leere zu entgehen.

Mir.

War.

Langweilig.

Megalangweilig.

Doch Langeweile war weitaus besser, als an den Dolch in meinem Herzen zu denken. Entschlossen, aber langsam, um keinen Schwindelanfall hervorzurufen, setzte ich mich auf, klappte die Omunalisuhr zu und stand vorsichtig vom Bett auf. Gerade hatte ich den Entschluss gefasst, abermals den Schrank umzuräumen, als plötzlich die Tür ohne jegliche Vorwarnung aufschwang und zwei durch die Kälte rotnasige Mädchen in den Krankensaal gestürmt kamen.

»Lucy!« Denise’ Kreischen schwappte über vor Freude, und eine Sekunde später fand ich mich in ihren Armen wieder.

Charlotte folgte ihr wie immer stumm, doch nachdem sie eine kleine Tüte auf dem Nachtisch abgestellt hatte, schloss sie mich nahezu genauso stürmisch wie Denise in die Arme.

Denise wickelte sich den Schal vom Hals und warf sich auf mein Bett. »Du Arme! Du musst den ganzen Tag in diesem schrecklichen Zimmer verbringen«, murmelte sie mitleidig. Doch dann setzte sie sich auf und strahlte von einem Ohr zum anderen. »Aber ich freue mich so, dass du endlich wieder da bist! Außerdem muss ich zugeben, dass ich mich irgendwie auch darüber freue, dass Atlas mit dir zurückgekommen ist. Als ihr ‒ du, Atlas und James ‒ gegangen wart, schien es mir so leer im Wohnzimmer. Drei Nocturnals weniger, das merkt man schon. Außerdem hatte niemand wirklich Lust, etwas zu spielen. Na, und seit James die Erinnerung über die Sache mit dem bevorstehenden Kampf zurückbekommen hat, üben selbst Cedric und Harvey lieber zu kämpfen, als Mensch ärgere dich nicht zu spielen.«

Mein Kopf schwirrte von den ganzen Sätzen, und ich ließ mich neben sie sinken.

Charlotte nahm sich einen Stuhl und setzte sich. Sie deutete auf die Tüte. »Wir haben dir etwas zu essen mitgebracht. Zufällig haben wir mitbekommen, wie Caitlin Rose über deinen Aufenthaltsort unterrichtet hat, und weil Rose keine Zeit dazu hatte, haben wir vorgeschlagen, dir das Essen zu bringen.«

Ich lächelte dankbar, obwohl ich nach wie vor keinen Appetit hatte.

Denise nahm eine meiner schwarzen Locken in die Hand. »Wirklich erstaunlich, deine Typveränderung. Du siehst wunderschön aus. Hättest du nicht diese roten Augen, könntest du glatt als Schneewittchen durchgehen. Wobei … goldene Augen hätten auch nicht zu Schneewittchen gepasst.« Sie schnippte die Locke weg und klatschte in die Hände.

Ihre stürmische Art hatte ich schon fast vergessen.

»Aber jetzt erzähl. Wie war die Reise?«

Unbehaglich rutschte ich hin und her. »Ganz … interessant?«

»Das klingt wie eine Frage.«

»Es ist … ach, ich weiß auch nicht. Es ist einfach so viel passiert.«

Charlotte beugte sich vor und legte ihre Hand, die trotz der winterlichen Temperaturen warm war, beschwichtigend auf meinen Arm. »Du musst uns nicht alles erzählen. Für heute Abend wurde ein Treffen in der Versammlungshalle anberaumt, bei dem Atlas uns alles von der Reise erzählen wird. Wenn du willst, kannst du ihm auch das Ganze überlassen. Vorerst reicht es uns auch, dass du einfach da bist.«

Denise nickte bekräftigend, und ich atmete erleichtert auf. Doch dann stutzte ich und runzelte die Stirn. »Atlas wird heute Abend über alles berichten?« Hatten wir uns nicht gestern noch darauf geeinigt, niemandem etwas zu verraten, aus Angst, der Spion könnte wichtige Informationen dadurch erhalten?

Denise nickte. »Ja. Weshalb irritiert dich das?«

»Tut es nicht«, log ich und schüttelte den Kopf.

