Buch lesen: «Die Mystik im Christentum und in den nichtchristlichen Religionen»

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Joseph Schumacher

Die Mystik im Christentum

und in den

nichtchristlichen Religionen

Patrimonium-Verlag 2016

Impressum


1. Auflage 2016

© Patrimonium-Verlag

In der Verlagsgruppe Mainz

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Erschienen in der Edition »Patrimonium Theologicum«

Patrimonium-Verlag

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»Rom, Vatikan, Petersdom, Innenansicht der Kuppel.jpg« – Created: 17 March 2005; by Dnalor 01 - Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=32438889

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ISBN-10: 3-86417-051-6

ISBN-13: 978-3-86417-051-5

e-Book:

ISBN-10: 3-86417-161-X

ISBN-13: 978-3-86417-161-1

VORWORT

Das Phänomen der Mystik begegnet uns in beinahe allen Religionen. Es entfaltet sich in ihnen umso tiefer, je vitaler sie sich darstellen. Dabei schlägt die Mystik nicht selten um in den Mystizismus, die unechte Variante der echten Mystik, wenn sie sich nicht gar von Anfang an als Mystizismus darstellt. In der Gestalt des Mystizismus hat die Mystik heute in der westlichen Welt viel an Terrain gewonnen. Das ist verständlich angesichts der Tatsache, dass das Christentum weithin zu einer reinen Lebensphilosophie verkommen und gleichzeitig zur Magd der Politik geworden ist und nicht zuletzt weithin subjektiver Beliebigkeit anheimgefallen ist. Entgegen einer verbreiteten Meinung ist die Mystik nicht subjektiv, irrational oder gar im Gefühl beheimatet, sie ist vielmehr rational und objektiv. Die echte Mystik hat ihren Ort vornehmlich im Christentum. Aber es gibt sie in allen Religionen. »Wer Heiliger Geist sagt, sagt Mystik«, so erklärt der evangelische Theologe Rudolf Otto in seinem Buch »Vom neuen Singen. Christliche Welt« (Würzburg 1919). Das kann man recht verstehen. Diese Gleichung hat allerdings zwei Unbekannte.

Mystik ist Erfahrung Gottes aus der Mitte der Existenz. In der Mystik geht es um die Vereinigung des Menschen mit dem Unendlichen, wobei das Unendliche unpersonal oder personal, monotheistisch oder polytheistisch verstanden werden kann. In der Mystik sucht die ins Endliche gebannte Seele sich aus den Schranken der Endlichkeit zu befreien, um sich mit dem Unendlichen zu vereinigen. Im Kern ihres Wesens ist Mystik die höchstmögliche Form der Gottverbundenheit des Menschen auf Erden. Psychologisch betrachtet, verbindet sich mit ihr das Bewusstsein einer besonderen Nähe zu Gott, wenn nicht gar das Bewusstsein der Einswerdung mit Gott.

Es handelt sich bei der Mystik um den Gipfel der Frömmigkeitsübungen oder des Gebetslebens. Daher können wir sie auch als vertiefte Spiritualität verstehen. Immer gehört die Meditation zu ihr, das innere Gebet, die Betrachtung und die Versenkung. Im Mittelalter sprach man statt von der mystischen Erfahrung gern von der »contemplatio«, von der Beschauung.

Die vorliegende Abhandlung geht zurück auf eine Vorlesung, die der Autor wiederholt an der Freiburger Universität für Hörer aller Fakultäten gehalten hat und die durch nicht wenige Interessierte über das Internet mitverfolgt worden ist. Zur besseren Orientierung hat er der Darstellung außer einem umfangreichen Literaturverzeichnis ein Personenregister und ein Sachregister angefügt. Er möchte die Publikation als Dankesgabe verstehen für seine treuen Hörer.

Joseph Schumacher

Freiburg i. Br.,

am 1. November 2015,

dem Fest Allerheiligen

I. Kapitel:

HINFÜHRUNG ZUM THEMA

1. Von der Spiritualität zur Mystik

Das Wort »Spiritualität« ist zu einem Modewort geworden. In den letzten Jahren sind Hunderte von Büchern erschienen, die sich mit dem beschäftigen, was man Spiritualität nennt. Die Rede von Spiritualität ist vielleicht deshalb so inflationär, weil man sie so wenig hat und weil man diesen Mangel irgendwie spürt. Oft ist es ja so, dass einem das, wovon man sehr viel spricht, existentiell fremd geworden ist. Würde die Spiritualität so intensiv praktiziert, wie über sie gesprochen wird, so sähe es anders aus im Christentum und in der Kirche.

