Buch lesen: «24/7»

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Aus dem Englischen von Thomas Laugstien

Die englische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel 24/7. Late Capitalism and the Ends of Sleep bei Verso in London.

E-Book-Ausgabe 2021

© 2013 Jonathan Crary

© 2014, 2021 für die deutsche Ausgabe:

Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie © Peter Marlow / Magnum Photos / Agentur Focus. Reihenkonzept von Rainer Groothuis. Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

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ISBN: 9783803141651

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2835 5

www.wagenbach.de

Für Suzanne

Sonst machen wir ein Schreckgespenst aus dem Tag, Wirrwarr und Durcheinander aus unserer Welt W. H. Auden

Erstes Kapitel

Wer an der nordamerikanischen Westküste lebt, weiß, dass jedes Jahr Hunderte von Vogelarten diesen Kontinentalsockel hinauf- und hinunterziehen. Eine von ihnen ist die Dachsammer. Dieser Sperlingsvogel fliegt im Herbst von Alaska ins nördliche Mexiko und kehrt im Frühjahr zurück. Anders als andere Vögel besitzt er die ungewöhnliche Fähigkeit, auf seinen Wanderungen sieben Tage lang wach bleiben zu können. Bei diesem jahreszeitlichen Verhaltensmuster kann er nachts fliegen und tagsüber Nahrung suchen, ohne ausruhen zu müssen. Das amerikanische Verteidigungsministerium hat in den letzten fünf Jahren große Summen in die Untersuchung dieser Vögel gesteckt. Mit Regierungsgeldern geförderte Wissenschaftler erforschten an verschiedenen Universitäten, vor allem in Madison/Wisconsin, ihre Gehirnaktivität während dieser langen Perioden der Schlaflosigkeit, um daraus auf Menschen übertragbare Erkenntnisse zu gewinnen. Man will herausfinden, wie Menschen ohne Schlaf auskommen und gleichzeitig effizient funktionieren können. Das Ziel ist zunächst ganz einfach der schlaflose Soldat, und das Dachsammerprojekt ist nur ein kleiner Teil der breiteren militärischen Anstrengung, zu einer zumindest begrenzten Herrschaft über den Schlaf zu gelangen. Im Auftrag der Forschungsbehörde des Pentagon (DARPA1) erproben Wissenschaftler an verschiedenen Instituten Techniken zur Schlafüberwindung, unter anderem durch Neurotransmitter, Gentherapie oder transkranielle Magnetstimulation. Kurzfristig geht es um die Entwicklung von Methoden, durch die ein Kombattant mindestens sieben Tage lang wach bleiben kann, langfristig vermutlich darum, diesen Zeitrahmen wenigstens zu verdoppeln und dabei ein hohes Maß an mentaler und körperlicher Leistungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Die vorhandenen Methoden zur Schlafbekämpfung hatten immer kognitive und psychische Ausfallerscheinungen zur Folge (zum Beispiel verminderte Wachsamkeit). Das zeigt sich sowohl beim weitverbreiteten Einsatz von Amphetaminen in den meisten Kriegen des 20. Jahrhunderts als auch in jüngerer Zeit bei Medikamenten wie Modafinil. Das Ziel der Forschung besteht somit nicht darin, Methoden zum Wachhalten zu finden, sondern das körperliche Bedürfnis nach Schlaf zu verringern.