Wenn Atlas seine Meinung geändert hatte, dann musste es einen Grund dafür geben. Allerdings hätte ich gern über diesen Grund Bescheid gewusst. Laut sagte ich jedoch nur: »Ich … würde nur gern mit ihm noch einmal sprechen, das ist alles. Könnt … könnt ihr ihn bei mir vorbeischicken?« Ich wusste, dass ich mich dadurch selbst an den Rand des Zumutbaren brachte, doch es ging nicht anders. Zum einen wollte ich wirklich wissen, warum er seine Meinung geändert hatte. Und zum anderen war da immer noch ein Teil in mir, der sich nichts sehnlicher wünschte als seine Nähe. Auch, wenn mich der Schmerz umbringen würde.

Auf Denise’ Gesicht stahl sich ein freches Grinsen. »Geht es dabei wirklich nur um die Reise?«

Ich erstarrte, fing mich aber glücklicherweise rasch. Geistesgegenwärtig verdrehte ich die Augen und ließ mich auf den Rücken fallen. »Worum denn sonst, Denise?«

 

»Na ja, uns sind Gerüchte zu Ohren gekommen …«

Mein Körper verkrampfte. Ich hatte es doch niemandem außer Rose erzählt, woher sollte sie etwas wissen? Woher sollte sie von uns beiden wissen? Von uns beiden, die Worte taten weh. Doch was wunderte es mich? Tat gerade nicht alles weh?

»Jedoch geht es dabei nicht unbedingt um dich.«

Ich erlaubte mir, leise aufzuatmen.

»Sondern um Atlas. Es heißt, er sei all die Jahre nicht aus Liebeskummer so griesgrämig gewesen, sondern aus Hass auf Amelie. Und sich selbst. Demzufolge müsste er also frei sein für eine neue Liebe. Ich habe gehört, dass manche es bereits versuchen. Weißt du, ob das stimmt?« Ihr Gesicht tauchte über meinem auf, und der unermüdliche Hunger nach Klatsch und Tratsch war deutlich in ihren Augen zu erkennen.

»Fragt ihn doch selbst.« Ich drehte mich zur Seite weg und stand auf.

Jetzt war es an Denise, mit den Augen zu rollen, doch sie hakte nicht weiter nach. Stattdessen erzählte sie mir von den anderen Gerüchten. Oh ja, sie hatte noch immer diese Vorliebe für Klatsch aller Art, und es war das erste Mal, dass ich wirklich zuhörte.

»Also soweit wir wissen, fangen all die Mädchen, die Atlas ohnehin schon immer angeschmachtet haben, wieder an, sich Hoffnungen zu machen. Irgendwer hat auch erzählt, dass der Atlas-Fanclub wieder ins Leben gerufen wurde.«

»Ein Atlas-Fanclub?« Ich konnte es nicht fassen.

»Ja, allerdings.« Denise nickte ernsthaft. »Atlas war schon immer beliebt bei den weiblichen Augenschönen. In gewisser Weise durchaus verständlich, er sieht gut aus …«

Das war so was von untertrieben!

»Ist einigermaßen nett …«

Wenn er wollte, dann war er es nicht nur einigermaßen, sondern …

»Und anscheinend küsst er auch noch ziemlich gut.«

Was?

»Wobei ich mich frage, woher die das wissen wollen. Außer Amelie hat Atlas meines Wissens noch nie eine Augenschöne geküsst, und ich weiß quasi alles, was mit Klatsch zu tun hat.«

Ich verschwieg ihr die Neuigkeiten, die sie noch nicht wusste. Wahrscheinlich würde das, was zwischen Atlas und mir während unserer Reise geschehen war, hier in der Tratschküche einschlagen wie eine Bombe. Das Ganze würde in die Geschichte der aufregendsten Ereignisse eingehen, wenn ich etwas sagen würde.

Zu meiner eigenen Verblüffung stahl sich ein leichtes Grinsen auf meine Lippen, als ich mir vorstellte, wie Denise reagieren würde, wenn ich etwas sagte wie »Also meiner Meinung nach ist Atlas kein guter Küsser, sondern der beste überhaupt« oder »Wirklich, Denise, jetzt bin ich aber enttäuscht. Du sagst, du würdest alles wissen, aber über den neuesten Tratsch für den Atlas-Fanclub weißt du noch nichts? Einer begeisterten Klatschtante wie dir hätte ich zugetraut, dass du auch über Atlas und mich Bescheid weißt.« Aber schon bei dem Gedanken an Atlas’ und meine gemeinsame Zeit hätte ich gequält brüllen können.