Das Wort »Spiritualität« bezeichnet nicht einmal einen besonders komplizierten Sachverhalt. Es steht für Frömmigkeit oder genauer für die Weise, in der die Frömmigkeit im Leben Gestalt annimmt. Man könnte auch sagen: Spiritualität ist die geformte Gestalt des religiösen Lebens, speziell des christlichen Lebens. In dem Wort »Spiritualität« ist der Begriff »spiritus« enthalten. Das ist ein Hinweis auf den »Spiritus Sanctus«, den Heiligen Geist. Um ihn geht es hier. Für den Christen ist er die Seele seines religiösen und seines moralischen Handelns. Von daher können wir den Begriff der Spiritualität auch definieren als Leben aus dem Geist Gottes, als geistliches Leben.

Wer von Spiritualität spricht, ist auf jeden Fall auf der Höhe der Zeit, mehr auf jeden Fall als der, der sich wirklich um sie bemüht. Die Priesteramtskandidaten der katholischen Kirche durchlaufen ein Spiritualitätsjahr, bevor sie mit dem Studium der Philosophie und der Theologie beginnen. Dieses Jahr ist bestimmt für die Einübung des geistlichen Lebens, für die Intensivierung der »vita spiritualis«, die im Selbstvertändnis der Kirche der eigentliche Inhalt der priesterlichen Sendung ist.

In der Spiritualität verbindet sich das moralische Handeln mit dem religiösen. Die Spiritualität oder das spirituelle Leben ist dabei im christlichen Verständnis die Antwort des Menschen auf die Ansprache Gottes an ihn, wie sie in der Offenbarung des Alten und des Neuen Testamentes eine feste und verbindliche Gestalt angenommen hat. Als solche ist sie von der Gnade getragen.

Eine doppelte Gestalt hat die Spiritualität: Zum einen besteht sie im Gebet und im Kult, zum anderen in der Erfüllung der Gebote – oder allgemeiner – des Willens Gottes. Dabei kommt dem Gebet und dem Kult die Priorität zu, wenngleich das Gebet und der Kult ohne die Moral erstarren und veräußer­lichen und gar zu einem Ärgernis werden und das Zeugnis der Kirche verdunkeln. In diesem Verständnis können wir die Spiritualität mit dem religiösen Leben identifizieren. Um es genauer zu sagen: Das religiöse Leben wird zum geist­lichen Leben durch eine gewisse Intensivierung und durch eine gewisse Professionalität. Das geistliche Leben aber wird seinerseits zum mystischen Leben, wenn es noch einmal eine gewisse Steigerung erfährt. Zwischen der Spiritualität und der Mystik besteht demnach nicht ein qualitativer, sondern nur ein quantitativer Unterschied, nicht anders als zwischen dem religiösen Leben und dem geistlichen. In der Mystik begegnet uns somit nichts anderes als eine intensivere Form der Frömmigkeit.

Solche Zusammenhänge werden unterstrichen durch die Tatsache, dass man in der christlichen Tradition zwischen der kleinen und der großen Mystik oder die Mystik im weiteren und im engeren Sinne unterschieden hat, je nachdem, wie tief sich die Mystik verwirklicht, und dass man dann die kleine Mystik wiederum mit der Spiritualität identifiziert hat.

