Das Rote Sofa

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Ein Krimi aus Lippe

DAS ROTE SOFA

Jörg Armin Kranzhoff

Brüder schlagen dann, morden einander, wüst ist die Welt: Es ist Beilzeit, Schwertzeit, Windzeit, Wolfszeit, bis einstürzt die Welt. (Edda. Voluspa 45-46)

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Copyright 2019 by Lippe Verlag

Dr. Hans Jacobs, Hellweg 72, 32791 Lage

ISBN 978-3-89918-819-6

Das rote Sofa

Er näherte sich dem Nachbarhaus, schlich durch die Hintertür, huschte durch den Flur und stieß die Tür zur Schlafkammer auf. Der Alte schreckte in seinem Bett hoch und rief um Hilfe. Als er die Schelle auf dem Nachttisch betätigen wollte, riss ihm der Eindringling brutal die Schnur aus der Hand. Er stürzte sich auf ihn, packte ihn an der Gurgel und würgte ihn. Der Alte wehrte sich verzweifelt und schlug wild um sich. Er keuchte und stöhnte, bis er zunehmend erlahmte, in die Kissen zurücksank und die Besinnung verlor. Der Mann ließ nicht von ihm ab. Seine Hände umklammerten den Hals seines Opfers, bis es kein Lebenszeichen mehr von sich gab.

Der Mann verließ das Haus, bahnte sich den Weg durch das dichte Gebüsch, hielt kurz inne, warf einen Blick zurück, als ob er sichergehen wollte, dass die Luft rein war, schritt auf das Deelentor zu, fand es verschlossen, entdeckte ein offenstehendes Stallfenster und schwang sich ins Innere.

Ich hörte, wie er die Treppe hochkam und die Tür zu meiner Schlafkammer aufgestoßen wurde. Er warf sich auf mich, griff mir an die Kehle und würgte mich. Ich hatte ihn dicht vor mir. Ich spürte, wie sein Atem ging. Er grinste höhnisch, seine Augen blitzten teuflisch. Und dann sah ich, wie sich sein Körper mit dichter Behaarung überzog und sein Gesicht in eine Wolfsfratze verwandelte. Seine Augen funkelten feurig-gelb, seine Ohren wurden lang und spitz, an den Fingern wuchsen ihm Krallen und im Mund Fangzähne. Er heulte auf und fletschte sein Gebiss. Aus seinem Maul floß grüner Speichel.

Ich wollte schreien, bekam aber keinen Ton heraus. Ich wollte den Angreifer zurückstoßen, aber mein Arm war wie gelähmt. Ich wollte aufspringen und weglaufen, aber meine Füße waren schwer wie Blei. Ich fühlte, wie meine Sinne schwanden. Ich sah alles nur noch wie durch einen Schleier und griff mit meinen Händen ins Leere.

Dann löste sich der Spuk plötzlich in nichts auf. Als ich verstört hochschreckte, konnte ich Traum und Wirklichkeit nicht auseinanderhalten und hatte mir unwillkürlich an den Hals gefasst. Ich fürchtete, der Fremde könne noch immer im Haus sein, und wagte mich nicht aus dem Zimmer. Die Bilder verfolgten mich. Ich wurde sie nicht los.

Was es mit dem Traum auf sich hatte, will erklärt werden. Angefangen hatte es damit, dass ich ein altes Bauernhaus im lippischen Dalborn erworben hatte. Es hatte lange leer gestanden und war in einem desolaten Zustand. Der windschiefe Bau machte den Eindruck, als könne er beim nächsten Sturm zusammenstürzen. Das Fachwerkgefüge hatte sich verzogen und abgesenkt. Die Ausmauerungen der Gefache waren brüchig oder bereits herausgefallen. Die Sparren und Dachlatten waren morsch und angefault. Die Stürme hatten einen Teil der Dachziegel weggefegt. Der verwahrloste Bau wirkte gespenstisch und bedrohlich, aber noch konnte ich nicht ahnen, was sich an grauenhaften Dingen hinter seinen Mauern getan hatte.

Der Vierständerbau aus dem Jahr sechzehneinundachtzig gehörte vormals einem sogenannten „Mittelkötter“, hatte aber beträchtliche Ausmaße und war trotz seines fortgeschrittenen Verfalls noch immer beeindruckend. Am Vordergiebel führte ein mächtiges Deelentor ins Innere. Zu beiden Seiten der zweigeschossigen Deele lagen die Ställe. Auf der Deele hatte man das Futter für die Tiere bereitet und das Getreide gedroschen. An den langen Winterabenden wurde der Flachs gehechelt, gesponnen und zu Leinen gewebt. An der Wand befanden sich noch immer die Scherpflöcke, die zur Herstellung der Kette benutzt wurden. Hier wurde auch gefeiert, wenn Hochzeiten und Kindstaufen anstanden, und der Leichnam aufgebahrt, wenn man des Verstorbenen gedachte.