»Wir waren auch einmal im Atlas-Fanclub, Charlotte, erinnerst du dich? Wir haben uns damals hineingeschmuggelt, um herauszufinden, was die dort machen. Als wir entdeckten, dass sie eigentlich nur alle schmachtend über ihn redeten und überlegten, wie sie ihm näherkommen könnten, sind wir schnellstmöglich abgehauen. Wenigstens konnten wir dann mit unserem Insiderwissen angeben, und ich habe den Artikel Atlas, der Frauenschwarm in meinen Schriften beenden können.«

»In deinen was?« Ich glaubte, ich hörte nicht recht.

»In meinen Schriften. Ich habe etliche von ihnen. Es sind Aufzeichnungen über Klatsch und Tratsch jeglicher Art. Jeder hat doch etwas, womit er sich beschäftigen muss, nicht? Und ich habe eben das.« Sie zuckte mit den Achseln.

Und ich bekam das Gefühl, dass ich ihre Vorliebe für mehr oder weniger skandalöse Neuigkeiten unterschätzt hatte. Um Längen. »Muss man das verstehen?«

»Nein. Aber darum geht es auch nicht. Das Gespräch drehte sich um die neuesten Atlas-Nachrichten. Anscheinend werden einer der Augenschönen jetzt große Chancen zugeschrieben. Sie war wohl jahrelang mit ihm in einer Trainingsgruppe und versteht sich echt gut mit ihm. Ich glaube, sie heißt Lexi.«

Ich schluckte.

»Die Zweitplatzierte ist ein Mädchen namens Lavinia. Sie hat dunkelrote Haare und ist wohl ziemlich hübsch. Einem Gerücht zufolge hat man sie gestern um drei schon dabei gesehen, wie sie ihn geküsst hat. Totaler Schwachsinn, um drei wart ihr noch gar nicht da. Und Lavinia selbst hatte von zwei bis fünf Uhr Training im Wald, und da war sie auch anwesend! Ich habe bereits nachgeforscht.«

Ich nickte unbestimmt. Auch wenn es vielleicht überhaupt keinen Grund dazu gab, durchfuhr mich die Eifersucht bei Denise’ Erzählung erneut ungeahnt heftig. Am liebsten hätte ich dieser Lavinia eine gescheuert. Und dieser Lexi gleich mit.

Ruhig bleiben!, ermahnte ich mich selbst. Ich hatte doch schon vorhin bemerkt, dass ich mit Eifersucht nicht sonderlich gut umgehen konnte, milde ausgedrückt.

Charlotte hatte derweil stumm unser Gespräch verfolgt, wie es immer ihre Art war. Jetzt hielt sie ihre Omunalisuhr in der Hand, einen wütenden Ausdruck in ihren Augen. »James ist so ein Sklaventreiber! Wenn er nicht aufpasst, haben wir am Ende so viel trainiert, dass wir keine Kraft mehr für den eigentlichen Kampf haben. Jetzt muss ich schon zur nächsten Einheit.« Sie verzog das Gesicht. »Ausdauerlauf.«

»Könnten wir nicht so tun, als hätten wir es nicht bemerkt?«, fragte Denise, stand aber bereits vom Bett auf, sehr wohl wissend, dass ihr Vorschlag nicht umsetzbar war.

Matt sah ich ihr zu, wie sie sich den Schal umwickelte und unschlüssig neben meinem Bett verharrte.

»Wir werden versuchen, so bald wie möglich etwas Zeit freizuschaufeln, die wir ausschließlich mit dir verbringen werden. Bis dahin: Gute Besserung!«

Sie schloss mich zum Abschied in die Arme, und sie und Charlotte drängten dann zur Tür hinaus.

»Das Schlimmste ist, dass unsere Trainingspläne nicht einmal dieselben sind. Ich habe jetzt Schwertkampf!«, hörte ich noch Denise sich entrüstet beschweren, bevor das Schloss einrastete.