Als Mystik bezeichnen wir die Erfahrung des Nicht-Erfahrbaren. Man hat die Mystik als experimentelle Gotteserkenntnis definiert1. Das ist richtig, wenn man nicht übersieht, dass es sich hier nur um mittelbare Gotteserkenntnis handelt. Im strengen Sinne ist diese Gotteserkenntnis keine erfahrungsmäßige, weil sie nicht aus einer unmittelbaren Gottesbegegnung hervorgeht. Die Basis auch der mystischen Gotteserkenntnis ist der Glaube. Der »status viae« wird nicht aufgehoben in der Mystik. In unserem Erdenleben gibt es für uns keine unmittelbare Verbindung mit der Transzendenz, sondern nur eine mittelbare. Entweder beruht unsere Verbindung mit der Transzendenz auf unserem schlussfolgernden Denken, oder sie beruht auf dem Glauben, verstanden als Übernahme von Fremdeinsicht. Im einen Fall sprechen wir von der natürlichen Gotteserkenntnis, im anderen Fall von der übernatürlichen. Demgemäß können wir unterscheiden zwischen der philosophischen Mystik und der Glaubensmystik. Im einen Fall ist die Basis die Metaphysik, im anderen Fall die Offenbarung, die jüdisch-christliche Offenbarung oder der Glaube der Kirche. Wenn wir hier von Mystik sprechen, meinen wir die Glaubensmystik, sofern sie den Glauben der Kirche zur Basis hat, allgemeiner gesprochen: den Glauben der Christenheit. Mit dieser verbinden sich, wie uns die Geschichte lehrt, eine Reihe von außerordentlichen Phänomenen, nicht immer, aber zuweilen, mit denen wir uns hier ein wenig näher befassen werden, sofern sie in ihrer Außergewöhnlichkeit eine gewisse Nähe zu den Wundern haben und zuweilen gar als Wunder angesehen worden sind.

Immer gibt es für uns, solange wir im Pilgerstande sind, nur mittelbare Gotteserkenntnis, Gotteserkenntnis auf der Grundlage des Glaubens, auf der Grundlage des Lebens mit dem Wort Gottes. Nur in diesem Verständnis können wir von Gotteserfahrung sprechen. Eine unmittelbare Gotteserkenntnis oder Gotteserfahrung würde den Pilgerstand aufheben, die Gottesschau der Ewigkeit vorwegnehmen. Das ist zwar nicht in sich unmöglich, aber doch sehr unwahrscheinlich. Deswegen gehen wir hier davon aus, dass auch im mystischen Erleben der Glaube das entscheidende Element ist. Das bedeutet, dass Gott im mystischen Erleben in seinen Wirkungen und durch seine Wirkungen wahrgenommen wird und nicht zuletzt durch die Gewissheit seiner Nähe, wie er sie der Seele im mystischen Erleben schenkt.

Wenn wir auf die christliche Mystik schauen, so ist die gemeinsame Klammer, die die verschiedenen Formen umfasst, die personale Begegnung mit dem unbegreiflichen Gott, ganz gleich, welches Niveau sie erreicht. Personale Begegnung aber ist immer Geschenk und gleichzeitig Verwirklichung der eigenen Freiheit. Das gilt schon im natürlichen Leben. Ist Mystik – christlich verstanden – immer personale Begegnung, sofern sie »Erfahrung« Gottes ist aus der Mitte der Existenz2, so ist sie wesentlich ein inneres Moment jedes lebendigen Gottesglaubens3. Dabei wird auf dem Gipfel der mystischen Erfahrung die Trennung zwischen irdisch und überirdisch, zwischen zeitlich und ewig, subjektiv als überwunden angesehen4, und sie wird erfahren als Vereinigung mit dem Unendlichen, wobei das Unendliche personal oder unpersonal, monotheistisch oder polytheistisch verstanden werden kann. Wir können also sagen: Das religiöse Leben wird zum geistlichen Leben, und das geistliche Leben wird zum mystischen Leben. Dabei ist jeder Getaufte zur Mystik berufen, ist die Mystik das Ziel aller Frömmigkeit.

Die Kirchenlehrerin Theresa von Avila († 1582) ermahnt in ihrer Schrift »Weg der Vollkommenheit« alle ihre Mitschwestern, »ohne Ausnahme«, danach zu streben und darum zu ringen, dass die Seele durch das innere Gebet reif wird für die mystische Beschauung5.

Alle sind zum mystischen Leben berufen, wenn man einmal absieht von den außerordentlichen Gaben der Mystik, die manche, freilich fälschlicherweise, für das Wesen der Mystik halten. Als außerordentliche Gaben der Mystik begegnen uns die Ekstase, die Vision und die Audition, die Nahrungslosigkeit, die Stigmatisation, die Levitation, das Nichteintreten der Verwesung, die Kardiognosie oder die Hierognosie. Diese außerordentlichen Gaben sind nicht mit dem mystischen Leben als solchem zu verwechseln. Sie sind Begleiterscheinungen der Mystik, die nicht besonders häufig vorkommen, die vor allem aber in sich peripherer Natur sind. Wo immer sie das mystische Erleben begleiten, können sie es beglaubigen, aber auch verdunkeln.