Am Ende der Deele befanden sich die Waschnische und ein offener Herdraum mit einer Feuerbühne, von der der Rauch ins Freie zog. Dort wurde gewaschen, gekocht und gegessen. Neben der Feuerbühne gab es eine Luke, unter der eine schmale Stiege in ein Kellergewölbe führte. Es handelte sich um einen Kriechkeller mit niedriger Deckenhöhe und zwei winzigen Fensteröffnungen. Das Mauerwerk war stark durchfeuchtet und teilweise brüchig. Der Boden bestand aus einer verfestigten Schicht aus Lehm und Kalkmörtel. Von der Deele führte eine schmale hölzerne Stiege zu den Schlafkammern des Hausherrn und der Kinder. Dazwischen lag die Räucherkammer. Die Wursthaken steckten noch in dem kohlschwarz verräucherten Deckenbalken.

Die Leibzucht und den Schuppen hatte man irgendwann abgerissen. Der Garten war verwildert. Der Ziehbrunnen hatte die Zeiten überdauert. Wenn ich die Klappe hochhob, gähnte mir ein schwarzes Loch entgegen. An der Walze baumelte ein Blecheimer. Wenn ich ihn in die Tiefe ließ, dauerte es eine ganze Weile, bis er auf das Wasser traf. Ich hatte es abpumpen lassen, um den Schlamm zu entsorgen, der sich auf dem Grund angesammelt hatte. Dabei kamen ein Löffel, eine Bratpfanne und ein Haufen Tonscherben zum Vorschein.

Auf dem Obstkamp ragten nur noch einige verdorrte Baumstümpfe aus dem Boden. Von dem Backhaus, das unterhalb eines stark hängigen Wiesengeländes gestanden hatte, waren nur noch einige morsche Balken und ein Haufen Dachziegel übrig. In einer Senke floß ein Bach zu Tal, der zwei inzwischen verlandete Teiche gespeist hatte. In ihnen hatte angeblich der „Büllemock“ gehaust. Bei dem Wassergeist soll es sich um einen riesigen Frosch gehandelt haben. Die Mütter hatten die Kinder gewarnt, er zöge sie in die Tiefe, wenn sie beim Spielen in das Wasser plumpsten.

Das Gewässer war ein Tummelplatz der Wildvögel. Stock­enten hatten sich dort häuslich eingerichtet. Unlängst hatten sich Nilgänse dazugesellt. Gelegentlich tauchten auch Graureiher und Rotmilane auf. Der Eisvogel ließ sich nur selten blicken. Er machte sich davon, sobald er sich bemerkt fühlte. Das Käuzchen hatte sein Revier in den angrenzenden Eichenbeständen. Der lautlose nächtliche Räuber hat es vornehmlich auf Mäuse abgesehen. Im Sommer schwirrten die Fledermäuse wie Schatten im Zickzack über die Wasserfläche. Sie waren auf Insekten aus. Sie hatten ihren Nistplatz in meinem Kotten, genau gesagt in einer Nische im Gebälk des Torbogens.

Keiner konnte verstehen, dass ich mich für ein derart heruntergekommenes Haus begeistern konnte. Nach den Vorstellungen der Stadtväter war es ein Schandfleck für den Ort und sollte abgerissen werden. Unter dem Titel „Das Ende mit Brettern vernagelt“ hatte es in der Presse geheißen: „Die Fenster sind herausgerissen, mit Brettern vernagelt oder mit ihren Resten ein Spiel des Windes: Man denkt unwillkürlich an Schiller: In den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen.“

Doch ich hatte mich spontan in das alte Gemäuer verliebt. Es hatte seinen Charme, etwas Unverwechselbares, das ein Neubau niemals bieten kann, und zugleich etwas Beständiges, das Schutz und Geborgenheit versprach. Man konnte sich in ihm verkriechen und den hektischen Alltag hinter sich lassen. Das war exakt das stille Nest, das ich gesucht hatte, nachdem sich Hilde von mir getrennt hatte.

Es war inzwischen Anfang November. Der Himmel war grau und es nieselte unaufhörlich. Dichte Nebelschwaden verhüllten die Sicht auf das umliegende Gelände. Die beiden alten Hoflinden hatten ihr Blattwerk abgeworfen. Stellenweise hatte es der Wind zu großen Haufen verweht. Das kahle Astwerk ragte gespenstisch in den Himmel. Vom Dach des Kottens rieselte das Wasser und verwandelte das Erdreich in einen Sumpf.

