Buch lesen: «Kulturkampf»
Mit Beiträgen haben das Buchprojekt unterstützt:
Kanton Aargau, Swisslos-Fonds
Koch-Berner-Stiftung
Fondation Emmy Ineichen
Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.
Lektorat: Rachel Camina, Hier und Jetzt
Gestaltung und Satz: Christine Hirzel, Hier und Jetzt
© 2016 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Baden
ISBN Druckausgabe 978-3-03919-398-1
ISBN E-Book 978-3-03919-919-8
Ein Essay von Josef Lang
Keine Streitfrage hat die Eidgenossenschaft und die Schweiz seit der Französischen Revolution derart heftig aufgewühlt und derart stark geprägt wie die des Verhältnisses zwischen Tradition und Fortschritt, Glauben und Vernunft, Religion und Gemeinwesen, Konfessionen und Nation. Der Kulturkampf des 19. Jahrhunderts dauerte einiges länger als «die Episode der 1870er-Jahre», die gemäss dem Historiker Herbert Lüthy «nur noch Epilog» war. Der Katholizismusforscher Urs Altermatt, der diesen Begriff aufnimmt, spricht deshalb von einem «Kulturkampf avant la lettre», der «in den dreissiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt» erreichte – insbesondere mit der Aargauer Klosteraufhebung 1841 und dem «Jesuitensturm» 1844–1847. Im Sinne von Lüthy und Altermatt wird in diesem Essay der Begriff Kulturkampf angewendet auf das halbe Jahrhundert zwischen den frühen 1830er- und den frühen 1880er-Jahren, wobei das Schwergewicht auf die entscheidendere und dramatischere Regenerationszeit gelegt wird. Das die Schlussphase des langen Kulturkampfs relativierende Wort «Epilog» stimmt hinsichtlich der kirchenpolitischen, aber nicht der bürgerrechtlichen und weltanschaulichen Auseinandersetzungen. Die Schlüsselfrage des Kulturkampfs im jungen Bundesstaat lautete: christlicher oder säkularer Staat? Deshalb wird auf die Judenemanzipation, die Krone des Kulturkampfs, besonderes Gewicht gelegt.
Über die damaligen Auseinandersetzungen schrieb der französische Historiker René Rémond in seinem Buch Religion und Gesellschaft in Europa: «In der ganzen Zeitgeschichte gibt es wahrscheinlich keine Debatte, in der die Ideologie eine entscheidendere Rolle gespielt hätte.» Auch in der Schweiz war der Kulturkampf trotz ihrer zwei starken Konfessionen etwas ganz anderes als eine blosse Fortsetzung der alten Glaubenskämpfe. Der Historiker Ferdinand Strobel hielt in seinem Standardwerk über die Jesuiten und die Schweiz fest: «Der eigentliche Charakter der Auseinandersetzung war […] weltanschaulich-ideologischer Art.» Dem fügte der konservative Jesuitenpater bei: «Es hiesse deshalb die schweizerische Entwicklung vor 1848 völlig verkennen, wenn man […] im Sonderbundskrieg einen rein politischen oder konfessionellen Krieg sehen wollte.» Im europäischen Sammelband Culture Wars schreibt Heidi Bossard-Borner über die Schweiz, dass «nicht konfessionelle Spaltung zwischen Protestanten und Katholiken, sondern eher die ideologische Spaltung zwischen Konservativismus und Liberalismus oder Radikalismus» zu Kulturkämpfen führte.1
Innerkatholischer Konflikt
Die zwei ideologischen Blöcke, die in der Schweiz zusammenstiessen, wurden von den beiden mächtigsten sozialen Bewegungen getragen, die es in unserem Land – abgesehen von der Arbeiterbewegung des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts – gegeben hat. Auf der Linken kämpfte ein überkonfessioneller Liberalismus, der sich nach dem Zürcher Straussenputsch 1839 radikalisierte, für «Aufklärung» und gegen «Finsternis». Auf der Rechten kämpfte der katholische Ultramontanismus, der sich an dem jenseits der Berge gelegenen Papsttum orientierte und ab den 1840er-Jahren immer fundamentalistischer wurde, für die «Bewahrung und Rettung tiefreligiöser und kirchlicher […] Grundlagen», so Strobel.