Können wir auch im strengen Sinn von Spiritualität nur im Christentum sprechen, weil man nur dort den »Spiritus Sanctus«, den »Heiligen Geist« kennt, so können wir doch im weiteren Sinne in allen Religionen von Spiritualität sprechen. In allen Religionen gibt es folglich auch Mystik. Auch außerhalb des Christentums ist es zudem der Heilige Geist – wer sollte es sonst sein? –, der die Spiritualität und die Mystik bewirkt, soweit sie echt ist. Hier gelten das Wort des Johannes-Evangeliums: »Der Geist weht, wo er will« (Joh 3, 8). sowie die Mahnung des 1. Johannesbriefes: »Prüfet die Geister, ob sie aus Gott sind« (1 Joh 4, 1).

Wir verstehen die Spiritualität als kleine Mystik, als Mystik im weiteren Sinne. Auch im Christentum begegnet sie uns in sehr verschiedenen Formen. So unterscheiden wir zwischen evangelischer, orthodoxer und katholischer Spiritualität, wobei die evangelische Spiritualität differiert entsprechend den verschiedenen Denominationen, in denen sich das evangelische Christentum darstellt. Innerkirchlich untercheiden wir zwischen benediktinischer, franziskanischer, dominikanischer oder karmelitischer Spiritualität oder zwischen der priesterlichen Spiritualität und der Laienspiritualität. Soweit es sich um katholische Spiritualität handelt, müssen wir hier gemeinsame Elemente erkennen, müssen gemeinsame Elemente vorhanden sein, auf die man bei aller Akzentuierung bestimmter Ausdrucksformen nicht verzichten kann. Solche Elemente sind das sakramentale Leben, speziell die Mitfeier des eucharistischen Opfers und das Bußsakrament sowie die Marienverehrung und die Liebe zum Petrusamt.

Immer gehört zur Spiritualität auch die Meditation, das innere Gebet, die Betrachtung, wie sie nicht weniger wesentlich zur Mystik gehört. Ignatius von Loyola († 1556), der Gründer des Jesuitenordens, hat einst seinen Söhnen vorgeschrieben, jeden Tag eine Stunde der Betrachtung zu widmen.

Wenn sie heute vernachlässigt wird in der Kirche, die Meditation oder die Betrachtung – wir sprechen auch vom betrachtenden Gebet –, wenn die Meditation heute in der Kirche vernachlässigt wird, obwohl sie so oft thematisiert wird, so ist doch zu registrieren, dass die neuen geistlichen Gemeinschaften in der katholischen Kirche, deren Zahl nicht gerade gering ist, sich in der Regel wieder intensiv auf diese Übung besinnen.

Die Meditation ist ein integrales Moment der katholischen Spiritualität, und zwar seit eh und je. Sie ist, wenn sie intensiv gepflegt wird, gewissermaßen die Brücke vom spirituellen zum mystischen Leben. Man kann sie auch als die Seele der Spiritualität oder auch der Mystik bezeichnen. Sie ist der eigentliche Motor allen spirituellen Lebens.

Immer steht die Meditation im Kontext der Mystik. Deshalb ruft der Begriff »Meditation« heute durchweg positive Assoziationen hervor, nicht anders als der Begriff »Mystik«.

Im Jahre 1999 stellte der »Rheinische Merkur« in einem Artikel über die Chancen des religiösen Buches im Buchhandel fest, die Nachfrage nach religiösen Büchern im klassischen Sinne sei entsprechend dem Kreditverlust, den die Kirche in der Öffentlichkeit gefunden habe und entsprechend dem Rückgang des kirchlichen Einflusses in der Gesellschaft bis zu 20 % zurückgegangen, gleichzeitig aber erfreuten sich Bücher, die sich mit Spiritualität und Mystik beschäftigten, eines wachsenden Interesses und einer wachsenden Nachfrage. Da hieß es, ein Buch mit dem Titel »Fromm werden im Religionsunterricht« verkaufe sich etwa sehr viel schlechter als ein Buch mit dem Titel »Meditative Übungen für unruhige Geister«6.