Lustlos öffnete ich die Tüte mit dem Essen, die sie zurückgelassen hatten.

»Guten Appetit, Lucy«, murmelte ich vor meinem einsamen Mahl.

Aus den Lexika der Augenschönen

(Band 1, Kapitel 8)

Unkontrollierte Gefühlsmagieausbrüche, wie auch kontrollierte, unterscheiden sich stark von den Willensmagizismen. […] Ein wesentlicher Unterschied ist, dass sich das Augenschön beim Anwenden eines Gefühlsmagizismus nicht bewegen kann. Der Grund dafür liegt darin, dass Gefühlsmagizismen mehr Magie entfalten und der Körper sich darauf konzentrieren muss, sich selbst zu schützen, wobei er die Muskeln in einer Abwehrstellung erstarren lässt. Hierbei gibt es jedoch einen weiteren Unterschied zwischen kontrollierten und unkontrollierten Gefühlsmagizismen. Der unkontrollierte nämlich ist wiederum fast doppelt so stark wie der kontrollierte und kann somit auch (unter anderem aufgrund der verlorenen Willenskontrolle) nicht unterbrochen werden. Daher müssen Augenschöne bei einem unkontrollierten Gefühlsausbruch abwarten, bis der Magizismus seine (zufällig ausgewählte) Aufgabe erfüllt hat. Dabei kommt es im alten Leben in den Äußeren Schleifen zu zahlreichen Morden, die viele Augenschöne aus Versehen begehen.

Aus dem Bericht:

Gefühlsmagieausbrüche von N. Weblens

Kapitel 4

Gegen drei Uhr tauchte, wie angekündigt, Tatjana mit einer Dromedin auf, die Sellja, der ersten Dromedin, die ich je gesehen hatte, zum Verwechseln ähnlich sah. Zu meiner großen Freude war auch Rose dabei, die zuallererst ebenfalls eine Schimpftirade über James und seinen Trainingsplan losließ.

Tatjana und die Dromedin begannen, mich zu untersuchen, was ich anfangs widerstandslos über mich ergehen ließ.

Sie hörten meine Atmung ab, kontrollierten meinen Puls und überprüften meine Körpertemperatur. Sie fanden zunächst das heraus, was ich bereits wusste.

Ich war unterkühlt und leicht unterernährt. Zu schnelle oder anstrengende Bewegungen lösten Schwindel und Übelkeit aus, die unvorhersehbar zum Übergeben führen konnten. Man vermutete zwar, dass ein Symptom das nächste auslöste, beispielsweise die Unterernährung den Schwindel. Wo jedoch der Ursprung all dessen lag, war ihnen noch unklar.

Tatjana hatte die Stirn gerunzelt und es brauchte keine Gedankenlesefähigkeit, um zu erraten, was sie dachte. Wie alle fand sie ein krankes Augenschön deutlich schwerwiegender, als dass für meinen Zustand besorgniserregend noch ausgereicht hätte.

Schließlich nickte die Nele der Dromedin zu, die daraufhin eine kleine Nadel mit einem Schlauch aus ihrer Tasche holte. Aus irgendeinem Grund jagte mir das einen Schauer über den Rücken, und mein Unterbewusstsein vermittelte mir mit aller Deutlichkeit, dass es nichts Gutes verhieß.

»Was ist das?«

»Wir werden dir jetzt Blut abnehmen, um bei der Analyse gegebenenfalls mehr herauszufinden. Da bei Augenschönen die Wunden immer gleich verheilen, ist das Blutabnehmen etwas schmerzhafter und komplizierter.«

Meine Härchen auf den Armen stellten sich auf, als die Dromedin noch näher kam.

»Das … das möchte ich nicht.« Ich wusste selbst nicht, warum ich solche Angst vor der Blutabnahme hatte. Die Aussicht auf Schmerz war es mit Sicherheit nicht. Dennoch sträubte sich mein gesamter Körper dagegen, und eine Stimme in meinem Inneren flüsterte unaufhörlich, dass ich die Dromedin nicht an mich heranlassen durfte.

»Keine Angst, Lucy, Annabeth hat das schon öfter gemacht, es wird nichts schiefgehen.«

Auch die Dromedin namens Annabeth lächelte mir aufmunternd zu und kam noch näher.