In seinem Kern war der schweizerische Kulturkampf eine innerkatholische Auseinandersetzung: Papstkritische Priester stritten mit papsttreuen, radikale Politiker mit reaktionären, fortschrittsgläubige Bürger mit traditionsgebundenen. Die wichtigsten Debatten um Religions- und Kirchenfragen liefen sowohl in den Kantonen als auch in der Tagsatzung und später im National- und Ständerat mehrheitlich zwischen freisinnigen und konservativen Katholiken ab. Die entscheidenden politischen Kampagnen, beispielsweise die gegen die Klöster sowie den Jesuitenorden in den 1840er-Jahren oder die für die Totalrevision der Bundesverfassung 1874, wurden von katholischen Radikalen angerissen und geprägt. Sie lieferten dem Freisinn auch das geistige Rüstzeug, das sie aus der katholischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts schöpften und das den protestantischen Radikalen weniger vertraut war. So liegt die historische Bedeutung des «Züriputsches» von 1839, des wichtigsten innerprotestantischen Zusammenstosses während des ganzen Kulturkampfs, in dessen Wirkung auf die beiden katholischen Lager.
Die zentrale Rolle der freisinnigen und der ultramontanen Katholiken im schweizerischen Kulturkampf hat mit den drei Kernfragen zu tun, welche den Katholizismus stärker herausforderten als den Protestantismus: Welches sind die «Quellen der Wahrheit» und die «legitimen» Grundlagen einer «richtigen Ordnung»: das Vernunftwissen und der mündige Citoyen oder die Bibel, das Lehramt und seine Dogmen? Wie schaffen wir in einer konfessionell tief gespaltenen Eidgenossenschaft ein zeitgemässes und lebensfähiges Gemeinwesen: durch die Gründung eines überkonfessionellen Bundesstaates oder über deren Trennung in zwei lose verbundene konfessionelle Staatenbünde? Welche Rolle spielt insbesondere die katholische Kirche: die einer demokratisch organisierten Institution, die sich als Teil der Republik versteht oder die einer hierarchischen Einrichtung, deren Machtzentrum in Rom liegt?
Die politische Schlüsselfrage bis 1848 war die zweite, die der Nationalstaatlichkeit. Das grösste Hindernis, welches das Nation Building in der Schweiz zu überwinden hatte, war nicht der Kantönligeist, sondern die konfessionelle Zweiteilung, die schwierigste Erbschaft aus der Alten Eidgenossenschaft. Der letzte Konfessionskrieg in Europa hatte 1712 in Villmergen, 64 Jahre nach dem Westfälischen Frieden, stattgefunden. Als fünf Jahrzehnte später im Rahmen der Aufklärung die Helvetische Gesellschaft gegründet wurde, gehörte das Bauen von überkonfessionellen Brücken, die Auflösung der beiden politischen Körper, des Corpus Catholicum und des Corpus Evangelicum, zu deren Hauptanliegen. Den Vorkämpfern eines gemeinsamen «Vaterlands» war klar, dass ein solches nur in einem Rahmen möglich war, der weder katholisch noch protestantisch war. Dies bedeutete gleichzeitig, dass die Religion als Grundlage eines gemeinsamen Staates nicht infrage kam. Deshalb konnte die Schweiz nur ein Werk des Liberalismus sein, der im Unterschied zum Konservativismus die staatsbürgerliche Zugehörigkeit von der konfessionellen trennte. Aber dieses «patriotische» Werk konnte nur gelingen, wenn der Liberalismus von Angehörigen beider Konfessionen getragen wurde.