Von der Spiritualität und der Mystik erwartet man Lebenshilfe. Mystik und Spiritualität stehen für religiöse Spontaneität, für Freiheit von Autoritäten, für Freiheit der Gestaltung des Lebens, für Überwindung des Formalismus, für erlebte Religiosität, für Glaubenserfahrung, Anti-Institutionalismus und Grenzerfahrungen.

Das religiöse Interesse, das uns hier begegnet, ist indessen nicht geordnet, sondern unverbindlich und schweifend. In ihm geht es letzten Endes um die Sinnsuche, wobei die Tendenz zu erkennen ist, dass man einen Sinn sucht, der möglichst billig zu haben ist. Solche Zusammenhänge machen auch das wachsende Interesse an den fremden Religionen verständlich, am Hinduismus, am Islam, am Judentum und vor allem am Buddhismus, ganz abgesehen davon, dass das Fremdartige immer eine besondere Faszination hat.

Wir werden hier fragen: Was ist Mystik? und eine genauere Definition dieses Phänomens geben. Wir werden fragen: Was geschieht in den mystischen Vorgängen?, und: Wie sind sie theologisch zu deuten und einzuordnen? Wir werden sodann fragen: Was ist das Spezifische der christlichen Mystik? Wie verhält sich die Mystik im Christentum zum normalen christlichen Leben? In welcher Beziehung steht die Mystik zum gewöhnlichen Leben des Getauften? Was können wir dem Alten Testament und dem Neuen Testament über die Mystik entnehmen? Und: Wie stellt sich die Mystik in der Geschichte der christlichen und der außerchristlichen Mystik dar?

Heute begegnet uns immer wieder der Versuch, die christliche Mystik in der Gestalt der christlichen Meditation mit der fernöstlichen Mystik und mit fernöstlichen Meditationsformen zu verschmelzen. Durch Verwendung nichtchristlicher Meditationsformen will man geistliche Erfahrungen hervorbringen und vermitteln, die denen der christlichen Mystiker ähnlich sind. Eine große Rolle spielt dabei die negative Theologie, teilweise geschieht das dergestalt, dass man gänzlich absieht von den Offenbarungsaussagen des Alten und des Neuen Testamentes, wenn man sie nicht gar völlig negiert.

Gerade die Hinwendung zur negativen Theologie und die Begeisterung für sie ist ein bedeutendes Element der gegenwärtigen Hinwendung zur Mystik. Dabei ist man von großer Skepsis bestimmt gegenüber der begrifflichen oder auch gegenüber der dogmatischen Formulierung des Glaubens. In diesem Kontext hat der Terminus »dogmatisch« nicht selten eine grundlegend negative Bedeutung, gilt er als Synonym für fundamentalistisch oder ideologisch.

Konstruierte oder gemachte Mystik begegnet uns heute in den charismatischen Gruppierungen, in den christlichen Gemeinschaften, die stark subjektivistisch bestimmt sind, oder in den charismatischen Elementen des Gottesdienstes in den verschiedenen christlichen Konfessionen wie auch nicht selten im katholischen Christentum, wo immer man sich willkürlich hinwegsetzt über die vorgegebenen Normen der Kirche.

Ein wichtiger Aspekt unserer Überlegungen wird auch der Vergleich der christlichen Mystik mit der Mystik in den außerchristlichen Religionen sein. Wir werden daher fragen: Was ist gleich in der Mystik des Christentums und in der Mystik der anderen Religionen und was ist verschieden? Wenn wir nach der Mystik des Christentums fragen, geht es uns speziell um die Mystik im katholischen Christentum, in dem die Mystik, allgemein gesprochen, eine bedeutendere Rolle spielt und sich auch stärker entfaltet hat als in den übrigen christlichen Gemeinschaften.

Eine nicht unbedeutende Rolle spielt heute die Mystik des New Age, die sich hier in spezifischer Weise ausprägt in der Gestalt des Okkultismus und nicht zuletzt auch der Drogenmystik. Wir würden diese Mystik als Mystizismus bezeichnen, weil es sich hier um einen klassischen Fall unechter Mystik handelt.