Es war feucht und zugig im Inneren und roch allenthalben nach Modder. Durch das halb geöffnete Deelentor, dessen Flügel schief in den klobigen Angeln hingen, drang nur wenig Licht herein. Mir fröstelte. Ich zog meinen Schal enger um den Hals. Mich beschlichen böse Ahnungen. Würde ich es in diesem finsteren Gemäuer aushalten? Hilde hatte mich gewarnt.

Ich ließ meine Blicke schweifen: An der Decke der Deele, an den Wänden und Fenstern hatte sich angestaubtes Spinnwerk angesammelt. Auf dem Boden lagen ausgediente landwirtschaftliche Gerätschaften, morsche Bretter und Strohreste herum. In einer Ecke stand ein abgenutzter Hauklotz. Daneben lehnte ein Wagenrad.

Offensichtlich waren Diebe eifrig am Werk gewesen, bevor ich das Haus übernahm. Türen und Fenster fehlten weitgehend. Selbst die Eichenbohlen an den Decken und Giebelwänden waren zum Teil herausgerissen. Von der Inneneinrichtung waren nur ein rotes Sofa und ein roh behauener Steintrog übrig geblieben. Der Wasserkump war offensichtlich zu schwer, um ihn abzutransportieren. Das Sofa hatten die Diebe vermutlich verschmäht, weil sich das altersschwache Möbel schwerlich noch zu Geld machen ließ.

Das Möbel stammte aus „Lüdershof“, einem nahe gelegenen Rittergut, und hatte zur Einrichtung eines Salons im Obergeschoß des Herrenhauses gehört. Cord Drake, der Vorbesitzer meines Hofes, hatte es erstanden, nachdem es mit dem Gut wirtschaftlich immer mehr bergab gegangen war.

Er war noch bis ins hohe Alter auf Freiersfüßen. Das Sofa sollte ein Hochzeitsgeschenk werden. Seine Zukünftige sollte es einmal besser haben und wie die feinen Damen auf einem herrschaftlichen Sitz thronen. Aber aus dem Heiraten war nie etwas geworden. Am Ende waren all seine Träume verflogen.

Das Sofa war mit roter Seide bespannt und von vergoldetem Holzwerk umrahmt. Rot ist die Farbe des Blutes und der flammenden Liebe. Rote Rosen sind Boten der Liebe. Rote Lippen soll man küssen. Wenn bei Capri die Sonne glutrot im Meer versinkt, schlagen Herzen höher. Roter Wein ist wie das Blut der Erde.

 

Davon verstand der alte Drake nichts. Rote Fingernägel kannte er nicht, er wusste nicht, was mit Rotlicht­milieu gemeint ist, und auf Capri war er nie. Aber er kannte den Klatschmohn am Feldrain und er wusste, dass man Tomaten ernten soll, wenn sie rot werden. Rote Wangen, hatte der Doktor gesagt, sind ein Zeichen für Gesundheit. Dass rote Blutkörperchen lebenswichtig sind und Infrarot eine heilende Wirkung hat, war den Medizinern noch nicht bekannt, und wenn Not am Mann war, war auch kein Rettungswagen vom Roten Kreuz zur Stelle.

Rot ist die Farbe des Reichtums und der Macht. Könige zieren ihre Kronen mit roten Edelsteinen. Kardinäle und Richter kleiden sich in rote Roben. Wenn Staatsoberhäupter aufkreuzen, wird der rote Teppich ausgerollt.

Rot ist auch die Farbe des Krieges, des Feuers und der Hölle. Auf dem roten Planeten ist der Kriegsgott Mars zu Hause. Donar, der Gott des Blitzes, hat rote Haare. Römische Feldherren trugen rote Umhänge. Wenn die Rothäute das Kriegsbeil ausgruben, bemalten sie sich mit roter Farbe.

Rot ist eine Signalfarbe, wenn Gefahr droht. Rote Ampeln gebieten Halt. Der Schiedsrichter zeigt die rote Karte. Wenn man in die roten Zahlen kommt, muss man den Rotstift ansetzen. Den roten Faden darf man nicht verlieren. Den Stier reizt man mit einem roten Lappen. Wenn Menschen etwas auf den Tod nicht leiden können, sprechen sie vom roten Tuch. Rote Listen verzeichnen Gefährder. Rote Socken gehören nicht ins Parlament. „Rotland“ heißen die Feinde der NATO. Im Ernstfall drückt man auf den roten Knopf.