Gegen die Gründung eines solchen überkonfessionellen Gemeinwesens gab es Widerstand aus beiden Kirchen und Konfessionen. Der aus der katholischen Kirche war besonders stark, weil diese gegenüber den staatlichen Behörden unabhängiger war, weil der traditionelle Glaube mit seiner barocken Kultur in ihrer Basis tiefer verwurzelt war, weil sie hierarchischer und zentralistischer war als das mit dem Liberalismus verträglichere reformierte Landeskirchentum und weil sie mit dem Papst über eine geistige und geistliche Autorität und Führung verfügte, die gerade in bewegten Zeiten und in ideologischen Auseinandersetzungen von grosser Bedeutung ist. Wenn der religiöse Aufbruch im Laufe des 19. Jahrhunderts im Katholizismus zu einer Vereinheitlichung und im Protestantismus zu einer Zersplitterung führte, hat das auch mit der Existenz beziehungsweise dem Fehlen eines autoritativen Zentrums zu tun.2
Freisinnige Geistliche
Der durch die Restauration (1813–1830) gebremste, aber nicht gestoppte Prozess der Säkularisierung, Liberalisierung und Demokratisierung konterte die katholische Kirche, die durch Aufklärung und Revolution an Macht und Geschlossenheit verloren hatte, mit ihrer Ultramontanisierung. Diese bedeutete neben Dogmatisierung und Zentralisierung auch Wiederbelebung und Integration der barocken Volksfrömmigkeit. Der ganze Prozess wurde ebenso stark von unten gestossen wie von oben gezogen. Das erste Ziel des Ultramontanismus war die Homogenisierung und Disziplinierung des klerikalen Kaders, insbesondere der Weltpriester. Deren ideelle Vielfalt und reformerische Eifer waren in der Schweiz der 1830er- und 1840er-Jahre besonders breit und stark. Während der Regenerationszeit dürfte der Anteil dissidenter Geistlicher im Luzernischen und im St. Gallischen etwa ein Drittel betragen haben. Beachtliche liberale und radikale Minderheiten gab es auch in den Kantonen Solothurn, Tessin, Aargau, insbesondere im Fricktal und in Baden, im basellandschaftlichen Birseck, sogar im Freiburgischen und im Unterwallis. Aus Obwalden erzählte der Berner Freisinnige Rudolf Schneider, der im Auftrag der Tagsatzung die erste Landsgemeinde nach dem Sonderbundskrieg besucht hatte, von einem alten, jesuitenfeindlichen Geistlichen, der ihn eingeladen hatte, seine «versteckte Bibliothek» zu besuchen. Hier befänden sich «Voltaire und Rousseau», sie wären auch «seine liebsten Schriftsteller». Die aufgeschlossenen Priester engagierten sich nicht nur für die Kirchen-, sondern auch für die Bundesreform. Zu den interessantesten Ideen, die für diese je gemacht wurden, gehören die 226 «Vorschläge für eine Bundesverfassung» des Rapperswiler Geistlichen Alois Fuchs aus dem Jahre 1833. Am meisten Entsetzen auf der ultramontanen Gegenseite löste dessen Doppelforderung Gleichberechtigung der Juden und Bau einer Synagoge in der neuen Bundeshauptstadt aus.
Die wichtigsten Referenzen der fortschrittlichen Kleriker waren Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774–1860), ehemaliger Generalvikar des Bistums Konstanz, und Alois Vock (1785–1857), erster Rektor des katholischen Gymnasiums St. Gallen und erster Pfarrer der neu gegründeten Gemeinde in Aarau. Wessenberg, dessen Bistum bis 1814 ein Grossteil der Deutschschweiz angehört hatte und der von Rom kaltgestellt worden war, pflegte zeitlebens mit vielen Schweizer Liberalen einen engen Kontakt. Auch wenn er methodisch gemässigter war als die meisten seiner Verehrer, teilte er ihre inhaltliche Gegnerschaft zum «Aberglauben», zu den Klöstern und vor allem zum Jesuitenorden. Der aus dem Freiämter Bauerndorf Sarmenstorf stammende Vock hat 1816 anonym ein Buch herausgegeben, das eine Brücke bildete zwischen katholischer Aufklärung und Kulturkampf: Der Kampf zwischen Katholizismus und Papsttum im 15. Jahrhundert. Seine Hauptthese lautete, dass der Hauptgegensatz innerhalb einer «verunstalteten Kirche» nicht zwischen den Konfessionen, sondern zwischen der wahren katholischen Tradition und den Machtansprüchen Roms gelegen hatte. Es war Vock, der 1821 den ebenfalls in Sarmenstorf aufgewachsenen Augustin Keller zwecks Vorbereitung auf die Kantonsschule an das vom liberalen Priester Christophor Fuchs geleitete Gymnasium im Toggenburg vermittelt hatte. Mit Wessenberg hatte Vock einen regen Briefkontakt, in dem mit Vorliebe gegen die Jesuiten gewettert wurde.