Das New Age versteht sich ex professo als Mystik. Faktisch handelt es sich hier jedoch um ein Surrogat, um eine Ersatzspiritualität, so würden wir jedenfalls aus christlicher Sicht sagen, die mit der christlichen Mystik nicht viel zu tun hat.

Wir fragen in diesem Zusammenhang nicht zuletzt nach den Unterschieden zwischen echter und unechter Mystik sowie nach den außerordentlichen Phänomenen der Mystik wie Visionen, Ekstasen, Levitationen, Stigmata, Nahrungslosigkeit, Kardiognosie, Unverweslichkeit von Leichnamen usw. Darin verwoben sind Fragen der Psychosomatik, der Parapsychologie und der Pastoralmedizin. Dabei stellt sich dann etwa auch die Frage, die man in gewissen Kreisen heute ohne Einschränkung – wohl fälschlicherweise – im bejahenden Sinne beantwortet: »Gibt es mystische Beziehungen zu den Verstorbenen?«

Eine gewichtige Frage, die uns bei unseren Überlegungen beschäftigen wird, nicht als ein eigenes Kapitel, sondern durchgehend, ist die nach der Bedeutung der Mystik für uns heute.

Man kann nicht von christlicher Mystik reden, ohne auch auf die großen Mystikerinnen und Mystiker des Mittelalters einzugehen, auf die Mystikerinnen Hildegard von Bingen (1098–1179), Mechthild von Hackeborn (1241–1299), Mechthild von Magdeburg (1212–1283), Gertrud die Große von Helfta (1256–1302) – übrigens die einzige Frau in der Geschichte, der man den Beinamen »die Große« gegeben hat – und viele andere. Eingehen muss man, wenn man von christlicher Mystik redet, vor allem auch auf die Mystiker Jan von Ruysbroek (1293–1381) – man bezeichnet ihn für gewöhnlich als den größten flämischen Mystiker –, Geert Groote (1340–1384) und Thomas von Kempen (1380–1471). »Die Nachfolge Christi« des Thomas von Kempen wurde zum meist gelesenen Erbauungsbuch des späten Mittelalters und hat bis heute seine fundamentale Bedeutung für das spirituelle Leben nicht verloren. Möglicherweise ist nicht Thomas von Kempen der Verfasser dieser Schrift, sondern Geert Groote, der gestorben ist, als Thomas von Kempen vier Jahre alt war. Thomas von Kempen hat das hohe Alter von 91 Jahren erreicht.

Ein bedeutender Mystiker der Kirche ist in der Neuzeit Ignatius von Loyola (1492–1556), der Gründer des Jesuitenordens. Er verbindet seine Mystik mit den Exerzitien, den geistlichen Übungen, wodurch damals ein neues Element in die Mystik einzog und die Mystik in weiteren Kreisen Fuß fassen konnte. Das hat nicht zuletzt große Bedeutung für den Erfolg der so genannten Gegenreformation, besser: der innerkirchlichen Reform im Anschluss an die Reformation, die eine Reform sein sollte, aber zu einer Reformation geworden ist. Ignatius von Loyola und der durch ihn gegründete Jesuitenorden sind das eigentliche Zentrum der innerkirchlichen Reform. Der Jesuitenorden wurde gegründet im Jahre 1534. Das besondere Merkmal dieses Ordens ist das die drei Gelübde der evangelischen Räte ergänzende Gelübde des besonderen Gehorsams gegenüber dem Papst.

Als die drei bedeutendsten Mystiker der Neuzeit bezeichnet man für gewöhnlich Theresia von Avila (1515–1582), Johannes vom Kreuz (1542–1591) und Franz von Sales (1567–1622).

Die Literatur über die Mystik ist sehr umfangreich und vielschichtig. Sie überschwemmt geradezu den Büchermarkt, meistens in zustimmender oder positiver Weise, nicht nur in der Gegenwart, in der Gegenwart aber in besonders auffallender Weise. Sie ist vielfach sehr kompliziert, die Literatur über die Mystik. Sehr häufig bringt sie aber auch substantiell nicht viel. Es wäre ein Leichtes, Hunderte von Titeln zusammenzutragen. Unter dem Stichwort »Mystik« werden im Katalog der Freiburger Universitätsbibliothek 1100 Titel angegeben, darunter befinden sich allein in den Jahren 2001 und 2002 über 100 Neuerscheinungen. »Der Christ der Zukunft – ein Mystiker?« war im Jahre 1991 das Thema der Salzburger Hochschulwochen.