Ich begann, leicht und unkontrolliert zu zittern, und warf Rose, die hinter Tatjana stand, einen panisch bittenden Blick zu. Eine leichte Falte legte sich auf ihre makellose Stirn, und sie fragte sich offensichtlich, was mir solche Angst einjagte.

Trotzdem trat sie zu Tatjana. »Muss das Blutabnehmen unbedingt sein? Reichen die bisherigen Untersuchungen nicht aus?«

»Es ist nicht unbedingt nötig, aber hilfreich. Bis jetzt haben wir zwar Anzeichen für eine Reihe möglicher Krankheiten gefunden, aber um welche es sich genau handeln könnte, wissen wir nicht. Das, was wir im Blut finden, könnte uns jedoch weitere wichtige Hinweise geben.«

»Aber was, wenn es gar keine spezielle Krankheit ist? Was, wenn es sich bloß um die Folgen einer sehr anstrengenden Reise handelt, die sich eben auf viele verschiedene Arten bei Lucy äußern?«

»Das könnte natürlich auch sein. Aber …«

»Bitte, Tatjana«, schaltete ich mich rasch ein. »Ich glaube, dass Rose recht hat. Und du hast selbst gesagt, es sei nicht unbedingt notwendig, mir Blut abzunehmen. Können wir es nicht weglassen?« Ich versuchte, einen ängstlichen Gesichtsausdruck aufzusetzen, um ihr Mitgefühl zu wecken, auch wenn ich wusste, dass sich das nicht gehörte.

Doch es schien zu funktionieren. Tatjana sah zwischen Rose und mir hin und her, bevor sie schließlich seufzte. »Ich habe mich wohl in die Vorstellung verrannt, eine neue Krankheit zu entdecken, die sogar stärker als Unsterblichkeit ist. Wahrscheinlich habe ich dadurch die Hauptsache, dein Wohlergehen, aus den Augen verloren. Und wenn du keine Blutabnahme willst …« Sie machte eine Handbewegung zu Annabeth hin, die daraufhin das Blutabnahmegerät zurück in die Arzttasche packte und diese verschloss.

»Ich denke, dann sind wir so weit fertig. Lucy, es tut mir leid, aber ich weiß nicht, wie ich dir helfen könnte. Am besten schonst du dich weiterhin, isst, worauf du Lust hast, und wenn es geht, mit jeder Mahlzeit mehr, sodass du zu einem normalen Körpergewicht findest. Und halte dich warm. Ich werde gleich dafür sorgen, dass wir dir einen Wasserkocher und Teebeutel besorgen, das dürfte auch etwas helfen.« Sie nickte kurz Annabeth zu, die sich daraufhin lächelnd entmaterialisierte.

»Medikamente kann ich dir leider keine geben. Wir hatten bisher keinen Fall wie deinen, und Arzneimittel der Menschen können dir nicht weiterhelfe. Dein Körper würde sie ablehnen.«

Rose schaute bedauernd, während ich über die Worte der Nele nur erleichtert war.

Wie vorhin beim Blutabnehmen hatte sich mein Unterbewusstsein sofort gegen den bloßen Gedanken an Medikamente gesträubt. Verwirrt über mich selbst, beobachtete ich, wie Tatjana sich ihre Jacke überzog und sich eine Haarsträhne aus dem müde wirkenden Gesicht strich.

»Gute Besserung, Lucy. Falls sich irgendetwas an deinem Zustand ändert, egal ob zum Besseren oder zum Schlechteren, lass es mich bitte wissen. Drück dazu einfach den …«

 

»Den blauen Knopf an der Tür. Ja, ich weiß. Danke!«

»Hervorragend. Bis hoffentlich bald.« Sie schlüpfte in ihre Schuhe neben der Tür und entschwand dann ohne ein weiteres Wort zu ihren restlichen Pflichten.

Eine Weile schwiegen Rose und ich, bis ich ihrem Blick begegnete.

Hochgezogene Augenbrauen, fragendes Gesicht.

Ich zuckte die Schultern und sank zurück in die Kissen. Wie sollte ich ihr das mit der Blutabnahme erklären, wenn ich es nicht einmal selbst verstand?

Wieder einmal schien meine beste Freundin zu spüren, was in mir vorging. Sie fragte jedenfalls nicht weiter nach.