Seit über zwei Jahrzehnten ist die militärische Planungsstrategie der USA darauf ausgerichtet, das lebendige Individuum aus vielen Teilen der Befehls-, Steuerungs- und Durchführungsabläufe hinaus zu verlagern. Milliarden fließen in die Entwicklung automatischer oder ferngelenkter Zielsuch- und Tötungssysteme, was in Pakistan, Afghanistan und anderswo bestürzend deutlich sichtbar wurde. Trotz der überspannten Forderungen nach neuen Waffengenerationen und der ständigen Hinweise von Militäranalysten auf den Faktor Mensch als »Engstelle« moderner Systemabläufe dürfte aber in absehbarer Zukunft die Bedeutung großer menschlicher Armeen nicht geringer werden. Die Schlaflosigkeitsforschung lässt sich als Teil eines Versuchs begreifen, die körperlichen Fähigkeiten von Soldaten an die Funktionalität nichtmenschlicher Apparate und Netzwerke anzunähern. Der wissenschaftlich-militärische Komplex unternimmt gewaltige Anstrengungen, eine Form computergestützter Wahrnehmung (»augmented cognition«) zu entwickeln, die viele Arten der Mensch-Maschine-Interaktion verbessern soll. Gleichzeitig fördert das Militär andere Bereiche der Hirnforschung, unter anderem die Erfindung einer Droge zur Angstbekämpfung. Es wird Situationen geben, in denen zum Beispiel raketenbestückte Kampfdrohnen nicht einsetzbar sind, sodass man Todesschwadronen von schlafresistenten und angstunempfindlichen Kommandoeinheiten für zeitlich unbefristete Aufträge braucht. Als Teil dieser Bemühungen wurden Dachsammern aus den jahreszeitlichen Rhythmen des pazifischen Küstenmilieus herausgeholt, um zu erkunden, wie ein solches maschinelles Ausdauer- und Effizienzmodell auf den menschlichen Körper übertragen werden kann. Die Geschichte hat gezeigt, dass militärische Innovationen über kurz oder lang auch Aufnahme in allgemeinere soziale Lebensbereiche finden. Der schlaflose Soldat könnte so der Vorläufer des schlaflosen Arbeiters oder Verbrauchers sein. Anti-Schlaf-Pillen, aggressiv vermarktet von Pharmaunternehmen, könnten zunächst zu einer Lifestyle-Option und schließlich für viele zu einer Notwendigkeit werden.

Durchgehende Öffnungszeiten und die Möglichkeit, rund um die Uhr zu arbeiten oder einzukaufen, wurden schon längst eingeführt. Nun aber wird ein Mensch geschaffen, der auf diese Verhältnisse besser eingestellt ist.

Ende der neunziger Jahre kündigte ein russisch-europäisches Raumfahrtkonsortium den Bau und die Stationierung von Satelliten an, die Sonnenlicht auf die Erde reflektieren. Eine Kette von Satelliten mit ausgefalteten Parabolspiegeln aus papierdünnem Material sollte in 1 700 Kilometern Höhe in Umlaufbahnen gebracht und mit dem Sonnenstand synchronisiert werden. Bei einem Durchmesser von 200 Metern sollte jeder dieser Spiegelsatelliten ein Gebiet von zehn Quadratmeilen auf der Erdoberfläche mit der fast hundertfachen Helligkeit des Mondes beleuchten. Das Projekt war ursprünglich mit der Absicht entstanden, eine Beleuchtung für die industrielle Nutzbarmachung und extraktive Ausbeutung entlegener Gebiete in Sibirien und im nordwestlichen Russland zu schaffen, wo es lange Polarnächte gibt. Das sollte Außenarbeiten rund um die Uhr ermöglichen. Das Unternehmen erweiterte dann seine Pläne auf eine Nachtbeleuchtung für ganze Stadtregionen. Mit dem Argument der Einsparung von Stromkosten wurde dafür mit dem Slogan »Tageslicht die ganze Nacht« geworben. Sofort regte sich Widerstand von allen Seiten. Astronomen äußerten Bestürzung über die Konsequenzen für die Erkundung des Weltraums durch Bodenobservatorien. Wissenschaftler und Umweltaktivisten prophezeiten physiologische Schäden bei Mensch und Tier, weil das Fehlen regelmäßiger Tag-und-Nacht-Rhythmen verschiedene Stoffwechselvorgänge beeinträchtigen würde, unter anderem den Schlaf. Es gab auch Proteste von kulturellen und humanitären Gruppen, die den Nachthimmel zum menschlichen Gemeingut erklärten. Das Dunkel der Nacht zu erleben und die Sterne zu betrachten, sei ein grundlegendes Menschenrecht, das kein Unternehmen einfach kassieren könne. Falls dies tatsächlich ein Recht oder Privileg sein sollte, ist es für mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung schon längst außer Kraft gesetzt worden, da Städte ständig unter einer illuminierten Dunstglocke liegen. Befürworter des Projekts erklärten hingegen, diese Technologie könne den nächtlichen Stromverbrauch senken. Der Verlust des Nachthimmels und seiner Dunkelheit sei ein geringer Preis für den verminderten Energiekonsum. Wie dem auch sei – dieses letztlich unpraktikable Unternehmen ist ein konkretes Beispiel für ein modernes Imaginäres, in dem eine permanente Beleuchtung untrennbar verbunden ist mit dem Nonstop-Betrieb globaler Austausch- und Zirkulationsprozesse. In seinem unternehmerischen Wahn ist es der übertriebene Ausdruck einer vorherrschenden Unduldsamkeit gegenüber allem, was sich verdunkelnd oder verhindernd gegen eine instrumentalisierte, grenzenlose Sichtbarkeit sperrt.

