Knurr und das Amulett des Dämonenfürsten: Die Abenteuer der Koboldbande Band 6)

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Die Augen des Hexers

Der Riese Kalon, der höchste Priester von Ando-Hall, ging zu später Stunde mit einer Fackel in seiner rechten Hand durch die Hallen seines Tempels. Zwei weitere Priester begleiteten ihn. Als sie in der größten Halle vor den Altar traten, der nicht viel mehr als ein großer flacher Stein war, knieten sie nieder. Auf diesem Altar stand eine Tafel, die für die Riesen ein überaus wertvolles Heiligtum darstellte. In großen Buchstaben waren auf ihr die wichtigsten Gebote des Schöpfers eingemeißelt, und kein Riese wagte es, sich gegen diese Gebote aufzulehnen.

Doch es gab seit kurzer Zeit eine Ausnahme. Cromber, der Bruder des toten Fürsten Taurus, beanspruchte die fürstliche Macht für sich. Kalon konnte sich nicht gegen diesen Anspruch auflehnen, auch wenn ihm Prinz Artem als Fürst tausend Mal lieber wäre. Cromber hatte mit den Kriegern seiner Sippe und einigen weiteren verbündeten Riesen Ando-Hall besetzt. Seit dem erwartete Kalon mit Sorge die Ankunft von Artem. Der Priester wusste, dass Cromber dem Prinzen die Reise zum heiligen Tempel erschweren würde. Doch er war sich sicher, dass Artem einen Weg nach Ando-Hall fand. Am nächsten Tag wollte sich Cromber zum Fürsten ausrufen lassen und seinen eigenen Neffen zum Verräter erklären. Damit durfte jeder andere Riese den Prinzen töten und Cromber musste sich selbst die Hände nicht mehr mit dem Blut des Sohnes seines toten Bruders besudeln.

Ein schwarzer Schatten flog durch die Hallen der wahrhaft großen Tempelanlage von Ando-Hall. Die Stadt, die um den Tempel erbaut worden war, lag in tiefem Schlaf und niemand störte den finsteren Eindringling. Er flog zu dem nur spärlich beleuchteten Altar, wo er sich hinter einer der vielen weißen Marmorsäulen verbarg, die in dem Tempel stand, und das steinerne Dach stützte.

Von seinem Platz aus konnte der Hexer die drei Priester gut belauschen. Obwohl sie nur flüsterten, fiel es ihnen schwer, ihren Zorn über die neuesten Nachrichten zu unterdrücken. Der Hexer verstand jedes einzelne Wort.

»Er hat es gewagt«, zischte Kalon leise, ohne den Blick von den heiligen Geboten der Altartafel zu nehmen.

»Ja, das hat er«, zischte einer der beiden anderen zurück. »Ein Teil der Nachricht ist jedoch gut für uns«, raunte der dritte Priester und er faltete seine Hände.

»Wir ziehen uns lieber zum Gebet in unsere Kammern zurück«, entschied Kalon. »Hier können wir nicht ungestört reden, denn die Wände haben überall Ohren.«

Die Priester standen auf und verneigten sich noch einmal vor dem Altar. Als sie gegangen waren, näherte sich der Hexer dem Heiligtum. Eine unerklärliche magische Aura drückte ihn jedoch immer wieder zum Ausgang der Halle zurück. Er kam einfach nicht nah genug an den Altar heran. Ihn interessierten weder die Tafel noch der große flache Stein. Er wollte zur Wand, die sich hinter dem Altar befand. Die Priester hatten sie mit einem Tuch verdeckt. Doch es wusste jeder Riese, was an an der Wand unter dem Tuch zu sehen war. Es war die Karte, die den Weg nach Dragon-Gorum zeigte.

Auf einmal hallten Schritte durch den Tempel und der Hexer zog sich in die Dunkelheit der Schatten zurück, die die Säulen in die Tempelhalle warfen. Ein klapperndes Geräusch verriet ihm, dass der Riese, der die Halle betrat, eine Rüstung und Waffen trug.

»Morwes …« erklang leise die Stimme des Riesen. »Komm aus deinem Versteck und zeige dich«, rief der Riese nun erheblich lauter. Der Hexer kam hinter einer der Säulen hervor, die hinter dem Riesen standen.