Wie tief die Geistlichkeit gerade in dieser Frage gespalten war, beschreibt der Luzerner Jungkonservative Philipp Anton von Segesser Ende 1844 in einem Brief an den Berner Gesinnungsfreund Eduard Blösch: «Die beiden Fraktionen derselben befeindeten sich ohne Rücksicht auf ihre gemeinsame Bestimmung seelsorglichen Wirkens auf die unsinnigste Weise.» Im gleichen Schreiben erklärt Segesser die Jesuitenberufung mit der priesterlichen Dissidenz: «Ursprünglich ging die Anregung der Frage meines Erachtens aus einem, ich möchte sagen, instinktartigen Gefühl, dass man heterodoxer Tendenzen unter einem Teile unserer Geistlichkeit nicht Meister zu werden vermöge, hervor.» Dass die Freisinnigen an der Schicksalsabstimmung vom 2. Mai 1847 im st. gallischen Bezirk Gaster auch deshalb erfolgreich waren, weil ihr Einzug in die Landsgemeinde von drei regional verankerten Priestern angeführt wurde, hatte sowohl reale wie symbolische Bedeutung. Dank dem für viele überraschenden Sieg gewannen die Radikalen die Mehrheit im St. Galler Grossrat und damit die nötige zwölfte Standesstimme zur Auflösung des Sonderbunds. Und: Wäre der katholische Klerus vor 1848 ebenso geschlossen ultramontan gewesen, wie er es nach der päpstlichen Unfehlbarkeitserklärung 1871 geworden ist, wäre es kaum zur Gründung eines Schweizer Nationalstaats gekommen. Die Chance, die der Völkerfrühling von 1848 bot, hat sich kein zweites Mal ergeben.3
Katholische Radikale
Eng verbunden mit den überdurchschnittlich gebildeten und belesenen freisinnigen Geistlichen waren deren katholische Gesinnungsgenossen in den Behörden und Bewegungen. Die katholischen Radikalen stellten während des langen Kulturkampfs in Solothurn ununterbrochen und im Tessin während der längsten Zeit die politische Führung, in St. Gallen und im Aargau dessen Mehrheit. Auffällig stark war auch die katholische Präsenz in den freisinnigen Führungsorganen der Kantone Baselland und Thurgau. Der Hauptgründer des radikalsten aller Kantone, des grossmehrheitlich protestantischen Basellands, war der Birsecker Stephan Gutzwiller, der den Kanton später im Nationalrat vertrat. 1851 konnten protestantische Kreise im letzten Moment verhindern, dass alle drei, selbstverständlich freisinnigen, Bundessitze an Katholiken fielen. Der nationalrätliche Hauptsprecher der Totalrevision der Bundesverfassung während des Jahres 1873 war der Thurgauer Josef Fridolin Anderwert, der 1876 Bundesrat wurde. Sogar im Kanton Luzern stellten radikalliberale Katholiken die Mehrheit der politischen Kader der 1830er-, 1850er- und 1860er-Jahre. Und in klerikal beherrschten Gegenden wie dem Freiamt und dem Jura waren die weltlichen Gebildeten mehrheitlich liberal und radikal.