Eine Form der Folter, die seit 2001 bei vielen Opfern außergerichtlicher Überstellung und anderen Inhaftierten angewandt wurde, war Schlafentzug. Die diesbezüglichen Fakten wurden bei einem bestimmten Häftling allgemein bekannt, seine Behandlung war aber vergleichbar mit dem Schicksal von Hunderten anderer, deren Fälle weniger gut dokumentiert sind. Mohammed al-Qahtani wurde gefoltert nach den Bestimmungen des »Ersten Sonderverhörplans« des Pentagon, unterzeichnet von Donald Rumsfeld. Zwei Monate lang wurde er fast ständig am Schlafen gehindert und oft zwanzigstündigen Verhören ausgesetzt. Er wurde in winzige Zellen gesperrt, ausgeleuchtet mit starken Scheinwerfern und beschallt mit lauter Musik, ohne sich hinlegen zu können. In militärischen Geheimdienstkreisen nannte man diese Gefängnisse »Dark Sites«, Dunkelkammern, während einer der Orte, in denen al-Qahtani eingekerkert war, den Codenamen »Camp Bright Lights« trug. Das war wohl nicht der erste Schlafentzug, der von Amerikanern oder ihren Verbündeten angewandt wurde. Es ist in mancher Hinsicht irreführend, den Schlafentzug herauszugreifen, weil er bei Mohammed al-Qahtani und vielen anderen nur Teil eines umfassenderen Programms von Schlägen, Demütigungen, Fesselungen und Scheinertränkungen war. Viele dieser »Programme« für außergerichtliche Häftlinge wurden eigens von Psychologen und speziellen Beraterteams zur Verhaltensforschung entwickelt, um gezielt die körperlich-emotionalen Verwundbarkeiten auszunutzen.

Schlafentzug als Folter lässt sich über viele Jahrhunderte zurückverfolgen. Seine systematische Anwendung fällt aber historisch zusammen mit der Verfügbarkeit von elektrischem Licht und Lautsprecheranlagen. Er wurde zuerst routinemäßig in den dreißiger Jahren von Stalins Geheimpolizei eingesetzt und war normalerweise der Auftakt für das, was die NKWD-Schergen das »Fließband« nannten – die organisierte Abfolge von Brutalitäten und sinnlosen Gewalttätigkeiten, die Menschen irreparabel verletzen. Diese Prozedur ruft nach relativ kurzer Zeit Psychosen und nach mehreren Wochen neurologische Schäden hervor. Bei Experimenten mit Ratten führt Schlaflosigkeit nach zwei bis drei Wochen zum Tod. Sie verursacht einen Zustand äußerster Hilflosigkeit und Willfährigkeit, in dem man dem Opfer aber keine sinnvolle Information mehr abpressen kann, weil es wahllos alles gestehen oder erfinden würde. Die Verweigerung von Schlaf ist die gewaltsame Enteignung des Selbst durch eine äußere Macht, die planmäßige Vernichtung des Individuums.