»Du hast mich gerufen, Cromber?«, fragte Morwes. Der Riese erschrak und drehte sich um. »Ja, ich habe dich gerufen«, flüsterte er und er sah furchtsam nach allen Seiten. »Du hast es bestimmt schon gehört«, flüsterte Cromber weiter und er wischte sich den Schweiß von seiner Stirn. »Artem wird bald mit dem Drachenkönig eintreffen. Er soll noch andere überaus mächtige Gefährten bei sich haben.«

Der Hexer spürte sofort die Angst des Riesen. Er streckte ihm seine Hände entgegen und drang mit der Hilfe seiner schwarzen Magie tief in das Bewusstsein von Cromber ein. Der Hexer wusste genau, was er wollte, denn er tat es schon einmal. Es dauerte nur den Bruchteil eines Augenblicks und er hatte den ängstlichen Kraftprotz wieder in seiner magischen Gewalt.

Mit hoch erhobenem Haupt und vor Stolz geschwellter Brust stand der Riese vor dem viel kleineren Hexer und er hörte sich seine Worte an. »Die Jagdadler deiner Krieger verbreiten die Nachricht, dass dein Feind bald kommen wird und das er starke Freunde bei sich hat. Doch sei ohne Furcht, mein heldenhafter Cromber. Sie können dich nicht bezwingen, denn das Recht deiner Ahnen ist auf deiner Seite. Artem kann nur zum Fürsten ausgerufen werden, wenn er dich besiegt. Und diesen Sieg wird er nie erringen, denn ich werde dir etwas geben, dass dir helfen wird.«

Morwes schwebte plötzlich dicht vor Crombers Kopf und er sah ihm tief in die Augen. Der Hexer öffnete seinen Mund und hauchte eine kleine schwarze Wolke heraus. Cromber zog sie mit seinem nächsten Atemzug in sich hinein. Nun drangen aus den Augen des Hexers zwei Blitze, die in den Kopf des Riesen hinein fuhren. Cromber schwankte ein wenig, doch die Kraft seines Körpers ließ ihn nicht im Stich.

»Der Geist, der nun in dir steckt, wird dir helfen«, erklärte Morwes. »Du kannst im Kampf nicht mehr versagen, denn deine Furcht wird dich nicht mehr hindern. Die kleine schwarze Wolke, die soeben in deinem Kopf gefahren ist, wird dich zu jeder Zeit an den Pakt erinnern, den du mit mir eingegangen bist. Solltest du dennoch versagen, wirst du sterben.«

Der Hexer sah dem Riesen in die Augen. Er erkannte schnell, dass Cromber den letzten Rest seines eigenen Willens verloren hatte und der kleine schwarze Geist in seinem Kopf herrschte. Noch einmal schossen zwei kleine Blitze aus Morwes Augen und fuhren in den Kopf des Riesen. Doch dieses Mal schwankte Cromber nicht mehr.

Wieder ertönten Schritte, die aus den angrenzenden Räumen zu hören waren. Der Hexer sah sich hastig um und zischte den Riesen leise noch etwas zu, bevor er sich wieder hinter den Säulen in den Schatten verbarg. »Das sind bestimmt deine Wachen, die dich bereits suchen. Lass dir nichts anmerken und sieh dich vor deinen Priestern vor. Sie sind dir nicht gutgesinnt und sie würden dir einen Dolch von hinten in dein Herz jagen, wenn sie nur könnten.«

Cromber nickte nur und sah zu, wie der Hexer verschwand. Tatsächlich kamen ihm zwei seiner Krieger entgegen. Sie deuteten eine Verbeugung an und sahen besorgt zu ihrem Anführer.

»Geht es dir gut, mein Herr?«, fragte einer der Krieger. Cromber wirkte, als hätte er die Frage nicht gehört. »Ich habe Durst«, sagte er und er holte tief Luft. Sein Körper straffte sich und er betrachtete die beiden Krieger, die ratlos vor ihm standen. Seine Miene verfinsterte sich und er streckte seinen Kopf in die Höhe. »Was schaut ihr mich so an?«, knurrte er mit tiefer Stimme. »Ich werde in meinem Gemach noch einen Becher Wein trinken und ihr zwei seht euch vor Kalon und seinen Priestern vor. Ich traue ihnen nicht über den Weg.«

Hastig nickten die beiden Krieger. Sie sahen Cromber nach, wie er langsam mit hoch erhobenem Haupt und vor Stolz geschwelter Brust die große Halle durchschritt und im Schatten der Nacht verschwand. Die Krieger sahen sich an und einer von ihnen brummte leise vor sich hin, was er gerade dachte. »Er wird immer merkwürdiger. Vor wenigen Wochen wollte er noch nicht einmal daran denken, dem Prinzen die Stirn zu bieten. Und morgen will er sich zum Fürsten ausrufen lassen. Woher nimmt er auf einmal diesen Mut.«