Die Grösse und Stärke der freisinnig-katholischen Elite sind umso erstaunlicher, als deren Gebiete gegenüber den protestantischen mit einem erheblichen Bildungsrückstand ins 19. Jahrhundert eingetreten waren. Das innerkatholische Bildungsgefälle zwischen liberalen und konservativen Politikern, das noch grösser war als beim Klerus, fand einen Ausdruck im Umstand, dass vier der intellektuellen Köpfe des ultramontanen Sonderbunds bis tief ins Erwachsenenalter Radikal-Liberale (Konstantin Siegwart-Müller, Gallus Jakob Baumgartner, Christophor Fuchs) oder Liberale (Bernhard Meyer) gewesen waren.
Die Mehrheit der katholischen Freisinnigen der Regenerationszeit und des jungen Bundesstaates stammte aus bescheidenen Verhältnissen und aus ehemaligen Untertanengebieten und wurde in ihrer Jugend von den Ideen der Aufklärung, des Idealismus und des Liberalismus nachhaltig geprägt. Die meisten haben ihre Studien in den 1820er- und 1830er-Jahren an aufgeschlossenen Universitäten wie Tübingen, Freiburg, Würzburg, Jena, Breslau absolviert. Fast alle waren in ihrer Jugend religiös sehr aktiv gewesen, etliche wollten zuerst Priester werden, die meisten sind dank fortschrittlichen Geistlichen mit der Aufklärung in Kontakt gekommen. So hatte der spätere Freischarenführer und Nationalratspräsident Robert Jakob Steiger seine politische Laufbahn begonnen mit der «Bibelverbreitung» im Luzernischen, einer «umfangreichen Aktion» mit antijesuitischer Stossrichtung. Für Augustin Keller, den wohl bedeutendsten Kulturkämpfer, bildete die Konstanzer «Wallfahrt», die ihn als 16-Jährigen gemeinsam mit seinem Griechischlehrer Christophor Fuchs zu Wessenberg, in den Konzilssaal und an die Todesstätte von Johannes Hus führte, zu seinen prägendsten Jugenderlebnissen. Derselbe Keller hat ein paar Jahre später den gängigen Vorwurf, die Reformkatholiken seien «reformierte Namenskatholiken» mit folgendem Bekenntnis gekontert: «Denn ich muss gestehen, so sehr ich den Aberglauben und die Bilderverehrung hasse, so bin ich doch noch so gut katholisch, dass ich die ganz kahlen Kirchen um den Tod nicht leiden kann, und oft stundenlang vor einem bescheidenen Seitenaltare andächtig stehe, wenn mich ein seelenvolles Gemälde so eigentlich anspricht.» Josef Munzinger, der Kopf des Solothurner Freisinns, hatte drei Tanten, die in aargauischen Klöstern Nonnen waren.4
Liberal-katholische Basis
Im 19. Jahrhundert hatte ein knappes Drittel der Katholiken, in den meisten Städten deren Mehrheit, eine liberale Gesinnung. Gemäss dem Parteiforscher Erich Gruner fand die «freisinnige Linke» im jungen Bundesstaat in ihren «Hauptvertretungsgebieten» durchschnittlich 34,4 Prozent Katholiken und 65 Prozent Protestanten vor. Selbst wenn der katholische Anteil in der «freisinnigen Grossfamilie» (samt «demokratischer Linken» und «liberaler Mitte») etwas tiefer liegen dürfte, ist die Abweichung vom Bevölkerungsdurchschnitt von 41 Prozent Katholiken und 59 Prozent Protestanten viel geringer als gemeinhin angenommen wird. Was die freisinnigen von den konservativen Katholiken abgesehen von einer gegensätzlichen Weltanschauung unterschieden hat, ist schwach erforscht. Zuerst einmal spielen bei ideologischen Fragen persönliche Haltungen eine viel stärkere Rolle als bei materiellen. So erklärt sich, dass viele Familien in Liberale und Konservative gespalten waren. Julius Salzmann, der Führer des ersten Freischarenzugs, war Neffe des amtierenden Bischofs Joseph Anton Salzmann. Karl Joseph Pankraz Morel, einer der zahlreichen katholischen Köpfe des St. Galler Radikalismus, war Neffe des ultramontanen Einsiedler Stiftsbibliothekars P. Gall Morel. Die Führer der beiden Birsecker Katholizismen im jungen Bundesstaat waren die zwei Brüder Feigenwinter, der freisinnige Niklaus und der ultramontane Xaver.