Von Wortsymbolik mochte Cord Drake keine Ahnung haben, aber Blut gehörte zum Alltag. Beim Schlachten fiel zwangsläufig die Blutwurst an. In seiner Kindheit hatte ihm die Mutter die Geschichte von Rotkäppchen und dem bösen Wolf vorgelesen. Auch vor dem Fliegenpilz sollte er sich hüten. Er hat eine hübsche rote Kappe, hatte sie gewarnt, ist aber giftig.

Und der Alte wusste auch, dass der Teufel und die Hexen rot­haarig sind und man Menschen mit roten Haaren nicht trauen soll. Wenn er abends am Herdfeuer saß und die Flammen loderten, musste er auf der Hut sein, dass am Ende nicht der rote Hahn auf dem Dach hockte. „Wer auf Gott vertraut, der hat wohl gebaut, im Himmel und auf Erden“, hatte der Pastor gesagt. Ansonsten drohte die Glut des Höllenfeuers.

Das Sofa hatte anfänglich, unter einem vergilbten Laken verborgen, in einer Nische neben der Kellerluke gestanden. Ich hatte es in die Nähe des Deelentors gerückt. Es war die einzige Sitzgelegenheit im ganzen Haus.

Mir gefiel das alte Stück auf Anhieb, seinen vormaligen Glanz konnte man allerdings nur noch erahnen. Der Stoff war verblichen. Ein paar Nähte waren lose und die goldene Farbe an den Lehnen und Füßen war brüchig und abgeblättert.

An der Unterseite des Sofas hatte ich eine Flickstelle entdeckt. Ich klappte den Stoff zur Seite und stellte fest, dass sich dort eine Aushöhlung befand. Vielleicht war darin etwas versteckt. Ich wollte nicht ausschließen, dass es sich um Wertgegenstände handeln könnte. Ich fühlte vorsichtig mit der Hand nach. Natürlich fand ich nichts. Vielleicht hatten sich Mäuse dort eingenistet, dachte ich.

Ich hatte den Anstrich des Holzwerks erneuern und das Polster reinigen lassen. Nach der Reinigung waren einige Flecken auf dem Bezug geblieben. Sie störten mich nicht sonderlich, denn auf dem dunkelroten Stoff fielen sie kaum auf.

Mir war aufgefallen, dass mein Hund auffällig an ihnen geschnüffelt hatte. Mich beschlich der Verdacht, dass es sich um Blutflecken handeln könnte. Ich fragte mich, wie sie entstanden sein mochten. Hatte es im Haus einen Unfall gegeben? Hatte sich einer verletzt? Oder steckte mehr dahinter? Könnten die Flecken auf einen Mord hindeuten? Das sind Hirngespinste, sagte ich mir. Vielleicht stammen die Flecken von den Schwalben, die im Frühjahr in der Deele aus und ein fliegen.

Die Wasserleiche

Ich hatte mich fürs Erste in der „Ortmühle“ einquartiert. In dem Gasthof des Nachbarortes wurde ich leidlich gut versorgt. Auf der Speisekarte standen Schlachteplatte, Bauernkotelett, Schnitzel, mal mit Zigeunersoße, mal mit geschmorten Champignons. Nebenbei erfuhr ich von dem Wirt das eine oder andere über das Umfeld.

Über Dalborn wusste ich bislang nur wenig. In der Urzeit hatte eine dicke Eisschicht die Gegend bedeckt. Vermutlich hatten sich die ersten Bewohner in finsteren Höhlen verkrochen. Später mochte es ein paar winzige Hütten gegeben haben, in denen Sammler und Jäger hausten. Es war mit Sicherheit ein unheimliches und gefährliches Terrain, durch das sich raublustige Wölfe und Bären schlichen. Die ersten Gehöfte des Dorfes waren im ausgehenden Mittelalter entstanden. Aus dieser Zeit hatte sich reichlich viel irdenes Geschirr erhalten. Die Scherben auf dem Grund meines Ziehbrunnens sprachen Bände.

Die winzige Ortschaft schmiegte sich in eine von mehreren Bachläufen durchflossene Talmulde. Rund ein Dutzend Höfe lagen links und rechts der Dorfstraße, einige von ihnen etwas abseits und versteckt hinter alten Baumbeständen. Die hausnahen Feldfluren grenzten beiderseits in langen, schmalen Hufen an die Hofanlagen. Ringsum erhoben sich dichtbewaldete Hügel.