»Das ist eine gute Frage«, antwortete der zweite Krieger. »Ich denke mal, dass es etwas mit der Gier nach der Macht zu tun hat. Wenn ich Fürst werden wollte, so würde ich jede Angst vergessen und meinen Feinden entgegen treten.«

Etwas nachdenklich rieb sich der erste Krieger sein Kinn. »Du würdest so handeln, weil du den Mut in deinen Knochen hast. Doch Cromber ist bisher jedem Kampf ausgewichen. Er hat sich in keinem Zweikampf bewährt und unser alter Fürst, der sein eigener Bruder war, hat ihn dafür nur verhöhnt und verspottet. Cromber hat nie den Mut gehabt, sich gegen Taurus aufzulehnen. Und jetzt will er selbst Fürst werden.«

Der zweite Krieger packte seinen Kameraden am Kragen seines Mantels und sah sich vorsichtig um. Dann flüsterte er so leise, dass es Morwes trotzdem in seinem Versteck hören konnte. »Man erzählt sich vieles in letzter Zeit. Vorhin habe ich gehört, dass morgen der Prinz Artem mit einigen mächtigen Freunden hier eintreffen wird. Außerdem soll sich in Ando-Hall ein schwarzes Wesen herumtreiben. Mit seinen Augen soll dieses Wesen jeden in seinen Bann ziehen können, der sich gegen ihn stellt. Kalon, der oberste Priester hat es einem der anderen Sippenältesten heimlich anvertraut. Ich habe sie belauscht und du kannst mir glauben. Mir ist bei diesem Gespräch heiß und kalt zur gleichen Zeit gewesen.«

Der erste Krieger sah sich bei diesen Worten furchtsam im Tempel um. »Ich weiß, was du meinst«, flüsterte er und der Schweiß trat auf seine Stirn. »Bei unserer letzten Runde habe ich etwas gesehen.«

Er sah zum Altar, so als wollte er sich vergewissern, dass selbst der Schöpfer ihn nicht hören konnte. »Eine schwarze Gestalt – sie sah wie ein fliegender Kleiderfetzen aus – flog zwischen den Säulen herum. Doch Kalon und zwei seiner Priester kamen und gingen zum Altar. Da wollte ich nichts sagen, denn ich mache mich nicht gern lächerlich. Doch nun bin ich mir nicht mehr sicher, ob wir es doch verschweigen sollten.«

Die Blicke des zweiten Kriegers wanderten rasch durch die Halle. Er gab seinem Kameraden mit dem Kopf einen unmissverständlichen Wink. »Los, wir gehen zu Kalon. Der soll sich anhören, was wir zu melden haben. Er weiß viel besser als wir, was nun zu tun ist.«

 

»Du hast recht«, stimmte der erste Krieger zu. »Danach gehen wir zu den anderen Kriegern, die in der großen Trinkhalle sind. Wir sollten sie warnen und ihnen erklären, dass niemand Cromber dienen soll. Ich habe seit Tagen über diesen Kerl nachgedacht und ich bin mir sicher, dass er die Fürstenwürde niemals im ehrlichen Zweikampf erringen kann.«

Die beiden Krieger wendeten sich zum Ausgang der heiligen Halle. Doch der schwarze Hexer folgte ihnen und holte sie kurz vor dem Tor ein. Er schwebte plötzlich vor ihnen und sah sie mit glühenden Augen an. Dann streckte er seine Hände in die Höhe und ein Schwall kleiner Blitze fuhr vor den beiden Kriegern in den Boden. Erschrocken wichen sie zurück und sahen mit Entsetzen in die rot glühenden Augen von Morwes. Der schwebte mit seinem flatternden schwarzen Gewand über ihnen und ließ seine Blitze auf sie herab regnen. Die Krieger konnten sich nicht mehr rühren und wurden immer kleiner. Langsam nahmen sie die Gestalten von steinernen Figuren an. Mit der Kraft seiner schwarzen Magie zerschlug der Hexer die Figuren, sodass nur zwei Häufchen Staub übrig blieben. Zufrieden sah sich Morwes sein Werk an.

