Die Kapuzinergruft

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Meine Freunde also waren es, die mich hinderten, der Stimme der Natur und der Vernunft zu gehorchen und meinem Gefühl für die geliebte Elisabeth ebenso freien Ausdruck zu verleihen wie meiner kindlichen Liebe zu meiner Mutter.

Aber es sollte sich ja auch darauf zeigen, daß diese Sünden, die meine Freunde und ich auf unsere Häupter luden, gar nicht unsere persönlichen waren, sondern nur die schwachen Vorzeichen der kommenden Vernichtung, von der ich bald erzählen werde.

Kapitel 6

Vor dieser großen Vernichtung war mir noch die Begegnung mit dem Juden Manes Reisiger beschieden, von dem noch später die Rede sein wird.

Er stammte aus Zlotogrod in Galizien. Eine kurze Zeit später lernte ich dieses Zlotogrod kennen, und ich kann es also hier beschreiben. Es erscheint mir deshalb wichtig, weil es nicht mehr existiert, ebensowenig wie Sipolje. Es wurde nämlich im Kriege vernichtet. Es war einst ein Städtchen, ein kleines Städtchen, aber immerhin ein Städtchen. Heute ist es eine weite, große Wiese. Klee wächst im Sommer dort, die Grillen zirpen im hohen Gras, die Regenwürmer gedeihen dort fett geringelt und groß, und die Lerchen stoßen jäh herunter, um sie zu fressen.

Der Jude Manes Reisiger kam eines Tages im Oktober zu einer ebenso frühen Morgenstunde zu mir, wie ein paar Monate vorher sein Freund, mein Vetter Branco, zu mir gekommen war. Und er kam auf die Empfehlung meines Vetters Joseph Branco. »Junger Herr«, sagte Jacques, »ein Jude möchte den jungen Herrn sprechen.« Ich kannte damals ein paar Juden, freilich Wiener Juden. Ich haßte sie keineswegs, und zwar gerade deshalb, weil um jene Zeit der positive Antisemitismus der Noblesse und der Kreise, in denen ich verkehrte, eine Mode der Hausmeister geworden war, der Kleinbürger, der Schornsteinfeger, der Tapezierer. Dieser Wandel war durchaus jenem der Mode analog, der da bewirkte, daß die Tochter eines Rathausdieners genau die gleiche Pleureuse auf den Sonntagshut steckte, die eine Trautmannsdorff oder eine Szechenyi drei Jahre vorher am Mittwoch getragen hatte. Und ebensowenig wie heute eine Szechenyi die Pleureuse anstecken konnte, die den Hut der Magistratsdienertochter zierte, ebensowenig konnte die gute Gesellschaft, zu der ich mich zählte, einen Juden geringschätzen – einfach deshalb, weil es bereits mein Hausmeister tat.