Im Laufe der Zeit erfuhr ich, wer zu den Alteingesessenen gehörte, welches Ansehen einer hatte, wie er seinen Lebensunterhalt verdiente, wo er seine Frau kennengelernt hatte und wie viel Kinder er hatte. Wirtschaftlich sah es auf den Höfen nicht rosig aus. Die meisten Bauern hatten bereits aufgegeben und ihr Land verpachtet. Der Rest der Dorfbewohner war irgendwann zugezogen, die meisten während der Flüchtlingswelle nach dem Krieg. Ich hatte mich noch nicht mit allen vertraut gemacht. Die jungen Leute waren tagsüber beruflich unterwegs. Die Älteren bekam ich kaum zu Gesicht. Sie waren selten außer Haus.

Die rund achtzig Einwohner stammten fast alle aus dem Dorf. Jeder kannte jeden. Ich war neu. „Was will der hier?“, tuschelte man. „Warum hat er den alten Kasten gekauft? Es dürfte eine Menge Geld kosten, bis er ihn wieder in Schuss gebracht hat. Woher will er das Geld nehmen? Er soll Reporter bei der Zeitung sein. Dort wird man nicht reich! Er lebt allein mit seinem Hund. Hat er keine Frau?“

Dalborn war malerisch gelegen, aber nach wie vor ein abgelegener Ort, in dem sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten. Angeblich hatte er seit jeher einen schlechten Ruf. Dort solle man besser nicht hinziehen, hatte man mich gewarnt. Alle hatten von einer „Schnapsidee“ gesprochen: „Was willst du in diesem gottverlassenen Kaff? Willst du künftig unter ein paar Dutzend verschrobenen Bauern leben, die misstrauisch fragen: Wo kommst de wech, aber ansonsten den Mund nicht aufkriegen?“

Was die Mentalität der Lipper betrifft, kenne ich mich einigermaßen aus. Die Menschen sind stolz auf ihre Vorfahren. Sie sind bodenständig und hängen am Gewohnten. Gewiss, sie sind aus derbem Holz geschnitzt, sie wirken verschlossen und geben sich zuweilen störrisch, aber wenn man mit ihnen einen Sack Salz gegessen hat, zeigen sie Herz. Ich wusste immerhin, womit man bei ihnen rechnen muss, und das versprach zumindest eine gewisse Verlässlichkeit.

Wenn es um innerdörflichen Zwist ging, hatte man sich meist friedlich geeinigt. „Worümme Storm, wenn et mie Piusten auk geuht“ – Warum soll man einen Sturm entfachen, wenn es auch mit Pusten geht? Man war eine eingeschworene Gemeinschaft und hatte sich seit jeher gegen Ausbeutung und Willkür zur Wehr gesetzt. „Wider den Hochmut der Oberen“, hieß es, wenn die Schützenbrüder den gestopften Adler samt Reichsinsignien von der Stange schossen. Sie hatten sich genommen, was dem Hagenherrn und dem Fürsten nicht zustand. Sie hatten Abgaben, Spann- und Jagddienste verweigert und als das Amt ihnen eine fremde Hebamme aufzwingen wollte, hatten sie sich wegen Widersetzlichkeit lieber ins Gefängnis werfen lassen, als klein bei zu geben. Als die Werber des Preußenkönigs durchs Dorf zogen und die Bauernsöhne in die Armee zwingen wollten, wurde einer der Soldaten erschossen. Das galt als Notwehr.

Als Napoleons Horden über Lippe herfielen, hatte man entschlossen zur Waffe gegriffen. Man hatte feurige Kugeln am Himmel gesichtet, Wolken wie rollende, einander jagende und sich überstürzende Blutwellen und einen Stern, der wie ein Schwert aussah und in die Tiefe stürzte.

Eine Alte hatte gen Himmel geblickt und geseufzt: „Das wird Gott der Herr nicht zugeben, dass dieses gottlose Volk uns unterkriegt.“

„Ach was, ein Preuße schlägt drei Franzosen tot!“, hatte ihr Enkel sie beruhigt. Und dann war angeblich ein Bärtiger am Himmel aufgetaucht. Sechs Adler hatten ihn im Schlepp. Aus seinem Schwert zuckten grelle Blitze. Alles, was sich ihm entgegenstellte, zerfiel zu Asche. Es war, als wäre der Cherusker zurückgekehrt, um seinem Volk beizustehen.