Leise flüsterte er etwas vor sich hin, und seine boshafte Schadenfreude schwang in seiner Stimme mit. »Diese beiden Narren werden niemanden warnen. Der Kraft meiner Augen konnte noch kein sterbliches Wesen widerstehen. Wenn Cromber erstmal der Fürst aller Nachtaugenriesen ist, werden sie sich niemals wieder mit dem Schöpfer verbünden. Sie werden sich vor der Macht der schwarzen Magie verbeugen und für meinen Herrn in die Schlacht ziehen.« Der schwarze Hexer rieb sich die Hände und kicherte. »Ha ha, das wird Imperos erfreuen - da bin ich mir sicher.«

Auf Leben und Tod

Es war noch früh am Morgen, als die Signalhörner der Stadtwachen die Ankunft des Prinzen Artem und seiner Freunde ankündigten. Im majestätischen Flug schwang der Drachenkönig seine riesigen Flügel, als er das große Tor der Stadt der Nachtaugenriesen erreichte. Er überflog es, ohne zu zögern, und landete direkt vor dem Tempel von Ando-Hall. Ihm folgten Orbin, Knurr und Barbaron auf ihren zwei Flugschalen. Tabor sprang als Erster vom Rücken des Drachen. Er landete auf einem Haufen Schnee, den die Priester des Tempels zusammengefegt hatten. Sie wollten wohl nicht, dass ihn jemand festtrat, und er so glatt wurde, wie das Eis eines zugefrorenen Sees. Das hätte selbst die Landung eines Drachenkönigs erschwert.

Gestützt auf einem großen Stab stand der oberste Priester Kalon vor dem Tempel und betrachtete mit einem kaum erkennbaren Lächeln den Drachen. Auch der Zauberer und der Kobold mit ihren Flugschalen entgingen nicht seiner Aufmerksamkeit. Was dieses fremdartige kleine Wesen war, dass der Kobold bei sich hatte, konnte er sich nicht denken. So einen kleinen Troll hatte Kalon noch nie gesehen. In seinem weißen Mantel und in seiner Kapuze hatte sich der Wind ein wenig verfangen. Er schien den Priester zu dem Prinzen zu schieben. Doch Kalon blieb trotz des Windes steif wie eine Säule stehen und erwartete Artem auf der obersten Stufe der Treppe, die zum Tor des Tempels führte. Seine Miene verriet in diesem Augenblick niemandem, was er gerade dachte.

Langsam schritt der Prinz allein die sieben Treppenstufen zum Eingang empor. Vor dem Priester blieb er stehen und verneigte sich. Mit gebührendem Abstand zu dem Drachen und den anderen Freunden des Prinzen versammelten sich die Riesen in großer Zahl vor dem Tempelplatz. Jeder wollte Artem sehen und die meisten von ihnen bestaunten die Größe von Urgos. Der Drache richtete sich auf seine Hinterbeine auf und schlug noch einmal mit seinen Flügeln. Dann sah er sich grimmig um, und als er sah, dass seine beeindruckende Gestalt bei den Riesen die erhoffte Wirkung zeigte, wendete er seinen Kopf zurück zu dem, was vor dem Tempel geschah. Tabor kletterte auf seinen Rücken und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps.

Barbaron hatte sich auf Orbins linke Schulter gesetzt und sah kurz zum Himmel. Da oben war es immer noch finster und der kommende Tag hatte Mühe, sich mit seiner Helligkeit zu zeigen. Die Wolken hatten sich dicht zusammengezogen und es schien so, als ob es jeden Augenblick einen dichten Schneefall geben würde. Knurr hatte der Flug hier her nach Ando-Hall am meisten zugesetzt. Er reckte sich und versuchte so, seine steifen Glieder zu dehnen. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft und er sah sich sofort aufmerksam um.

Auch Orbin schien diesen Geruch bemerkt zu haben, denn er hatte plötzlich seinen Zauberstab in seiner rechten Hand. »Bleib ruhig auf meiner Schulter sitzen, doch achte auf alles, was sich hier tut«, flüsterte er dem kleinen König aller Minitrolle zu.

»Du hast es also auch bemerkt«, raunte Barbaron dem Nekromanten ins Ohr. »Es stinkt ein kleines Bisschen nach modrigem Lumpen und schwarzer Magie. Da ist wohl so ein dreister Hexer in der Nähe.«

Orbin nickte nur und sah zu Artem, der gerade von den Priestern mit Brot und Salz und einem überaus freundlichen Willkommensgruß geehrt wurde.