Natürlich wurde die Folter schon seit langem von den Vereinigten Staaten direkt oder über ihre Vasallenregime praktiziert. Das Neue nach dem 11. September ist aber die Leichtigkeit, mit der sie als ein kontroverses Thema neben anderen ins Blickfeld der Öffentlichkeit rücken konnte. Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Amerikaner die Anwendung von Folter unter bestimmten Umständen befürwortet. Dass Schlafentzug Folter sein soll, wird in den herrschenden Medien durchweg bestritten. Er wird vielmehr als psychologisches Druckmittel angesehen, das vielen genauso akzeptabel erscheint wie die Zwangsernährung hungerstreikender Häftlinge. Wie Jane Mayer in ihrem Buch The Dark Side berichtet, wurde Schlafentzug in Pentagon-Dokumenten zynisch damit gerechtfertigt, dass auch die Elitesoldaten der Navy Seals bei Übungseinsätzen 48 Stunden lang wach bleiben müssen.2 Entscheidend ist, dass die Behandlung der »Sonderhäftlinge« in Guantánamo und anderswo explizite Folterpraktiken mit einer vollständigen Kontrolle der sinnlichen Wahrnehmung verbindet. Die Insassen leben in fensterlosen Zellen bei ständiger Beleuchtung. Wenn sie herausgeführt werden, tragen sie Augen- und Ohrenklappen, damit sie weder wissen, ob Tag oder Nacht ist, noch sehen oder hören, wo sie sich aufhalten. Dieses System der sensorischen Deprivation umfasst oft auch die täglichen Kontakte zum Wachpersonal, das ihnen voll bewaffnet mit Handschuhen und Helm gegenübertritt, hinter einem nur halbdurchsichtigen Plexiglasvisier, sodass der Gefangene nie ein menschliches Gesicht, nicht einmal ein Stück Haut sehen kann. Zu diesen Techniken und Methoden, die eine erschreckende Willenlosigkeit hervorbringen sollen, gehört die Fabrikation einer Welt, die keinerlei Fürsorge, Schutz oder Beistand gewährt.

An dieser besonderen Konstellation aktueller Ereignisse lassen sich einige der vielfältigen Folgen neoliberaler Globalisierung und westlicher Modernisierungsprozesse ablesen. Ich möchte diesem Komplex keine besonders signifikante Erklärungskraft zubilligen. Er kann aber als vorläufiger Einstieg dienen, um Licht auf einige Paradoxien der expandierenden kapitalistischen Nonstop-Lebenswelt des 21. Jahrhunderts zu werfen – Paradoxien, die von den sich verändernden Verhältnissen zwischen Schlaf und Wachheit, Beleuchtung und Dunkelheit, Recht und Terror ebenso wenig zu trennen sind wie von den Formen der Exposition, Schutzlosigkeit und Verwundbarkeit. Man könnte einwenden, dass ich bestimmte Ausnahme- oder Extremfälle herausgreife. Wenn dem so ist, sind sie aber nicht ohne Bezug zu dem, was sich andernorts zu normalen Bedingungen entwickelt hat. Eine dieser Bedingungen lässt sich als die allgemeine Einordnung menschlichen Lebens in eine ununterbrochene Zeitdauer bezeichnen, die dem Prinzip permanenten Funktionierens gehorcht. Es ist eine Zeit, die nicht mehr vergeht, jenseits der Uhrzeit.

Hinter dem platten Slogan 24/7 verbirgt sich eine statische Redundanz, die ihr Verhältnis zu den rhythmischen Periodisierungen des menschlichen Lebens verleugnet. Er beschwört das künstliche, eintönige Bild einer 7-Tage-Woche im 24-Stunden-Takt, das die Entfaltung vielfältigen oder kumulativen Erlebens verhindert. Man könnte zum Beispiel nicht einfach 24/365 sagen, weil dies die unbequeme Vorstellung einer größeren Zeitspanne ermöglichen würde, in der sich etwas verändern könnte, in der es unvorhergesehene Ereignisse gibt. Wie ich eingangs sagte, arbeiten schon seit Jahrzehnten viele Institutionen in der entwickelten Welt rund um die Uhr. Erst jetzt aber wird die persönliche und soziale Identität so umgeformt, dass sie mit der ununterbrochenen Tätigkeit der Märkte, Informationsnetze und anderer Systeme in Einklang gebracht wird. Ein 24/7-Milieu sieht aus wie eine soziale Welt, ist aber ein nichtsoziales Modell mechanischen Funktionierens, eine Aufhebung des Lebendigen, die nicht verrät, auf wessen Kosten seine Betriebsamkeit geht. Es unterscheidet sich von dem, was Lukács und andere im frühen 20. Jahrhundert als die leere, gleichförmige Zeit der Moderne erkannten, von der metrischen oder kalendarischen Zeit der Nationen, Finanzen und Industrien, aus der persönliche Hoffnungen oder Pläne verbannt waren. Das Neue ist die radikale Preisgabe jedweden Anspruchs, Zeit mit langfristigen Unternehmungen oder auch nur mit Vorstellungen von »Fortschritt« oder Entwicklung zu verbinden. Eine strahlende 24/7-Welt, die keinen Schatten wirft, ist die kapitalistische Endzeitvision eines Posthistoire, einer Austreibung der Alterität als dem Motor geschichtlichen Wandels.