»Übrigens ist mir Atlas begegnet und hat mir einen Brief mitgegeben, zusammen mit der Entschuldigung, dass er nicht selbst kommen kann.«

Augenblicklich hellwach, setzte ich mich auf und nahm mit großen Augen den kleinen weißen Umschlag entgegen.

Von Rose bekam ich kein freches Grinsen wie von Denise vorhin. Sie betrachtete mich nur besorgt und mit einem wissenden Ausdruck, den meine heißen Wangen bestätigten.

»Ich lass dich mal allein …«

»Danke.«

»… und widme mich meinem, dank eines verrückten, arroganten Befehlshabers, übervollen und scheußlichen Trainingsplan.«

»James ist gar nicht so schlimm, wie du meinst. Auf der Reise hatte er auch seine echt netten Momente«, verteidigte ich ihn, auch wenn ich nicht genau wusste, warum.

Rose verdrehte die Augen, bevor sie mir aufgebracht antwortete: »Ein Mädchen gegen seinen Willen auf den Mund zu küssen, findest du nett? Ein Stechleuchten auf einen Verbündeten abzuschießen? Es wundert mich, dass er so einen Magizismus überhaupt beherrscht. Er soll ziemlich schwierig und kraftraubend sein. Aber egal. Der Punkt ist, dass sich das nach allem anderen anhört als nach einem guten Jungen.«

Ich schauderte. Das Stechleuchten war mir nicht unbedingt so schlimm erschienen. Von der dicken Narbe war ein schmaler, langer, weißer Strich das einzige Überbleibsel. Doch Rose hatte es von Anfang an anders gesehen. Überhaupt auf die Idee zu kommen, ein Stechleuchten auf Atlas abzuschießen, deutete ihrer Meinung nach auf einen gewalt-tätigen und blutrünstigen Charakter.

Ich schwieg, was Rose als eine Art Zustimmung betrachtete. Sie drückte mich zum Abschied an sich und ging, um ihren übervollen und scheußlichen, von einem verrückten, arroganten Befehlshaber zusammengestellten Trainingsplan zu ab-solvieren.

Nachdem sie das Krankenzimmer verlassen hatte, wandte ich mich ehrfürchtig dem Briefumschlag zu. Abwägend hielt ich ihn in der Hand und überlegte, ob ich ihn öffnen sollte.

»Angsthase, Angsthase, Angsthase!«, triezte mich eine piepsige Stimme von irgendwo in meinem Kopf.

»Halt den Mund«, murmelte ich und öffnete zitternd den Umschlag.

Lucy,

es tut mir leid, dass ich nicht selbst kommen kann, um persönlich mit Dir alles zu besprechen, doch ein bis zum Rand voller Zeitplan lässt dies leider nicht zu.

Denise sagte, Du wolltest mit mir über die Versammlung heute Abend reden. Ich kann mir vorstellen, was Du mit mir besprechen willst.

Ich habe viel nachgedacht und kam zu dem Schluss, dass es nicht schaden würde, die anderen über den Verlauf der Reise zu unterrichten. Ich werde mich dabei ausschließlich auf die sachlichen, wichtigen und nützlichen Fakten konzentrieren und beispielsweise den Streit zwischen James und mir nicht erwähnen.

Ich wusste, was er noch damit sagen wollte. Er würde nicht erwähnen, dass er mit mir zusammen gewesen war, dass da neben dem Streit noch anderes Unwichtige existierte.

Eigentlich war ich froh darüber, doch da war auch ein leiser Zweifel. Konnte womöglich eine Anspielung auf das, was zwischen Atlas und mir gewesen war, Mädchen wie Lexi davon abhalten, Atlas zu bezirzen?

Ich schüttelte, zornig über meine Gedanken, den Kopf und richtete meine Konzentration wieder auf Atlas’ geschriebene Worte.