Aus der großen Trinkhalle trat jetzt auch Cromber ins Freie. Er hatte bis zum frühen Morgen mit einigen Kriegern seiner Sippe gefeiert, bevor ihn der Schlaf überkam und ihn seine Saufkumpane einfach auf den Tisch gelegt hatten. Der Rausch des süßen Weines, der eben noch in seinem Schädel alles zum Drehen brachte, verzog sich schnell in der Morgenluft. Langsam ging er zum Tempel, wo Artem gerade ein Stück Brot mit Salz in seinen Mund stopfte und den Gruß des Priesters erwiderte.

Ohne den Drachen weiter zu beachten, der vor der Treppe des Tempels stand, ging Cromber auf Artem zu. Sein finsterer Blick ließ Kalon zurückweichen, als er sich vor dem Sohn seines toten Bruders breitbeinig hinstellte und ihn an der Schulter berührte. »Du wagst es also tatsächlich, mich herauszufordern«, sprach Cromber. Er stellte sich dicht vor Artem auf, sodass sich ihre Nasen beinah berührten.

»Es ist lange her, Onkel, dass wir uns gesehen haben«, antwortete Artem. »Damals warst du ein freundlicher Mann, den jeder Riese für seine Klugheit und seine Friedfertigkeit ehrte und respektierte. Mein Vater, der dein Bruder war, fragte dich oft um Rat. Du hast ihn nie enttäuscht und immer gewusst, was richtig und was falsch war. Wo ist deine Weisheit geblieben, Onkel? Sag mir, was mit dir geschehen ist.«

»Was mit mir geschehen ist, willst du wissen!?« Cromber stieß den Prinzen ein Stück von sich weg und ballte die Fäuste. »Ich bin aufgewacht, mein lieber Neffe! Dein Vater und du – ihr wolltet mich schon früher von der fürstlichen Macht fernhalten! Doch ich will nicht mehr zusehen, wie jemand aus meiner Familie herrscht und ich übergangen werde!«

Artem wurde bei diesen Worten selbst wütend und er stellte sich dicht vor Cromber hin. Seine geballten Fäuste knackten und seine Muskeln spannten sich unter seiner dicken Haut. »Niemand übergeht dich, Onkel!«, brüllte er los. »Wir haben dich alle geachtet, auch wenn du kein so großer Krieger bist, wie es unser toter Fürst einst war! Er hat dich mehr geliebt, als jeden anderen und er hat dir immer vertraut!«

Auch Cromber ballte seine Fäuste und Artem atmete tief durch, ehe er weiter sprach. »Sag hier an diesem heiligen Ort nichts anderes Onkel, und versuche nicht, mir mit Gewalt mein Erbe zu nehmen. Das Gesetz der Nachtaugenriesen sagt, dass das Amt des Fürsten immer vom Vater auf den Sohn übergeht.«

Kalon hatte noch immer das Brot und das Salz in seinen Händen, als er unwillkürlich dem Prinzen zustimmte. »Er hat recht, Cromber. Du bist der Herr deiner Sippe und Artem wird unser Fürst werden. So will es das Gesetz unserer Ahnen. Wenn dir das nicht gefällt, so musst du ihn auf Leben und Tod herausfordern.«

Wütend schlug Cromber dem zitternden Priester das Brot mit dem Salz aus den Händen. Dann brüllte er los. »So soll es sein! Ich bin Cromber! Ich bin selbst der Sohn eines Fürsten, so wie es mein älterer Bruder war! Und deshalb fordere ich Artem zum Kampf heraus!« Mit Hass in den Augen sah Cromber den Prinzen an und er streckte ihm seine rechte Hand entgegen. »Wir beide sind Todfeinde!«, rief er aus. »Wenn der heutige Tag seine erste Mittagsstunde hat, so werden wir uns hier vor dem Tempel treffen, und wenn es Nacht wird, so ist einer von uns tot und der Andere ist der neue Fürst aller Nachtaugenriesen. Solltest du nicht pünktlich erscheinen, so lasse ich dich jagen und töten, so wie ich den Wolf jagen und töten lasse, der meine Schafe reist!«

Artem war, als hätte ihm jemand mit einem Brett auf dem Kopf geschlagen. Der Hass seines Onkels war ihm unerklärlich. »Ich werde zur Mittagsstunde hier vor dem Tempel sein«, sprach er mit erstickender Stimme. Dann drehte er sich um und ging zu dem Drachenkönig.