Ich ging ins Vorzimmer, und ich war darauf vorbereitet, einen jener Juden zu sehen, die ich kannte und deren Beruf ihren körperlichen Aspekt imprägniert, ja sogar gebildet zu haben schien. Ich kannte Geldwechsler, Hausierer, Kleiderhändler und Klavierspieler in Bordellen. Als ich nun ins Vorzimmer trat, erblickte ich einen Mann, der nicht nur keineswegs meinen gewohnten Vorstellungen von einem Juden entsprach, sondern sie sogar vollkommen zu zerstören hätte imstande sein können. Er war etwas unheimlich Schwarzes und unheimlich Kolossales. Man hätte nicht sagen können, daß sein Vollbart, sein glatter blauschwarzer Vollbart, das braune, harte, knochige Angesicht umrahmte. Nein, das Angesicht wuchs geradezu aus dem Bart hervor, als wäre der Bart gleichsam früher dagewesen, vor dem Antlitz noch, und als hätte er jahrelang darauf gewartet, es zu umrahmen und es zu umwuchern. Der Mann war stark und groß. In der Hand hielt er eine schwarze Ripsmütze mit Schirmrand, und auf dem Kopf trug er ein rundes, samtenes Käppchen, nach der Art, wie es manchmal geistliche Herren tragen. Er stand so, hart an der Tür, gewaltig, finster, wie eine gewichtige Macht, die roten Hände zu Fäusten geballt, sie hingen wie zwei Hämmer aus den schwarzen Ärmeln seines Kaftans. Er zog aus dem inneren Lederrand seiner Ripsmütze den schmal gefalteten slowenischen Brief meines Vetters Joseph Branco hervor. Ich bat ihn sich zu setzen, aber er lehnte schüchtern ab, mit den Händen, und diese Ablehnung erschien mir um so schüchterner, als sie mit diesen Händen vorgebracht worden war, von denen jede imstande gewesen wäre, mich, das Fenster, den kleinen Marmortisch, den Kleiderständer und überhaupt alles, was im Vorzimmer vorhanden war, zu zertrümmern. Ich las den Brief. Aus dem erfuhr ich, daß der Mann, der da vor mir stand, Manes Reisiger aus Zlotogrod war, ein Kutscher seines Zeichens, Freund meines Vetters Joseph Branco, der auf seiner alljährlichen Rundreise durch die Kronländer der Monarchie, in denen er die Maroni verkaufte, bei ihm, dem Überbringer des Briefes, Kost und freien Aufenthalt genoß, und daß ich verpflichtet sei, im Namen unserer Verwandtschaft und unserer Freundschaft, dem Manes Reisiger behilflich zu sein – in allem, was er von mir wünschte.

Und was wünschte er, der Manes Reisiger aus Zlotogrod?

Nichts anderes als einen Freiplatz im Konservatorium für seinen hochbegabten Sohn Ephraim. Der sollte kein Kutscher werden und auch nicht im fernen Osten der Monarchie verkommen. Der Ansicht des Vaters nach war Ephraim ein genialer Musiker.

Ich versprach alles. Ich machte mich auf den Weg zu meinem Freund, dem Grafen Chojnicki, der unter all meinen Freunden erstens der einzige Galizianer war und zweitens allein imstande, die uralte, die traditionelle, die wirksame Widerstandskraft der alten österreichischen Beamten zu brechen: durch Drohung, Gewaltanwendung, Tücke und Hinterlist, die Waffen einer alten, längst versunkenen Kulturwelt: eben unserer Welt.

Am Abend traf ich den Grafen Chojnicki in unserem Café Wimmerl. Ich wußte wohl, daß man ihm kaum einen größeren Gefallen bereiten konnte, als wenn man ihn bat, für einen seiner Landsleute Vergünstigungen zu verschaffen. Er hatte nicht nur keinen Beruf, er hatte auch keine Beschäftigung. Er, der in der Armee, in der Verwaltung, in der Diplomatie eine sogenannte »brillante Karriere« hätte einschlagen können und der sie geradezu ausgeschlagen hatte, aus Verachtung gegen die Trottel, die Tölpel, die Pallawatsche, alle jene, die den Staat verwalteten und die er »Knödelhirne« zu nennen liebte, machte sich ein delikates Vergnügen daraus, Hofräte seine Macht fühlen zu lassen, die wirkliche Macht eben, die gerade eine nicht-offizielle Würde verlieh. Und er, der so freundlich, so nachsichtig, ja entgegenkommend Kellnern, Kutschern, Dienstmännern und Briefträgern gegenüber war, der niemals versäumte, den Hut abzunehmen, wenn er einen Wachmann oder einen Portier um irgendeine gleichgültige Auskunft bat, bekam ein kaum wiedererkennbares Gesicht, wenn er eine seiner Protektionsdemarchen am Ballhausplatz, in der Statthalterei, im Kultus- und Unterrichtsministerium unternahm: Ein eisiger Hochmut lag, ein durchsichtiges Visier, über seinen Zügen. War er noch unten vor dem livrierten Portier am Portal einigermaßen herablassend, manchmal sogar gütig, so steigerte sich sein Widerstand gegen die Beamten sichtbarlich bei jeder Stufe, die er emporstieg, und war er einmal im letzten Stock angekommen, machte er den Eindruck eines Mannes, der hierhergekommen war, um ein fürchterliches Strafgericht zu halten. Man kannte ihn schon in einigen Ämtern. Und wenn er im Korridor dem Amtsdiener mit einer gefährlich leisen Stimme sagte: »Melden Sie mich beim Hofrat!«, so fragte man nur selten nach seinem Namen, und geschah es dennoch, wiederholte er, womöglich noch leiser: »Melden Sie mich sofort bitte!« Das Wort »bitte!« klang allerdings schon lauter.