Als die Welschen achtzehnsiebzig erneut einfielen, hatte der Dorflehrer den Kindern die Kampf- und Trutzlieder der „Hullahnen“ und „Drajuhners“ vorgesungen und als man es den fremden Vögeln bei Sedan heimgezahlt hatte, hatte der Pastor die Siegesmeldung von der Kanzel verlesen und sein Dankgebet mit den beschwörenden Worten geschlossen: „Gott sei gepriesen für die glorreiche Waffentat!“

„Wir haben sie beigerodet und ihnen den Urteilsspruch um den Hals gehängt“, hatte der „Rote Herm“ gerufen und stolz sein Eisernes Kreuz gezeigt.

Man soll alte Geschichten nicht aufwärmen, doch wenn sich die jungen Burschen aus Dalborn und Kleinenmarpe mit den Städtern aus Blomberg rauften, ging es nicht gerade zimperlich zu. „Marpe oben, Blomberg durchs Kellerloch!“, war die Parole.

Und auch im Dorf hatte es mitunter Vorfälle gegeben, die aufhorchen ließen. Bei einer Rauferei wurde ein junger Dalborner von einem Fleischergesellen aus Blomberg erstochen. Ein altersschwacher Kleinkötter wurde tot in einem Bewässerungsgraben gefunden. Ob es sich um einen Selbstmord handelte oder ein Verbrechen dahintersteckte, blieb offen. Ein Wilderer hatte es auf den Jagdaufseher abgesehen, aber versehentlich eine junge Fau tödlich getroffen. Alle im Dorf waren schockiert, aber man hielt sich zugute, dass der Täter nicht aus Dalborn stammte.

Eine Frau, von der es hieß, ihr Kind stamme aus einer unehelichen Beziehung, hatte sich ertränkt. Sie hatte in einem Haus auf dem „Knick“ gelebt, einer abgelegenen, bewaldeten Anhöhe oberhalb des Dorfes. Sie hatte gelegentlich den Bauern beim Heuen geholfen. Ihr Mann arbeitete im Sommer als Ziegler in der Fremde. Im Winter zog er von Haus zu Haus und schlachtete und wurstete.

Als einer aus dem Dorf im Wald unterwegs war, um Bickbeeren zu sammeln, hörte er eine Kinderstimme flehen: „Oh Mutter, nein, Mutter, nein, nein, nein!“ Dann ertönte ein fast übermenschlicher Schrei aus Kindermund. Am anderen Tag fand man in einem Teich zwei Leichen. Die Frau hatte ihr Kind mit einem Strick fest an sich gebunden. Das sind Gräueltaten aus längst vergangener Zeit, sagte ich mir. Wer weiß, ob das Überlieferte stimmt.

Ich hatte mir von meinem Leben in Dalborn Ruhe und Geborgenheit versprochen. Ich konnte nicht ahnen, dass ich mich auf ein riskantes Spiel eingelassen hatte. Im Dorf kursierten Gerüchte, dass es beim Verkauf des Nachbarhofes nicht mit rechten Dingen zugegangen war, und man fragte sich auch, ob der vormalige Eigentümer eines natürlichen Todes gestorben war.

Der Hof Drake lag in einer Senke abseits der Dorfstraße. Unterhalb der Hofgebäude floß ein kleiner Bach zu Tal, der zwei weitgehend verlandete Teiche speiste. Auf dem verwilderten und von Brombeergesträuch zugewucherten Obstkamp ragten nur noch ein paar kahle Stümpfe aus dem Boden. Dazwischen hatten sich zahllose Eschen wild gesät.

In der Hausinschrift ist von dem Herrn die Rede, der dich nährt mit deiner Hände Arbeit. Aber von dem Fleiß der Ahnherren war nicht mehr viel zu sehen. Das Wohnhaus war reichlich heruntergekommen. Auf dem Dach hatte sich dichtes Moos angesiedelt. Bei Regen tropfte das Wasser aus den brüchigen Dachrinnen. Auf dem Dachfirst drehte sich eine uralte Wetterfahne mit einem springenden Pferd von Zeit zu Zeit kreischend in den Angeln. Inzwischen gab es auf dem Hof keine Pferde mehr und auch die Kuhställe standen leer.

Die Scheune hatte man abgerissen. Die Leibzucht war baufällig. Das Backhaus hatte die besten Zeiten hinter sich. Das Lehmstakenwerk war stark in Mitleidenschaft gezogen und die Lehmkuppel fingerdick mit Ruß überzogen. Vormals hatte man sich die Glieder an der heißen Luft gewärmt. Die alte Gerstekorn litt an der Gicht. Sie fröstelte ständig. „De Naut es graut!“ – Die Nacht ist grau! – soll sie geseufzt haben. Wenn sie zu Bett ging, nahm sie die Wärmflasche mit und wickelte sich einen Schal um den Hals. Ihr Mann konnte den Arm nicht bewegen. Kluckhan wollte den Doktor holen. Drake wollte davon nichts wissen und hatte gespottet: „Den möt jui schwärmen!“, was so viel wie „dünsten“ hieß.