»Ein böses Unheil hat sich in den Mauern eurer Stadt versteckt«, raunte Urgos Artem zu. Der Prinz nickte nur und sah zu einer großen Gruppe Riesen, die auf ihn zukamen. Sie umringten ihn und begrüßten ihn freudig. Nicht alle Riesen waren für Cromber und seine Machtansprüche. In Ando-Hall gab es viele alte Familien, die dem toten Fürst Taurus treu ergeben waren und nun seinem Sohn halfen.

Nicht weit vom Eingang des Tempels stand eines der größten Häuser der Stadt. Daneben befand sich ein großer Hof, der von einer hohen Mauer umgeben war. Dorthin, in das Haus eines alten Freundes von Artem, zogen sich die Ankömmlinge und die Freunde des Prinzen zurück. Es gab noch so einiges, was besprochen werden musste und Artem wollte sich noch ein wenig ausruhen, bevor er vor dem Tempel noch einmal seinem Onkel gegenübertrat.

Das Haus und der Hof, durch dessen großes Tor Urgos gerade so durchpasste, gehörte dem Riesen Tritor. Er diente schon Taurus als Waffenmeister und er war Artem ein treuer Freund. Für die Riesen war ein Waffenmeister ein heiliger Mann. Der Prinz bekam sofort in einem riesigen Bottich ein heißes Bad. Anschließend wurde er von einigen Dienerinnen in neue Kleider gehüllt. Dann musste er sich in die Empfangshalle des Hauses begeben, wo schon seine Freunde warteten. Nun bekam er einen kräftigen Schweinebraten vorgesetzt und Tritor stand von seinem Platz auf. Alle anderen Riesen erhoben sich ebenfalls und hielten ihre Becher in den Händen.

»Wir trinken auf die Heimkehr unseres Prinzen!«, rief der Waffenmeister aus. »Auf den Prinzen!«, schallte es durch die Halle. »Auf Artem, dem einzigen und rechtmäßigen Fürsten!«

Die Becher wurden in einem Zug geleert und krachend auf den großen Tisch zurückgestellt, der für Tritors Freunde und Gäste aufgestellt worden war. Sofort machte sich eine überschwängliche Freude bei den Riesen breit. Mehrfach erhoben sie ihre Becher und ließen den Prinzen hochleben.

Tritor bemerkte das mit wachsendem Unmut. Als er genug von den Jubelrufen hatte, schlug er mit beiden Fäusten auf den Tisch, sodass alle Teller und Becher in die Höhe sprangen. »Ich sag es dir hier vor allen deinen versammelten Freunden!«, erklärte der Waffenmeister lautstark. Er beugte sich mit finsterer Miene weit zu Artem über den Tisch. Dabei stützte er sich mit beiden Händen auf die groben Eichenbohlen, aus denen der Tisch bestand. »Du warst viel zu lange fort, und du hast es versäumt, die zahlreichen Feinde in den eigenen Reihen zu bekämpfen.«

Wenn Barbaron einen Mantel angehabt hätte, so würde ihm nun in diesem Augenblick bestimmt der Kragen platzen. Er sprang wütend von Orbins Schulter herunter und landete genau vor Tritors Kopf auf dem Tisch. Noch bevor jemand etwas sagen oder tun konnte, antwortete der kleine König dem Waffenmeister. »Ich bin in deinem Haus nur einer deiner Gäste! Doch du bist mir ein großes Stück zu vorlaut! Du schuldest deinem zukünftigen Fürsten erheblich mehr Respekt!«

Grinsend stand der Prinz auf und sah den erstaunten Tritor in die Augen. In ihnen war nichts mehr vom Zorn zu sehen und die Verwunderung des Waffenmeisters löste bei einigen der Gäste ein verhaltenes Kichern aus.

»Dieser kleine Freund heißt Barbaron«, erklärte Artem. »Er ist der König aller Minitrolle und er kann selbst dich im Kampf besiegen. Das hat er schon mehr als einmal bewiesen.«

Der Prinz setzte sich wieder, als Tritor seine Verwunderung überwand und sich ebenfalls auf seinen Stuhl niederließ.