Er liebte überdies die Musik, und auch deswegen erschien es mir angebracht, seine Unterstützung für den jungen Reisiger in Anspruch zu nehmen. Er versprach sofort, am nächsten Tag schon alles zu versuchen. So prompt war seine Hilfsbereitschaft, daß ich bereits anfing, mein Gewissen belastet zu fühlen, und ihn also fragte, ob er nicht vielleicht lieber erst eine Probe für das Talent des jungen Reisiger haben wollte, bevor er sich für ihn einsetzte. Er aber geriet darüber in Aufregung. »Sie kennen vielleicht Ihre Slowenen«, sagte er, »aber ich kenne meine galizischen Juden. Der Vater heißt Manes und ist ein Fiaker, wie Sie mir eben erzählen. Der Sohn heißt Ephraim, und all dies genügt mir vollkommen. Ich bin von dem Talent des Jungen ganz überzeugt. Ich weiß so was, dank meinem sechsten Sinn. Meine galizischen Juden können alles. Vor zehn Jahren noch habe ich sie nicht gemocht. Jetzt sind sie mir lieb, weil diese Knödelhirne angefangen haben, Antisemiten zu sein. Ich muß mich nur erkundigen, welche Herren eigentlich an den zuständigen Stellen sitzen, und besonders, welche unter ihnen Antisemiten sind. Denn ich will sie mit dem kleinen Ephraim ärgern, und ich werde auch mit dem Alten zusammen hingehen. Hoffentlich sieht er recht jüdisch aus.«

»Er trägt einen halblangen Kaftan«, sagte ich. »Gut, gut«, rief Graf Chojnicki, »das ist mein Mann. Wissen Sie, ich bin kein Patriot, aber meine Landsleute liebe ich. Ein ganzes Land, ein Vaterland gar, ist etwas Abstraktes. Aber ein Landsmann ist etwas Konkretes. Ich kann nicht alle Weizen- und Kornfelder, alle Tannenwälder, alle Sümpfe lieben, alle polnischen Herren und Damen. Aber ein bestimmtes Feld, ein Wäldchen, einen Sumpf, einen Menschen: à la bonheur! Das sehe ich, das greife ich, das spricht in der Sprache, die mir vertraut ist, das ist just, weil es einzeln ist, der Inbegriff des Vertrauten. Und im übrigen gibt es auch Menschen, die ich Landsleute nenne, auch wenn sie in China, Persien, Afrika geboren sind. Manche sind mir auf den ersten Blick vertraut. Was ein richtiger ›Landsmann› ist, das fällt einem als Zeichen der Gnade vom Himmel in den Schoß. Ist er außerdem noch auf meiner Erde geboren: à la bonheur. Aber das zweite ist ein Zufall, und das erste ist ein Schicksal.«

Er hob das Glas und rief: »Es leben die Landsleute, meine Landsleute aus allen Weltgegenden!«

Zwei Tage später schon brachte ich ihm den Fiaker Manes Reisiger ins Hotel Kremser. Manes saß knapp auf dem Sesselrand, unbeweglich, ein kolossales schwarzes Wesen. Er sah aus, als hätte er sich nicht selbst, als hätte ihn irgendein anderer hingesetzt, zufällig, an den Rand, und als wäre er selbst außerstande, den ganzen Platz einzunehmen. Außer den zwei Sätzen, die er von Zeit zu Zeit und ohne Zusammenhang wiederholte – nämlich: »Ich bitte sehr, die Herren!« und: »Ich danke sehr, die Herren!« –, sagte er nichts, und er schien auch ziemlich wenig zu verstehen. Es war Chojnicki, der dem Fiaker Manes aus Zlotogrod erzählte, wie es in Zlotogrod aussehe; denn Chojnicki kannte alle Gegenden in Galizien.