In dieser Studie sollen die wichtigsten und bedeutendsten Veröffentlichungen über die Mystik aufbereitet dargeboten werden. Dabei soll auf manche Werke des Näheren eingegangen werden.

Sieben Kapitel umfasst diese Monographie. In ihnen geht es um eine Allgemeine Hinführung zum Thema (1), um das Wesen der Mystik (2), um die christliche Mystik bzw. um die Mystik im Christentum (3), um die Mystik im Alten und im Neuen Testament, um die Mystik in der Heiligen Schrift (4), um die Geschichte der christlichen Mystik (5), um die außerordentlichen Begleiterscheinungen der Mystik (6) und um die Mystik in den nichtchristlichen Religionen (7).

2. Diffuse Begeisterung,

Mystik als Esoterik, Magie, Aberglaube

Der Terminus »Mystik« ist heute in aller Munde, alle reden von Mystik. Das Wort »Mystik« ist so etwas wie ein Modewort geworden. Dabei bezeichnet man mit ihm allerdings recht disparate Dinge: Charismatisches, Schwärmerisches, Esoterisches, Irrationales, Verschwommenes oder gar Weltflüchtiges. Man spricht etwa von einem mystischen Dunkel und meint dann etwas in seiner Realität extrem Fragwürdiges.

Mit dem Begriff der Mystik verbinden sich – speziell im Christentum – Assoziationen wie Spiritualität, Gebet, Beschauung, Läuterung, dunkle Nacht, Erleuchtung, Erleuchtungsgnade, Ekstase, Einigung, Einsprechungen und Privatoffenbarungen.

Viele denken, wenn sie von Mystik hören, zunächst an außergewöhnliche Phänomene wie Visionen und Auditionen, Stigmatisation, Levitation, Nahrungslosigkeit, Unverweslichkeit, Heilungswunder und dergleichen. Diese Phänomene gehören auch zur Mystik, stehen aber nicht in ihrem Zentrum. Sie bewegen sich eher an der Peripherie der Wirklichkeit, die hier gemeint ist. Das Wesen der Mystik und der mystischen Vorgänge, ihr Inneres liegt tiefer, und vor allem ist die Mystik auf dieses Außen nicht angewiesen, weshalb wir diese außergewöhnlichen Phänomene für gewöhnlich als außerordentliche Begleiterscheinungen der Mystik bezeichnen. Es handelt sich bei ihnen, sofern sie echt sind, um außergewöhnliche Manifestationen der Mystik. Weil bei ihnen das Sinnenhafte, das Körperliche beteiligt ist, deshalb fallen sie mehr in den Blick, deshalb ist man oft geneigt, sie als den eigentlichen Ausdruck des mystischen Lebens anzusehen, faktisch sind sie jedoch im Kontext der Mystik im Grunde mehr oder weniger zufällige Phänomene7.

Manchen kommt die Mystik unheimlich vor, sie verschließen die Augen davor, wie man die Augen vor Geheimnisvollem und Unverständlichem verschließt. Andere wieder wenden sich ihr begeistert zu. Im Allgemeinen steht man ihr eher positiv gegenüber als negativ. Dabei ist die Mystik und das, was man dafür hält, heute sehr häufig zu einem Tummelplatz verschwommener Ideen geworden, wenn man alles Mögliche unter Mystik versteht. Das darf nicht übersehen werden.

Nicht wenige sind in diesem Kontext fixiert auf die außerordentlichen Begleiterscheinungen der Mystik. Das heißt: Sie denken bei der Mystik an parapsychologische Phänomene oder an psychoreligiöse Praktiken, wie sie in esoterischen Zirkeln geübt werden. Wieder andere denken an eine Sonderform weltverneinender Spiritualität.