»Ich bin nicht nur wegen Cromber hier«, sprach Artem weiter. »Hier, in Ando-Hall, geschehen merkwürdige Dinge. Ein schwarzer Hexer treibt in den ehrwürdigen Mauern unseres Heiligtums sein Unwesen. Er hat bestimmt die Gedanken meines Onkels beeinflusst und es geschafft, ihn mit seiner schwarzen Magie zu bannen. Ich muss also nicht nur Cromber besiegen. Es muss auch ein Wesen bezwungen werden, dass so boshaft wie eine heimtückische Schlange ist. Ich weiß, dass du es eben nur gut gemeint hast, als du mich an meine fürstlichen Pflichten erinnern wolltest.«

 

Der Waffenmeister sah für einen Moment etwas kleinlaut in seinen leeren Becher. »Seit Tagen bin ich fast krank vor Sorge um dich«, sprach er mit bebender Stimme. »Immer wieder habe ich versucht, die anderen Sippen von einem Bündnis mit Cromber abzuhalten. Doch es ist mir bei vielen der Ältesten nicht gelungen. Die meisten Anführer werden dir erst wieder folgen, wenn du deinen Onkel besiegt hast.«

Tritor sah zu Artem hin und seine Gestalt straffte sich. »Sei ohne Furcht, mein Prinz. Ich weiß, was Cromber vorhat. Er ist kein guter Kämpfer, wenn er ein Schwert oder eine Keule in seinen Händen hält. Deshalb wird er gegen dich ohne Schild mit einer großen Streitaxt kämpfen. Diese Axt ist wahrlich ein mit zwei Händen zu führender Schädelspalter. Mit dieser Waffe kann er sehr gut umgehen. Ich habe dir deshalb eine Rüstung anfertigen lassen, die leicht wie eine Feder ist und dich nicht behindert. Dein Vorteil wird deine Schnelligkeit sein.«

Artem sah zu, wie einige Diener neben dem Tisch ein großes Arsenal an Waffen und Rüstungen ausbreiteten. Er hob eine Keule auf, die mit eisernen Dornen bespickt war, und betrachtete sie. Tritor und die Freunde umringten den Prinzen und Urgos steckte seinen Kopf durch eine der Türen, die zum Hof führte.

Artem sah zu Orbin und Knurr. »Ich werde auf dem Platz vor unserem heiligen Tempel gegen Cromber kämpfen und ihr werdet den Hexer jagen. Wenn ihr ihn vernichtet habt, so wird es an Cromber selbst liegen, ob einer von uns das Blut des anderen vergießt. Mit meinen Gebeten kann ich den Schöpfer nur bitten, es zu verhindern.«

Als die erste Mittagsstunde anbrach, versammelten sich die Sippenältesten der Riesen mit ihren Familien vor dem Tempel. Selbst die Frauen und Kinder wollten sich den Zweikampf nicht entgehen lassen. Der Platz, der vor dem Tempel lag, wurde noch einmal von den Priestern gefegt und mit feinem Sand bestreut. Keiner der beiden Kämpfer sollte ausrutschen und so den Kampf verlieren. Der Sieg musste in den Augen aller Riesen ehrlich errungen sein.

Das große Hoftor des Waffenmeisters Tritor öffnete sich langsam mit einem unangenehmen Quietschen. Als die Riesen, die vor dem Tor standen und warteten, den Prinzen Artem und sein Gefolge erblickten, bildeten sie eine Gasse. Ungehindert gelangte Artem so auf den Platz vor dem Tempel. Dort schlug einer der Priester mit beiden Händen auf eine große Pauke ein. Daraufhin öffnete sich das Tor des Tempels und Cromber ging langsam die Stufen der Treppe hinab. Er ging mit seinem Gefolge bis zum Rand des Platzes und er beachtete den Prinzen zunächst nicht.

Als die Pauke schwieg und die Riesen einen undurchdringlichen Kreis um den Kampfplatz gebildet hatten, trat Kalon in die Mitte und sah sich mit strengem Blick in alle Richtungen um. Er bemerkte gleich, dass der Drache und die anderen Freunde des Prinzen nicht zu sehen waren. Das beruhigte ihn ein wenig, denn er hatte befürchtet, dass einer von ihnen den Kampf mit Magie beeinflussen könnte. Und da sich die meisten Riesen denken konnten, dass er, der höchste Priester von Ando-Hall heimlich zu Artem hielt, würden einige der feindlich gesonnenen Ältesten ihn verantwortlich für alles machen. Auch dann, wenn er selbst keine Magie beherrschte. Das Orbin, Knurr und Barbaron bereits im Tempel waren und nach dem Hexer suchten, das konnte sich Kalon natürlich nicht vorstellen.