 

»Also morgen elf Uhr gehn wir, die Geschichte ordnen«, sagte er.

»Ich danke sehr, die Herren!« sagte Manes. Er schwenkte mit der einen Hand die Ripsmütze und lüftete mit der anderen das Käppchen. Er verneigte sich noch einmal an der Tür, die ihm der Portier offenhielt und dem er dankbar und beglückt zulächelte.

In der Tat war ein paar Wochen später der junge Ephraim Reisiger im Konservatorium untergebracht. Der Junge kam zu Chojnicki, um sich zu bedanken. Auch ich war damals in Chojnickis Hotel. Der junge Ephraim Reisiger sah beinahe finster drein, und während er sich bedankte, machte er den Eindruck eines Jünglings, der einen Vorwurf vorzubringen hat. Er sprach polnisch, ich verstand, dank meinem Slowenisch, nur jedes dritte Wort. Aber ich begriff, nach den Mienen und den Blicken des Grafen Chojnicki, daß ihm die vorwurfsvolle und eigentlich arrogante Haltung des Jungen gefiel.

»Das ist was!« sagte er, nachdem der Junge gegangen war. »Bei uns zu Lande sagen die Leute einem nicht: Danke schön! – sondern eher das Gegenteil. Es sind stolze Menschen, die galizischen Juden, meine galizischen Juden! Sie leben in der Vorstellung, daß ihnen alle Vorzugsstellungen einfach gebühren. Mit dem großartigen Gleichmut, mit dem sie auf Steinwürfe und Beschimpfungen reagieren, nehmen sie die Vergünstigungen und Bevorzugungen entgegen. Alle anderen empören sich, wenn man sie beschimpft, und ducken sich, wenn man ihnen Gutes tut. Meine polnischen Juden allein berührt weder ein Schimpf noch eine Gunst. In ihrer Art sind sie Aristokraten. Denn das Kennzeichen des Aristokraten ist vor allem anderen der Gleichmut; und nirgends habe ich einen größeren Gleichmut gesehen als bei meinen polnischen Juden!«

Er sagte meine polnischen Juden in dem gleichen Ton, in dem er mir gegenüber so oft gesagt hatte: meine Güter, meine van Goghs, meine Instrumentensammlung. Ich hatte die deutliche Empfindung, daß er die Juden zum Teil deshalb so schätzte, weil er sie als sein Eigentum betrachtete. Es war, als wären sie nicht nach Gottes Willen in Galizien zur Welt gekommen, sondern als hätte er sie sich beim Allmächtigen persönlich bestellt, wie er sich persische Teppiche bei dem bekannten Händler Pollitzer zu bestellen pflegte, Papageien bei dem italienischen Vogelhändler Scapini und alte, seltene Instrumente bei dem Geigenmacher Grossauer. Und mit der gleichen Sorgfalt, mit der gleichen umsichtigen Noblesse, mit der er Teppiche, Vögel, Instrumente behandelte, kam er auch seinen Juden entgegen; dermaßen, daß er es für seine selbstverständliche Pflicht hielt, dem Vater des ziemlich arroganten Jungen, dem braven Fiaker Manes, einen Brief zu schreiben, einen Glückwunsch zur Aufnahme des Ephraim im Konservatorium. Denn Chojnicki hatte Angst, der Fiaker Manes könnte ihm mit einem Dankbrief zuvorkommen.