 

Bis unlängst hatte Cord Drake mit zwei ebenfalls unverheirateten Schwestern auf dem Hof gelebt. Da die jüngere aufgrund ihrer Dickleibigkeit „nie richtig anpacken“ konnte, hatte die ältere die Hausarbeit übernehmen müssen. Nach dem Tod ihrer Schwester wurde auch sie zunehmend gebrechlich. Als sie eines Abends in den Keller steigen wollte, war sie auf der schmalen Stiege ins Stolpern geraten und gestürzt. Niemand hatte es bemerkt. Am nächsten Morgen fand man sie leblos auf dem Boden.

Seitdem Cord Drake allein auf dem Hof lebte, war es mit dem Hauswesen laufend bergab gegangen. Man munkelte, der Alte sei hoch verschuldet, man sprach aber auch davon, er habe an geheimer Stelle einen Schatz gehortet. Im Siebenjährigen Krieg, wollte man wissen, hatte man unweit seines Hofs einen Feuereimer mit Gold vergraben. Als einer der Drakes spät abends dort vorbeikam, soll er ein Goldfeuer gesehen, zu seiner Pfeife gegriffen und ein Stück Kohle hineingesteckt haben. Am anderen Morgen soll er ein blankes Goldstück herausgeklopft haben.

Das waren Hirngespinste, aber als verbürgt galt, dass ein Vorfahr von einem französischen Offizier, der im Jahr achtzehndreizehn auf der Flucht vor den Preußen war, einen Beutel mit Silbertalern erhalten hatte. Das soll der Lohn dafür gewesen sein, dass er ihm auf seinem Hof Zuflucht gewährt hatte.

Auch Cord Drakes Großvater war unerwartet zu einem Vermögen gekommen. Er war um das Jahr achtzehnfünfzig als Goldschürfer nach Kalifornien aufgebrochen und soll mit einem Goldschatz zurückgekehrt sein. Ich wollte nicht ausschließen, dass man ihn in dem roten Sofa versteckt hatte.

Cord Drake galt als verschrobener Eigenbrötler. Wenn sich ein Fremder dem Haus näherte, war er umgehend zur Stelle und äugte misstrauisch zu dem Ankömmling hinüber, und wenn er ihn nicht kannte, rief er: „Wech hier vom Hoff! Ich hab nichts, ich brauch nichts, ich hab nichts zu verschenken!“

Auch Kinder hatten auf seinem Hof nichts zu suchen: „Kinder, die was wollen, kriegen was auf die Bollen!“ Wenn sich die Kleinen beim Versteckspiel in der baufälligen Leibzucht verkrochen, warnten die Mütter: „Bleibt da weg! Opa Drake will nicht, dass ihr dort spielt.“

Der Alte war inzwischen krank und hinfällig. „Wird Zeit, dass der Herrgott mich zu sich nimmt!“, soll er gemeint haben. Sein Nachbar Gerstekorn sah gelegentlich nach ihm. Da Drake keinen „Kürkasten“ besaß, wie man den Fernsprecher vormals nannte, hatte man eine Schnur zum Nachbarhaus verlegt, die im Notfall eine Schelle läuten ließ. Einmal hatte man den Arzt rufen müssen. „Der macht es nicht mehr lange“, hatte der Doktor gemeint. „Eigentlich kann er nicht länger ohne Aufsicht bleiben.“

Cord Drake hatte beschlossen, seinen Hof noch zu Lebzeiten einem weitläufigen Verwandten zu überschreiben. Philipp Drake war ein Nachkomme seines Onkels Karl Adolph Wilhelm, dessen Sohn im Jahr achtzehneinundachtzig in die Staaten ausgewandert war. Von Beruf war Philipp Drake Landprediger. Viel mehr war über ihn nicht bekannt.