Mit einer großen Lanze bewaffnet, stand der Priester in der Mitte des Kampfplatzes. Er winkte die beiden Gegner zu sich. Cromber hielt, so wie es Tritor vorausgesagt hatte, eine große Streitaxt in seinen Händen. Artem vertraute dagegen einer mächtigen Keule. Sie trafen sich in der Mitte und sahen sich in die Augen. Cromber wirkte überaus entschlossen und Artem bemerkte kein Zögern in seinen Bewegungen. Sie trugen beide eiserne Helme und lederne Brustpanzer, die mit verzierten Eisenschuppen beschlagen waren.

Kalon rammte die Lanze in den Boden und schaute dann abwechselnd zu beiden Kämpfern. Dann stellte er ihnen die entscheidende Frage. »Wollt ihr hier an diesem heiligen Ort einen ehrlichen Zweikampf austragen, bis einer von euch aufgibt oder sein Leben lässt?«

»Das wollen wir«, erklärten beide Kämpfer zugleich. Kalon sah sie noch einmal mit seiner strengen Miene an und sprach weiter. »So soll der Sieger dieses Zweikampfes noch heute von mir zum Fürsten ausgerufen werden. Jeder Riese soll sich vor ihm verbeugen und ihn als seinen rechtmäßigen Herrn anerkennen. So will es das Gesetz und so soll es geschehen.«

Kalon drehte sich um und ging an den Rand des Platzes. Dort standen seine Priester mit ihren Lanzen. Sie waren bereit, jeden zu töten, der die Gesetzte des Zweikampfs missachtete. Es durfte niemand in den Kampf eingreifen. Wer tödlich getroffen war, der hatte keine Hilfe und keine Gnade zu erwarten.

Das wussten auch Artems Freunde, als sie sich in das Heiligtum der Riesen hinein geschlichen hatten. Barbaron war mit einem Trollsprung auf dem Dach des Tempels angekommen. Er hielt Ausschau nach dem schwarzen Hexer. Ihm entging nicht, dass plötzlich die Wolken aufrissen und die Sonne ihre Strahlen zum Kampfplatz schickte. Er sah, wie die blank geputzten Rüstungen von Artem und Cromber sich spiegelten und wie sie beide aufeinander zurasten. Sie prallten mit lautem Knall zusammen, ohne das einer von ihnen seine Waffe benutzen konnte. Sofort drückten sie sich gegenseitig weg und versuchten mit Axt und Keule mächtige Hiebe auszuteilen. Die Waffen prallten aufeinander und ein zähes Ringen begann.

Knurr erschien ebenfalls auf dem Dach und fauchte Barbaron an. »Du sollst dir nicht den Kampf anschauen! Such lieber den Hexer! Das ist unsere Aufgabe!« Barbaron sah verärgert zu dem Kobold und er wollte schon etwas Passendes erwidern, doch ein Raunen ging durch die Menge der Riesen und er drehte sich zum Kampfplatz um. Dort erhob sich gerade der Prinz vom sandigen Boden und drängte mit einigen Keulenschlägen Cromber zurück. Der Minitroll sah zurück zu Knurr, und dabei bemerkte er Morwes. Der Hexer hatte den Kobold und den Minitroll schon längst gesehen und sich in die Schatten der Säulen zurückgezogen, die neben dem offenen Tor des Tempels standen. Doch sein zerlumpter Mantel flatterte im Wind und verriet ihn so.

Sofort sprang Barbaron zu Knurr und landete auf seiner Schulter. »Ich glaube, ich habe ihn entdeckt. Siehst du die Säulen, die rechts neben dem Tor stehen?«, fragte er flüsternd den Kobold und er zeigte in die Richtung des Tores. Knurr sah angestrengt zu diesen Säulen, doch die Sonne blendete ihn so, dass er die schwarze Gestalt nicht erkennen konnte. »Ich bin mir nicht sicher, Barbaron. Wir sollten uns mit Orbin treffen. Der ist in der großen Halle und sucht dort in der Nähe des Altars nach unserem hässlichen Hexer.«

Sie verließen das Dach und trafen vor dem Altar den Nekromanten an. In der Zwischenzeit ging der Kampf mit absoluter Härte weiter. Cromber hatte den Prinzen an der linken Schulter verletzt. Die Wunde war nicht tief, doch sie blutete stark. Er selbst war von Artems Keule am rechten Bein getroffen worden. Zwei Stacheln der Keule waren tief in seinen Oberschenkel eingedrungen und auch Cromber blutete. Sie rangen beide nach Luft und standen sich für einen Moment lauernd gegenüber. »Verdammt noch mal, so weit hätte es nicht kommen müssen!«, fluchte Artem.

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