Auffällig stark waren die freisinnigen Katholiken in den neuen aus Untertanengebieten entstandenen Kantonen Tessin, St. Gallen, Aargau, Thurgau, Baselland. Allein aus der Untertanenschaft lässt sich das nicht erklären, waren doch das Freiamt, das Schwarzbubenland, das Luzerner Hinterland oder der Jura sehr konservativ. Ein Grund für die freisinnige Stärke in den neuen Kantonen liegt im Fehlen einer historisch verwurzelten Elite, was den Sturz der Restaurationsregimes um 1830 einfacher machte. Diese Schwäche betraf auch die Kirche, die ihre Stärke aus der Nähe zu den weltlichen Herrschaften bezogen hatte. Die prekären Machtverhältnisse trafen sich mit provisorischen Kirchenorganisationen. So war St. Gallen 1823 gegen den Willen praktisch aller Katholiken vom Papst mit dem Bistum Chur vereinigt worden, was den Liberalen viel Stoff für Kritik, nicht zuletzt an Rom, lieferte. Das Bistum Basel war 1828 nur mit Hilfe der Kantonsregierungen von Solothurn, Aargau, Luzern, Zug, Thurgau, Basel und Bern zustande gekommen. Das eröffnete den späteren liberalen und radikalen Behörden einen erheblichen kirchenpolitischen Spielraum. Das Tessin gehörte gegen den eigenen Willen den Bistümern Mailand und Como an, was umso brisanter war, als diese in die österreich-habsburgische Herrschaft eingebunden waren. Im Tessin und in Genf, wo die Mehrheit der Katholiken die Radikalen gegen das kalvinistische Establishment unterstützte, hatte die italienische Nationalbewegung einen erheblichen Einfluss. Eine Besonderheit der neuen Kantone Aargau, St. Gallen, Thurgau und Baselland war, dass sie konfessionell gemischt waren. Das hatte für die freisinnigen Katholiken zwei Vorteile. Erstens konnten sie hier ihr Bundesziel eines überkonfessionellen Gemeinwesens konkret verfolgen, beispielsweise indem sie jegliche konfessionelle Trennung bekämpften. Und zweitens hatten sie in den protestantischen Freisinnigen, die innerhalb ihrer Konfession meistens in der Mehrheit waren, eine oft entscheidende Unterstützung.5
Welche Rolle spielten Wirtschafts- und Sozialstrukturen für die Schwäche oder Stärke des katholischen Freisinns? Vor 1848 gab es – im Unterschied zur protestantischen Schweiz – kein katholisches Gebiet, das breiter industrialisiert und proletarisiert war. Auch Solothurn stand erst vor seinem grossen Sprung nach vorn. Allerdings waren die wenigen Orte, in denen es Industrie gab, liberal, selbst wenn sie sich wie das Freiämter Strohindustrie-Dorf Wohlen oder das zugerische Unterägeri mit seinen Spinnereien in klerikal geprägter Umgebung befanden.
Zwei Beobachtungen über die Kantone Luzern und Solothurn, eine soziogeografische und eine sozioprofessionelle, bestätigen einen aufschlussreichen Befund aus Frankreich, der hier eingangs vorgestellt werden soll. Das ländliche Frankreich zerfiel bei den Parlamentswahlen 1849 in «weisse», eher nördliche, und «rote», eher südliche Regionen, die sich bis in die 1960er-Jahre – unabhängig von allen zwischenzeitlichen Veränderungen – treu bleiben sollten. Der Süden unterschied sich vom Norden durch zwei Faktoren: Das Machtgefälle unter den Bauern war kleiner und die gesellschaftliche Vernetzung dichter. Christoph Dipper schreibt in einem Beitrag zu «Europa 1848»: «Das Frankreich der eng beieinander liegenden Dörfer und Kleinstädte, wo die Verkehrsbeziehungen seit jeher besonders dicht waren und sich eine spezifische Soziabilität herausgebildet hat», wählte «republikanisch». Die kleinen Leute des Südens wagten etwas, wovor die isolierteren des Nordens zurückschreckten: sich loszusagen «von ihren traditionellen Sprechern, Notabeln und Klerus».