Der Fiaker Manes Reisiger aber, weit davon entfernt, Dankesbriefe zu schreiben, und vollkommen unfähig, die Gunst des Schicksals zu ermessen, die ihn und seinen Sohn in des Grafen Chojnicki und in meine Nähe gebracht hatte, vielmehr zu der Annahme geneigt, daß seines Sohnes Ephraim Talent so übermäßig groß war, daß ein Wiener Konservatorium beglückt sein müßte, einen solchen Sohn zu beherbergen, besuchte mich zwei Tage später und begann folgendermaßen: »Wenn einer etwas kann in dieser Welt, wird er etwas. Ich habe das meinem Sohn Ephraim immer gesagt. Es ist auch so gekommen. Es ist mein einziger Sohn. Er spielt großartig Geige. Sie müssen ihn einmal bitten, daß er Ihnen etwas vorspielt. Und er ist stolz. Wer weiß, ob er es wirklich tut!« – Es war so, als hätte ich dem Fiaker Manes dafür zu danken, daß es mir vergönnt gewesen war, seinem Sohn einen Platz im Konservatorium zu verschaffen. »Ich habe gar nichts mehr hier in Wien zu suchen«, fuhr er fort, »ich werde morgen nach Hause fahren.«

»Sie müssen«, sagte ich ihm, »noch dem Grafen Chojnicki einen Besuch machen, um sich bei ihm zu bedanken.«

»Ein feiner Herr Graf!« sagte Manes, mit Anerkennung. »Ich werde ihm adieu sagen. Hat er meinen Ephraim schon spielen gehört?«

»Nein!« sagte ich, »Sie sollten ihn darum bitten!«

Der Zug des Fiakers Manes Reisiger ging um elf Uhr abends, gegen acht Uhr kam er zu mir und bat mich, das heißt: er befahl mir beinahe, ihn in das Hotel des Grafen Chojnicki zu führen.

Gut, ich führte ihn hin. Chojnicki war dankbar und fast entzückt. Ja, er war sogar gerührt. »Wie großartig«, riet er, »daß er zu mir kommt, um mir zu danken. Ich habe Ihnen gleich gesagt: So sind unsere Juden!«

Schließlich dankte er dem Fiaker Manes dafür, daß dieser ihm Gelegenheit gegeben hatte, ein Genie der Welt erhalten zu haben. Es hörte sich an, als ob Chojnicki seit zehn oder seit zwanzig Jahren auf nichts anderes gewartet hätte als auf den Sohn des Manes Reisiger und als sei ihm nunmehr ein längst gehegter und sorgsam gepflegter Wunsch endlich in Erfüllung gegangen. Er bot sogar Manes Reisiger aus lauter Dankbarkeit Geld für die Rückreise an. Der Fiaker Manes lehnte ab, aber er lud uns beide ein, zu ihm zu kommen. Er hätte ein Haus, sagte er, drei Zimmer, eine Küche, einen Stall für sein Pferd und einen Garten, wo sein Wagen und sein Schlitten stünden. Oh, er sei gar kein armer Fiaker. Er verdiente sogar fünfzig Kronen im Monat. Und wenn wir zu ihm kommen wollten, würde es uns großartig ergehen. Er würde schon dafür sorgen, daß wir nichts zu entbehren hätten.

Er vergaß auch nicht, Chojnicki und mich daran zu erinnern, daß wir geradezu die Pflicht hätten, uns um seinen Sohn Ephraim zu kümmern. »So ein Genie muß man pflegen!« sagte er beim Abschied.

Chojnicki versprach es; und auch, daß wir im nächsten Sommer bestimmt nach Zlotogrod kommen würden.

Kapitel 7

Hier an dieser Stelle muß ich von einer wichtigen Angelegenheit sprechen, von der ich, als ich dieses Buch zu schreiben anfing, gehofft hatte, ich könnte sie umgehen. Es handelt sich nämlich um nichts anderes als die Religion.

Ich war ungläubig, wie meine Freunde, wie alle meine Freunde. Ich ging niemals zur Messe. Wohl aber pflegte ich meine Mutter bis vor den Eingang zur Kirche zu begleiten, meine Mutter, die zwar vielleicht nicht gläubig war, wohl aber »praktizierend«, wie man sagt. Damals haßte ich die Kirche geradezu. Ich weiß heute, da ich gläubig bin, zwar nicht mehr, warum ich sie haßte. Es war »Mode« sozusagen.