In wissenschaftlichen Darstellungen identifiziert man Mystik vielfach mit Magie und Aberglaube, bezeichnet man als Mystik alles, was im Dunkel und Zwielicht angesiedelt ist, unterscheidet man also nicht zwischen Mystik und Mystizismus. So liest man etwa auch in seriösen Darstellungen, die Mystik sei die Magie der Primitiven, sie sei das Nirwana des Buddhismus, der Neuplatonismus eines Plotin, der Tanz des indischen Derwisches usw.

Nicht selten fasst man unter Mystik einerseits skurrile Formen des Aberglaubens, den ganzen Bereich des Okkulten, des Magischen, des Mantischen und des Astrologischen, also jene Bereiche, die man in einer tiefer durchreflektierten Gestalt dieser Materie unter den Begriff des »Mystizismus« fassen würde, und andererseits die durchgeistigte Mystik eines Meister Eckhart und einer Hildegard von Bingen8.

Häufiger sieht man die Mystik auch einfach als eine Unterabteilung der Esoterik an, als eine Art von Frömmigkeit oder Religiosität, die einen Zug zum Geheimen hat und in kleinen Gruppen von Eingeweihten gepflegt wird. In einem gewissen Gegensatz dazu steht jenes Verständnis von Mystik, das die Mystik einfach als eine Sonderform weltverneinender Spiritualität definiert.

Der Bogen dessen, was man unter Mystik versteht, ist also weit gespannt, wenn man einerseits sensationelle und ungewöhnliche Vorgänge sowie skurrile Formen des Aberglaubens als Mystik bezeichnet, andererseits die durchgeistigte Spiritualität eines Meister Eckhart († 1328) und einer Hildegard von Bingen († 1179). Den Dominikaner Meister Eckhart hat man immer wieder als den Fürsten der mittelalterlichen Mystik bezeichnet.

Ein gemeinsamer Nenner könnte hier gefunden werden, wenn man alles das als Mystik bezeichnen würde, was in irgendeiner Weise im Dunkel und Zwielicht das alltägliche Menschsein übersteigt und irgendwie religiös geprägt ist, religiös im weitesten Sinne des Wortes9.

Das esoterische Verständnis der Mystik ist sehr verbreitet, vor allem in der Volksmeinung. Richtig daran ist, dass die Mystik naturgemäß – nicht nur die christliche Mystik – immer in gewisser Weise in einem Zusammenhang mit der Esoterik steht oder dass die Esoterik sich ex professo als Mystik versteht. Die Brücke bildet hier die Hinordnung auf das Übersinnliche, das sich in der Religion allerdings, speziell in der christlichen, als Transzendenz darstellt. Die Transzendenz aber ist das »Ganz Andere«, das »totaliter aliter«, während das Übersinnliche als die Kehrseite der natürlichen Wirklichkeit verstanden werden muss.

In den esoterischen Kreisen geht es um Lehren und Handlungen bezüglich des Übersinnlich-Übermenschlichen, von denen man meint, sie seien nur einem begrenzten Kreis von Eingeweihten, Einverstandenen und Erleuchteten, nicht aber der Allgemeinheit verständlich. An die Stelle des Glaubens für alle tritt in der Esoterik die Erkenntnis, die Gnosis. Die Gnosis ist nur für wenige gedacht, für jene, die man durch die Initiation in besondere Bewusstseinszustände, durch mystisch-meditative Versenkung und Intuition und durch symbolische Deutekunst erreicht. Die Esoteriker setzen auf verborgene und innerliche Kenntnisse und distanzieren sich damit von der allgemein anerkannten, von der so genannten exoterischen Wissenschaft und Religion. Die Wissenschaften und die Religionen sind für die Esoteriker gleichermaßen exoterisch, während die Esoteriker sich selber immer als elitär verstehen, ihre Lehren und Praktiken geheim halten und auf Erkenntnis und Erleuchtung setzen.

Demgegenüber ist die echte Mystik nicht elitär in diesem Sinne, ist sie vielmehr für alle bestimmt, wie auch die Religion auf alle hingeordnet ist. Für Eingeweihte sind demgegenüber die Mysterienreligionen bestimmt. Tendenzen zum Elitären gibt es freilich immer wieder auch in den Religionen und auch im Christentum. Dort setzen sie sich jedoch nicht durch, auch nicht in der offiziellen Mystik.