24/7 ist eine Zeit der Gleichgültigkeit, der gegenüber die Fragilität menschlichen Lebens zunehmend inadäquat wird, eine Zeit, in der der Schlaf nicht länger notwendig oder gar unvermeidlich ist. Sie lässt die Vorstellung eines Arbeitens ohne Pause, ohne Ende plausibel, ja normal erscheinen. So verbindet sie sich mit dem Unbelebten, Inerten oder Alterslosen. Als plakative Mahnung ordnet sie die absolute Verfügbarkeit an, weckt ununterbrochen neue Bedürfnisse, die aber beständig unerfüllt bleiben. Die fehlende Einschränkung des Konsums ist keine nur zeitliche. Wir sind längst über die Epoche hinaus, in der vor allem Dinge akkumuliert wurden. Unsere Körper und Identitäten nehmen heute eine immer größere Menge von Dienstleistungen, Bildern, Verfahren oder Chemikalien auf, bis hin zu einem toxischen und oft tödlichen Übermaß. Das langfristige Überleben des Individuums steht immer zur Disposition, wenn die Alternative auch nur indirekt die Möglichkeit einräumen könnte, dass der Fortgang des Shoppens oder der Vermarktung unterbrochen werden könnte. Auf diese Weise ist das 24/7-Modell, das mit seiner Verkündung der ständigen Verausgabung, der unablässigen Vergeudung zum Zwecke seiner Selbsterhaltung letztlich die Kreisläufe und zeitlichen Rhythmen des ökologischen Gleichgewichts sprengt, untrennbar verbunden mit der Umweltkatastrophe.

Der Schlaf in seiner tiefen Nutzlosigkeit und Passivität, mit den von ihm verursachten, unkalkulierbaren Verlusten in der Zeit der Produktion, Zirkulation und Konsumtion, wird mit den Ansprüchen einer 24/7-Welt stets kollidieren. Der gewaltige Teil unseres Lebens, in dem wir schlafen, befreit von einer Vielzahl vorgespiegelter Bedürfnisse, besteht als eines der großen menschlichen Ärgernisse für die Gefräßigkeit des heutigen Kapitalismus fort. Schlaf ist die kompromisslose Unterbrechung der uns vom Kapitalismus geraubten Zeit. Die meisten der scheinbar unhintergehbaren Notwendigkeiten menschlichen Lebens – Hunger, Durst, sexuelles Begehren und neuerdings auch das Bedürfnis nach Freundschaft – wurden in Waren- oder Geldform verwandelt. Schlaf aber bedeutet die Idee eines menschlichen Bedürfnisses und Zeitintervalls, das sich nicht von einer gewaltigen Profitmaschinerie vereinnahmen oder einspannen lässt, das eine sperrige Anomalie bleibt, ein Krisenherd in der globalen Gegenwart. Trotz aller wissenschaftlichen Forschung auf diesem Gebiet durchkreuzt und vereitelt er alle Strategien, ihn nutzbar zu machen und umzugestalten. Das Verblüffende, das Unbegreifliche ist, dass sich nichts Verwertbares aus ihm herausholen lässt.