Zudem denke ich, dass es auffälliger wäre, wenn wir nichts erzählen würden, als wenn wir allen das Recht eingestünden, über die Geschehnisse, die auch sie betreffen, in Kenntnis gesetzt zu werden. Was den Spion betrifft – ich wüsste nicht, welche Aspekte meines Berichts ihm neu sein sollten. Ich bin sicher, dass wir nicht befürchten müssen, uns durch das Weitergeben von Informationen selbst ein Bein zu stellen. Wenn wir Glück haben, dürfte es sogar helfen, wenn ich alle über die Anwesenheit eines oder mehrerer feindlicher Spione informiere. So werden sie zum einen vorsichtiger sein mit dem, was sie sagen, zum anderen können mehr Augen auch mehr Hinweise auf die Identität des oder der Verräter liefern.

Über den Ausgang der Reise, den Kampf um das »Herz der Zeit« und seinen jetzigen Aufenthaltsort werde ich selbstverständlich kein Wort verlieren.

Ich hoffe, Du hast ein sicheres Versteck gefunden (ich gehe nicht weiter auf sein Aussehen oder anderes ein, eine Vorsichtsmaßnahme, da man in Situationen wie diesen niemandem trauen kann).

Deinen schlechten Gesundheitszustand, den Denise und Charlotte mir beschrieben haben, bedauere ich sehr. Ich wünsche Dir schnelle Genesung.

Atlas

PS: Bitte vernichte diesen Brief, nachdem Du ihn gelesen hast, damit der Spion dadurch keine Informationen erhalten kann.

Ich hatte nicht bemerkt, dass ich weinte, bis ich vor lauter Tränen die geschwungene, schnörkelige Schrift nur noch als verschwommenen blauen Fleck erkennen konnte. Die Worte, die dort standen, waren stumpf und gestelzt. Atlas hatte jedes Gefühl daraus gelöscht, und die Hoffnung, ein Stück von ihm in diesem Brief zu finden, endete in bodenloser Enttäuschung.

Hastig wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und kratzte genug Konzentration zusammen, um einen kleinen Blitz aus meinen Augen auf das Papier abzufeuern. Leise knisternd verbrannte der Brief in meinen Händen. Der kleine Magizismus würde hoffentlich niemandem schaden.

Als ich auf die verbrannten Reste schaute, stiegen wieder Tränen in mir auf. Das Zimmer verschwand in einem brennenden Strudel, und mein leer gefegter Kopf ließ mich in einem schmerzenden Loch zurück.

»Die Nuvolas finde ich am faszinierendsten, wie sie nur aus Luft zu bestehen scheinen und dennoch nahezu wie wir sind. Danke für die Fotos übrigens. Ich hatte das Warten auf ein Mitbringsel schon fast aufgegeben.« Rose deutete auf ihre Jackentasche, in der sich die beiden Nuvolafotos befanden, die ich aus der zerstörten Wohnsiedlung mitgenommen und ihr als kleines Geschenk überlassen hatte. Sie hielt ihre linke Hand mit dem frischen rosa-grün gestreiften Nagellack hoch und pustete über die feucht glänzende Fläche.

Ich drehte mich wieder zum Fenster des Krankensaals, an dem ich stand, und beobachtete, wie eine Gruppe Nebelwesen unter James’ Führung über die Wiese lief.

Das Eintreffen der verschiedenen Schleifenwesen zu beobachten, war ein angenehmer Zeitvertreib, mit Rose’ Kommentaren noch besser.

Ein kleines Mädchen, dessen kurze, knallrote Haare bis hier oben gut zu erkennen waren, stieß zu James und den Nuvolas und löste ihn ab.

»Tess taucht wie üblich auf und nimmt James die Gruppe ab. Er sieht ziemlich mitgenommen aus«, beschrieb ich für Rose das Geschehen.

»Geschieht ihm recht«, meinte sie ohne jeglichen Anflug von Mitleid.

Ich schnaubte und verfolgte die Gruppe weiter. Sie waren auf dem Weg zur Südwiese, auf die inzwischen ein gemütlich wirkendes Backsteingebäude, dessen Aussehen wohl auf antiken Vorbildern beruhte, mit Hilfe von Magie, gebaut worden war. Dort waren die Nuvolas mit diversen anderen Schleifenwesen bis zum Kampftag untergebracht. Eine Gruppe von Augenschönen, darunter auch Tess, das rothaarige Mädchen, kümmerte sich um die Schleifenwesen mit allem, was dazugehörte – vom Empfang und der Einweisung bis hin zu Verpflegung und Unterstützung beim Kampftraining.