Bevor der Erbe angereist war, hatte sich Cord Drakes Gesundheitszustand weiter verschlechtert. Gerstekorn hatte ihn nur noch selten gesehen. Als er einmal nach ihm schauen wollte, hatte er ihn beim Frühstücken angetroffen. Es war merklich kühl in der Stube. Der Alte war in Mantel und Schal gehüllt. Er hatte es wieder einmal versäumt, rechtzeitig den Ofen anzuzünden. Auf dem mit einer schmierigen Wachsdecke überzogenen Tisch standen wahllos eine Reihe von Gerätschaften herum: ein Teller mit einer klobig geschnittenen Brotscheibe, ein Messer, ein Buttergefäß, ein Marmeladenglas, ein Becher, eine Kaffeekanne und mehrere, zum Teil bereits geleerte Bierflaschen nebst einer Reihe von Utensilien, die vermutlich in Griffnähe liegen sollten, darunter eine Brille und diverse Medikamente. Auf der Anrichte türmte sich ein Stapel Papiere. Gerstekorn vermutete, dass es sich um Urkunden handelte, die für die geplante Überschreibung des Besitzes benötigt wurden.

Tage später fand man Cord Drake tot am Ufer des Haus­teichs auf. Er lag mit dem Gesicht nach unten im flachen Wasser. Die Arme waren weit ausgestreckt, als ob er an den Ufergewächsen nach Halt gesucht hätte. Als man die Leiche aus dem Wasser zog und umdrehte, stierten seine Augen ins Weite und sein geöffneter Mund machte den Eindruck, als habe er verzweifelt um Hilfe rufen wollen.

Die Nachricht ging wie ein Lauffeuer durch das Dorf. Alle rätselten, wie der Alte zu Tode gekommen war. War es ein Unfall? Hatte er einen Schwächeanfall bekommen? Etwas lebensmüde habe er durchaus gewirkt, hatte man eingeräumt, aber an einen Selbstmord wollte niemand so recht glauben und an einen Mord noch weniger. Doch man hielt sich bedeckt. „Sach bloß!“, meinte man vielsagend. Wie sollte man auch wissen, was an der Sache dran war. „Mui salt nich angohn, wat de Nobar deut!“ – man soll sich nicht darum scheren, was der Nachbar tut -, hieß es vormals.

Ich hatte einen Bericht verfasst. Unter dem Titel „Altbauer in Dalborn tot aufgefunden“ war von einem ruhigen Nest die Rede, in dem sich niemand hatte vorstellen können, dass es mit einem Anwohner ein so schreckliches Ende nehmen würde. Ich sprach von Spekulationen, dass es bei seinem Tod nicht mit rechten Dingen zugegangen war, aber auch davon, dass es bislang keinen gesicherten Hinweis auf ein Fremdverschulden gebe.

Im Dorf reagierte man mit Unmut: Ich brächte den Ort unnötig in die Schlagzeilen, hieß es. Mein Chef war begeistert: „Eine nicht gerade alltägliche Geschichte. Machen Sie etwas daraus und halten Sie die Leser auf dem Laufenden!“

Kriminalkommissar Hermann Dunkelmann hatte Ermittlungen eingeleitet. Er stammte aus Berlin, war aber seit langem in Lippe ansässig. Inzwischen stand er kurz vor seiner Pensionierung. Ein letzter, durchschlagender Erfolg würde seine Karriere positiv abrunden. Er war nicht mehr der Jüngste und alles andere als eine imponierende Erscheinung. Aber er galt als erfahren. Er kannte seine Pappenheimer. Er war Hans Dampf in allen Gassen und hatte seine Nase überall. Im Milieu sprachen sie von einem „Schnüffler“.

Wenn er seinen Namen nannte, horchte man gewöhnlich auf. Dunkelmann, das klingt nach Hölle oder Unterwelt. Er gab nichts darauf: Seine Vorfahren hießen schon immer so. Warum hatte niemanden interessiert. Im Grunde aber passte sein Name gewissermaßen zu seinem Beruf. Er hatte es laufend mit Unholden und Bösewichten zu tun. Ich fand, dass er dem Käuzchen glich, das sich tagsüber verkroch und erst nächtlich aus der Ulenflucht meines Kottens huschte. Der Räuber ist scheu. Man sieht ihn nie. Er geht erst nachts auf Jagd. Er kann nahezu lautlos gleiten und seine Beute auch im Dunkeln aufspüren.

Dunkelmann war klein und gedrungen, hatte Vollglatze und einen kaum zu übersehenden Bauchansatz. Er hatte einen watschelnden Gang und beim Laufen kam er rasch ins Schwitzen und Keuchen. „Humpelmann!“ hatte ihm einmal ein frecher Bengel nachgerufen. Dunkelmann war Brillenträger seit langer Zeit, aber hinter den schweren Gläsern verbargen sich zwei listige Augen. Wenn er seine Brille wieder einmal nicht greifbar hatte, schrieb er seine Notizen auf gut Glück. Seine Mitarbeiter wunderten sich, dass er das Gekrakel später noch lesen konnte.

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