Es sollte nicht überraschen, dass der Schlaf heute allenthalben beeinträchtigt wird, wenn man bedenkt, um was es wirtschaftlich geht. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat es beständig Einschnitte in die Zeit der Nachtruhe gegeben – der nordamerikanische Durchschnittsbürger schläft heute etwa sechseinhalb Stunden, gegenüber acht Stunden noch vor einer Generation und (man glaubt es kaum) zehn Stunden zu Beginn des Jahrhunderts. Die bekannte Formel »Wir verbringen ein Drittel unseres Lebens im Schlaf« schien Mitte des 20. Jahrhunderts eine axiomatische Gewissheit zu sein – eine Gewissheit, die immer fraglicher wird. Schlaf ist die allgegenwärtige, aber unbemerkte Reminiszenz einer nie vollständig überwundenen Prämoderne, der ländlichen Welt, die vor vierhundert Jahren zu versinken begann. Sein Ärgernis ist die Einbettung unseres Lebens in den rhythmischen Wechsel von Sonnenlicht und Dunkelheit, Tätigkeit und Ruhe, Arbeit und Erholung, der ansonsten ausgelöscht oder stillgestellt wurde. Natürlich hat auch der Schlaf eine Geschichte wie alles, was als natürlich gilt. Er war nie monolithisch oder unwandelbar, er nahm über die Jahrhunderte und Jahrtausende vielfältige Gestalten und Formen an. Marcel Mauss, der sich in den dreißiger Jahren mit Schlafen und Wachen in seiner Studie über »Techniken des Körpers« beschäftigt hat, zeigt, dass scheinbar instinktive Verhaltensmuster in allen erdenklichen Formen durch Nachahmung oder Erziehung erworben wurden.3 Trotzdem darf man annehmen, dass in der breiten Vielfalt vormoderner Agrargesellschaften entscheidende Merkmale des Schlafs dieselben blieben.

Um die Mitte des 17. Jahrhunderts begann der Schlaf die feste Stellung zu verlieren, die er noch in aristotelischen oder Renaissancekontexten besessen hatte. Seine Unvereinbarkeit mit modernen Produktivitäts- und Rationalitätsbegriffen wurde konstatiert, und Descartes, Hume oder Locke waren nur einige der Philosophen, die den Schlaf wegen seiner Irrelevanz für Verstand und Erkenntnis in Misskredit brachten. Er wurde abgewertet angesichts der Hochschätzung von Bewusstsein und Willenskraft, von Nützlichkeit, Objektivität und eigennütziger Tätigkeit. Für Locke war er eine bedauerliche, wenngleich unvermeidliche Unterbrechung der gottgewollten menschlichen Priorität, arbeitsam und verständig zu sein. Schon im ersten Absatz von Humes Treatise on Human Nature wird Schlaf als Beispiel für Hindernisse der Erkenntnis in einen Topf mit Fieber und Wahnsinn geworfen. Mitte des 19. Jahrhunderts wird das asymmetrische Verhältnis von Schlafen und Wachen in hierarchischen Modellen begriffen, wenn der Schlaf als Regression in einen niederen, primitiveren Zustand gilt, der eine höhere, komplexere Denktätigkeit hemmt. Schopenhauer ist einer der wenigen Philosophen, die diese Hierarchie umkehren, wenn er sagt, dass wir nur im Schlaf zum »eigentlichen Kern des Lebens« vordringen.4

In vielerlei Hinsicht muss man den unsicheren Status des Schlafs auf die Dynamik einer Moderne beziehen, die jede Organisation der Wirklichkeit in binäre Gegensätze zunichte gemacht hat. Die homogenisierende Kraft des Kapitalismus ist unvereinbar mit der inneren Differenzierung in Heiliges und Profanes, Karneval und Alltag, Natur und Kultur, Maschine und Organismus. Alle fortbestehenden Begriffe von Schlaf als etwas Natürlichem werden inakzeptabel. Zwar werden Menschen nach wie vor schlafen. Auch brodelnde Megastädte werden nachts Phasen relativer Ruhe haben. Schlaf ist aber heute eine Erfahrung, die nicht mehr als eine Naturnotwendigkeit gilt. Wie vieles andere auch wird er als eine variable, aber kontrollierbare Funktion aufgefasst, die sich nur instrumentell und physiologisch bestimmen lässt. Neuere Forschungen zeigen, dass die Zahl der Menschen exponentiell zunimmt, die nachts ein- oder mehrmals aufstehen, um ihre Mails oder Daten zu checken. Eine scheinbar unlogische, aber verbreitete Bezeichnung ist der »Schlafmodus« (sleep mode) technischer Geräte. Der Begriff eines energiesparenden Bereitschaftszustands lässt den umfassenderen Sinn von Schlaf zum bloß verzögerten oder verminderten Zustand der Funktionsfähigkeit und Verfügbarkeit werden. Er verdrängt das »Ein/Aus«-Prinzip. Nichts ist mehr richtig »aus«. Nie gibt es einen wirklichen Schlafmodus.