Zu dieser Beobachtung passt eine Luzerner Abstimmung über ein fortschrittliches Zehntengesetz der liberalen Regierung im Jahr 1854, gegen das die Konservativen mit klerikaler Unterstützung eine Volksabstimmung erwirkt hatten. Heidi Bossard-Borner stellt in ihrer ebenso umfassenden wie hervorragenden Luzerner Geschichte Im Spannungsfeld von Politik und Religion Folgendes fest: «Bemerkenswert ist, wie sich politische und ökonomische Geographie überschnitten. Die konservativen Hochburgen […] gehörten mehrheitlich zur Feldgraszone, in der grosse Einzelhöfe die landwirtschaftliche Struktur prägten und wohlhabende Bauern in Politik und Wirtschaft den Ton angaben.» Hier stimmten «die zahlreichen Kleinbesitzer» gegen das in ihrem Interesse erlassene Gesetz, weil sie sich von der Angstmacherei der Grossbauern, die ihre Grundlasten längst losgekauft hatten, und von der Kampagne der Kirche, die das «altbekannte Gespenst der ‹Religionsgefahr› aufgescheucht» hatte, beeindrucken liessen. «In den Gemeinden des nördlichen Dreizelgengebietes dagegen […] deckte sich der liberale Parteistandpunkt mit den Interessen der zahlreichen Kleinbesitzer.» Hier war das soziale Gefälle geringer, die soziale Dichte höher und der Mut zu einer eigenständigen Position grösser. Verstärkt wurden diese Faktoren, wenn eine dichte soziale Vernetzung über die Konfessionsgrenze hinausging. Hier dürfte der Grund liegen, dass die an die Kantone Bern und Aargau grenzenden Dörfer Wikon, Reiden und Triengen zuverlässigere Bastionen des Freisinns waren als Luzern und Willisau-Stadt.
Der Solothurner Historiker Remo Ankli hat aufgrund von erhalten gebliebenen Unterschriftenbogen aus dem Jahre 1873 zugunsten der klosterfeindlichen Pläne der freisinnigen Regierung das berufliche Profil von Land-Freisinnigen untersucht. Er hat von den 22 Gemeindelisten der zwei Bezirke Dorneck und Thierstein jeweils die 10 Erstunterzeichner, also die überzeugtesten Parteigänger, ausgewählt. Da das Schwarzbubenland die einzige Solothurner Region mit konservativer Mehrheit war, konnte der Autor davon ausgehen, dass der Anteil von Opportunisten und Karrieristen bei den Untersuchten tief war. Von den 194 leserlichen Unterschriften sind 68 Landmänner, was Landwirt oder Landarbeiter heissen kann. Damit liegen die liberalen Bauern etwa zehn Prozent unter dem Bevölkerungsanteil ihres Wirtschaftszweigs. Übervertreten sind Kleinhändler, Wirte, Handwerker, Lehrer und Beamte. All diese Berufsleute haben gemeinsam, dass ihr soziales Netz dichter und weiter ist als das der anderen Bürger. Besonders stark trifft das auf die Beizen und Spelunken zu, in denen häufig die Parteizeitung auflag. Rudolf Braun hat bereits für die Helvetik festgestellt, dass Gasthäuser politische Orte und Wirte häufig liberale Kader waren. Laut seinem Professoren-Kollegen Hansjörg Siegenthaler galt das für «die neue Profession der regenerierten Lehrerschaft», die «wohl erstmals in der Geschichte […] den Pfarrherren» entgegentrat, erst recht.6