Ich hätte mich geschämt, wenn ich meinen Freunden hätte sagen müssen, daß ich zur Kirche gegangen sei. Es war keine wirkliche Feindseligkeit gegen die Religion in ihnen, sondern eine Art Hochmut, die Tradition anzuerkennen, in der sie aufgewachsen waren. Zwar wollten sie das Wesentliche ihrer Tradition nicht aufgeben; aber sie – und ich gehörte zu ihnen –, wir rebellierten gegen die Formen der Tradition, denn wir wußten nicht, daß wahre Form mit dem Wesen identisch sei und daß es kindisch war, eines von dem andern zu trennen. Es war kindisch, wie gesagt: aber wir waren damals eben kindisch. Der Tod kreuzte schon seine knochigen Hände über den Kelchen, aus denen wir tranken, fröhlich und kindisch. Wir fühlten ihn nicht, den Tod. Wir fühlten ihn nicht, weil wir Gott nicht fühlten. Unter uns war Graf Chojnicki der einzige, der noch an den religiösen Formen festhielt, aber auch nicht etwa aus Gläubigkeit, sondern dank dem Gefühl, daß die Noblesse ihn dazu verpflichtete, die Vorschriften der Religion zu befolgen. Er hielt uns andere, die wir sie vernachlässigten, für halbe Anarchisten. »Die römische Kirche«, so pflegte er zu sagen, »ist in dieser morschen Welt noch die einzige Formgeberin, Formerhalterin. Ja, man kann sagen, Formspenderin. Indem sie das Traditionelle des sogenannten ›Althergebrachten› in der Dogmatik einsperrt wie in einem eisigen Palast, gewinnt und verleiht sie ihren Kindern die Freiheit, ringsum, außerhalb dieses Eispalastes, der einen weiten, geräumigen Vorhof hat, das Lässige zu treiben, noch das Verbotene zu verzeihen beziehungsweise zu führen. Indem sie Sünden statuiert, vergibt sie bereits diese Sünden. Sie gestattet geradezu keine fehlerlosen Menschen: Dies ist das eminent Menschliche an ihr. Ihre tadellosen Kinder erhebt sie zu Heiligen. Dadurch allein gestattet sie implicite die Fehlerhaftigkeit der Menschen. Ja, sie gestattet die Sündhaftigkeit in dem Maße, daß sie jene Wesen nicht mehr für menschlich hält, die nicht sündhaft sind: Die werden selig oder heilig. Dadurch bezeugt die römische Kirche ihre vornehmste Tendenz, zu verzeihen, zu vergeben. Es gibt keine noblere Tendenz als die Verzeihung. Bedenken Sie, daß es keine vulgärere gibt als die der Rache. Es gibt keine Noblesse ohne Großzügigkeit, wie es keine Rachsucht gibt ohne Vulgarität.«

Er war der Älteste und Klügste unter uns, der Graf Chojnicki; aber wir waren zu jung und zu töricht, um seiner Überlegenheit jene Verehrung zu zollen, die sie gewiß verdiente. Wir hörten ihm eher gefällig zu, und obendrein bildeten wir uns noch ein, daß wir ihm eine Liebenswürdigkeit erwiesen, indem wir ihm zuhörten. Er war für uns sogenannte Junge ein älterer Herr. Später erst, im Kriege, war es uns beschieden zu sehen, um wieviel jünger er in Wahrheit war als wir.

Aber spät erst, viel zu spät, sahen wir ein, daß wir zwar nicht jünger waren als er, sondern einfach ohne Alter, sozusagen unnatürlich ohne Alter. Dieweil er natürlich war, würdig seiner Jahre, echt und gottgesegnet.

Kapitel 8

Ein paar Monate später erhielt ich den folgenden Brief von dem Fiaker Manes Reisiger:

»Sehr verehrter Herr!