Schlaf ist die irrationale, unannehmbare Bestätigung der Tatsache, dass lebendige Wesen mit den vermeintlich unwiderstehlichen Kräften der Modernisierung nicht grenzenlos kompatibel sind. Es gehört heute zu den Gemeinplätzen kritischen Denkens, dass es keine Naturkonstanten gibt – nicht einmal den Tod, wenn man den Vorhersagen glaubt, dass wir unsere Verstandesdaten bald abspeichern können, um digital unsterblich zu sein. Dass Lebewesen sich von Maschinen durch entscheidende Merkmale unterscheiden, sei eine naive Selbsttäuschung, teilen uns bekannte Theoretiker mit. Wer sollte etwas dagegen haben, wenn man dank neuartiger Pillen hundert Stunden lang durcharbeiten kann? Würde nicht eine flexible und reduzierte Schlafdauer mehr persönliche Freiheit bedeuten, die Möglichkeit, sein Leben mit individuellen Bedürfnissen und Wünschen besser in Einklang zu bringen? Würde nicht weniger Schlaf die Chancen erhöhen, »sein Leben voll auszuleben«? Man könnte einwenden, dass Menschen nachts schlafen müssen, dass unser Körper auf die tägliche Erdumdrehung eingestellt ist und dass in fast jedem Organismus periodische und sonnenreaktive Verhaltensweisen auftreten. Diese Einwände würden vermutlich als New-Age-Spinnereien oder, schlimmer noch, als ominöse Sehnsüchte nach heideggerianischer Erdverbundenheit abgetan. Im neoliberal-globalistischen Denken ist Schlafen nur etwas für Verlierer.

Im 19. Jahrhundert, nach den schlimmsten Auswüchsen der Industrialisierung, kamen Fabrikmanager, wie Anson Rabinbach in seiner Arbeit über die »Ermüdungswissenschaft« gezeigt hat,5 zu der Erkenntnis, dass es profitabler ist, wenn man den Arbeitern kleinere Ruhezeiten gewährt, damit sie auf längere Sicht effizienter und ausdauernder sind. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts jedoch und bis in die Gegenwart, mit dem Zusammenbruch kontrollierter oder gemilderter Formen des Kapitalismus in Europa und den Vereinigten Staaten, gibt es für Ruhe und Erholung als Komponenten von Wirtschaftlichkeit und Wachstum keine innere Notwendigkeit mehr. Ruhe- und Erholungszeit ist einfach zu kostspielig geworden, um im heutigen Kapitalismus strukturell möglich zu sein. Teresa Brennan hat für die brutalen Diskrepanzen zwischen den zeitlichen Abläufen deregulierter Märkte und den körperlichen Grenzen der Menschen, die sich auf diese Anforderungen einstellen müssen, den Begriff der »Bioderegulation« geprägt.6

Der Verfall des langfristigen Werts lebendiger Arbeit liefert keinen Anreiz, um Ruhe oder Gesundheit zu wirtschaftlichen Prioritäten zu machen, wie neuere Diskussionen zur Gesundheitsfürsorge zeigen. Es gibt (mit der kolossalen Ausnahme des Schlafs) nur noch ganz wenige bedeutsame Interludien menschlichen Lebens, die nicht als Arbeits-, Konsum- oder Vermarktungszeit ausgefüllt und vereinnahmt wurden. Luc Boltanski und Ève Chiapello haben in ihrer Analyse des heutigen Kapitalismus die Kräftekonstellation beschrieben, die zur Aufwertung eines ständig sich engagierenden, einschaltenden, interagierenden, kommunizierenden, reagierenden oder mit einer telematischen Umgebung vernetzten Individuums führt. In den globalen Wohlstandsregionen habe sich dies durch eine weitgehende Auflösung der Grenzen zwischen Arbeit und Konsum oder zwischen privater und berufstätiger Zeit vollzogen. Im herrschenden »konnexionistischen« Denken würde Aktivität um ihrer selbst willen am höchsten belohnt. »Immer etwas zu tun, etwas zu unternehmen, sich zu verändern – das wird geschätzt, anders als Stabilität, die oft gleichgesetzt wird mit Untätigkeit.«7 Dieses Tätigkeitskonzept beruht nicht etwa auf einer älteren Arbeitsethik. Es ist ein ganz neues Modell normierten Verhaltens, das zu seiner Realisierung Zeitstrukturen im 24/7-Modus verlangt.