Nach der großen Ehre und der großen Dienstleistung, die Sie mir erwiesen haben, erlaube ich mir ergebenst, Ihnen mitzuteilen, daß ich Ihnen sehr, sehr dankbar bin. Mein Sohn schreibt mir, daß er Fortschritte im Konservatorium macht, und sein ganzes Genie habe ich Ihnen zu verdanken. Ich danke Ihnen auch von Herzen. Gleichzeitig erlaube ich mir ergebenst, Sie zu bitten, ob Sie nicht die große Güte hätten, hierher, zu uns, zu kommen. Ihr Cousin, der Maronibrater Trotta, wohnt immer, das heißt: seit zehn Jahren, bei mir, jeden Herbst. Ich habe mir vorgestellt, daß es auch Ihnen angenehm wäre, bei mir zu wohnen. Mein Häuschen ist arm, aber geräumig.

Sehr verehrter Herr! Nehmen Sie mir gefälligst diese Einladung nicht übel. Ich bin so klein, und Sie sind so groß! Verehrter Herr! Ich bitte auch um Entschuldigung, daß ich diesen Brief schreiben lasse. Ich kann nämlich selbst nicht schreiben, außer meinem Namen. Diesen Brief schreibt, auf meinen Willen, der öffentlich konzessionierte Schreiber unseres Ortes, Hirsch Kiniower, also ein zuverlässiger, ordentlicher und amtlicher Mensch. Des sehr verehrten Herrn ergebener:

Manes Reisiger, Fiaker in Zlotogrod«

Der ganze Brief war in sorgfältiger, kalligraphischer Schrift geschrieben: »Wie gedruckt« sagte man damals von dieser Art Schrift. Nur die Unterschrift, der Name eben, verriet die rührende Ungelenkigkeit der Fiakerhand. Dieser Anblick der Unterschrift allein hätte mir genügt, meinen Entschluß zu fassen und meine Reise nach Zlotogrod für den nächsten Frühherbst festzusetzen. Sorglos waren wir damals alle, und ich war sorglos wie alle die anderen. Unser Leben war vor dem großen Krieg idyllisch, und schon eine Reise nach dem fernen Zlotogrod schien uns allen ein Abenteuer. Und daß ich der Held dieses Abenteuers sein sollte, war mir selbst eine großartige Gelegenheit, großartig vor meinen Freunden dazustehen. Und obwohl diese abenteuerliche Reise noch so weit vor uns lag und obwohl ich allein sie zu machen hatte, sprachen wir doch jeden Abend von ihr, als trennte mich lediglich eine Woche von Zlotogrod und als hätte ich sie nicht allein, sondern wir alle gemeinsam zu unternehmen. Allmählich wurde diese Reise für uns alle eine Leidenschaft, sogar eine Besessenheit. Und wir begannen, uns das ferne, kleine Zlotogrod sehr willkürlich auszumalen, dermaßen, daß wir selbst schon, während wir noch Zlotogrod schilderten, überzeugt waren, wir entwürfen davon ein ganz falsches Bild; und daß wir dennoch nicht aufhören konnten, diesen Ort, den keiner von uns kannte, zu entstellen. Das heißt: mit allerhand Eigenschaften auszustatten, von denen wir von vornherein wußten, sie seien die willkürlichen Ergebnisse unserer Phantasie und keineswegs die realen Qualitäten dieses Städtchens.

 

So heiter war damals die Zeit! Der Tod kreuzte schon seine knochigen Hände über den Kelchen, aus denen wir tranken. Wir sahen ihn nicht, wir sahen nicht seine Hände. Wir sprachen von Zlotogrod dringlich so lange und so intensiv, daß ich von der Furcht erfaßt wurde, es könnte eines Tages plötzlich verschwinden oder meine Freunde könnten zu glauben anfangen, jenes Zlotogrod sei unwirklich geworden und es existierte gar nicht und ich hätte ihnen nur davon erzählt. Plötzlich erfaßten mich die Ungeduld und sogar die Sehnsucht nach diesem Zlotogrod und nach dem Fiaker namens Reisiger.

Mitten im Sommer des Jahres 1914 fuhr ich hin, nachdem ich Vetter Trotta nach Sipolje geschrieben hatte, daß ich ihn dort erwarte.

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