Um kurz zurückzukommen auf das oben erwähnte Projekt: Der Plan, riesige Reflektoren in den Orbit zu schießen, damit sie das Sonnenlicht spiegeln und das Dunkel der Nacht eliminieren, hat etwas Skurriles und wirkt wie ein Low-Tech-Relikt aus einer mechanistischen Utopie von Jules Verne oder wie ein Science-Fiction-Roman aus dem frühen 20. Jahrhundert. Tatsächlich waren die ersten Probestarts nicht allzu erfolgreich – das eine Mal wurden die Reflektoren nicht in der richtigen Position ausgespannt, ein anderes Mal verhinderten dichte Wolken über der Versuchsstadt eine überzeugende Demonstration. Die Ambitionen dieses Projekts stehen offenbar in der Tradition panoptischer Praktiken, die in den letzten zweihundert Jahren entwickelt wurden. Es deutet etwa zurück auf die Bedeutung der Beleuchtung in Benthams Modell des Panoptikums, wo ein den Raum durchflutendes Licht, das keine Schatten wirft, für eine lückenlose Beobachtbarkeit und Überwachung sorgt.8 Doch haben seit einigen Jahrzehnten andere Arten von Satelliten Überwachungsoperationen und Datensammlungen viel raffinierter betrieben. Ein modernisierter Panoptismus hat sich über sichtbare Lichtwellen hinaus auf andere Teile des Spektrums erweitert, ganz zu schweigen von allen möglichen nichtoptischen Scannern oder Wärme- und Biosensoren. Das Satellitenprojekt lässt sich vielleicht eher als Fortsetzung von stärker nützlichkeitsorientierten Maßnahmen des 19. Jahrhunderts begreifen. Wolfgang Schivelbusch zeigt in seiner Geschichte der Stadtbeleuchtung, dass die allgemeine Einführung von Straßenlaternen in den 1880er-Jahren zwei miteinander verbundene Ziele erreichte: Sie hat die alten Ängste vor den Gefahren nächtlicher Dunkelheit stark reduziert und gleichzeitig den zeitlichen Rahmen vieler wirtschaftlicher Aktivitäten erheblich vergrößert, mithin auch deren Einträglichkeit.9 Die Illuminierung der Nacht war ein symbolischer Beweis für das, was Apologeten des Kapitalismus das gesamte 19. Jahrhundert hindurch verkündet hatten: Sie stellte die doppelte Garantie von Sicherheit und erweitertem allgemeinen Wohlstand dar, indem sie die Einrichtung des sozialen Lebens für alle verbessern sollte. So gesehen, ist der Siegeszug der Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft eine Verwirklichung dieses älteren Projekts – nur mit den Segnungen eines Wohlstands, der vor allem einer mächtigen globalen Elite zufällt.

Der 24-Stunden-Takt unterläuft beständig die Abgrenzung zwischen Tag und Nacht, Dunkelheit und Licht, Ruhe und Tätigkeit. Er schafft eine Zone der Unempfindlichkeit, eine Sphäre der Amnesie, die jede Möglichkeit von Erfahrung zunichte macht. Mit Maurice Blanchot gesprochen, ist er die Katastrophe selbst und ihr Danach, der leere Himmel, in dem kein Stern, kein Zeichen mehr sichtbar ist, in dem jede Orientierung verlorengeht.10 Er gleicht, konkreter gesagt, einem Ausnahmezustand, als würde mitten in der Nacht aufgrund außergewöhnlicher Umstände plötzlich eine Batterie von Scheinwerfern aufleuchten, die nicht mehr ausgeschaltet werden. Der Globus wird als 24-Stunden-Betrieb gedacht, als durchgehend geöffnetes Einkaufszentrum mit einer unendlichen Anzahl von Dingen, Aufgaben, Wahlmöglichkeiten und Ablenkungen. Schlaflosigkeit ist der Zustand eines pausenlosen Produzierens, Konsumierens und Wegwerfens, das die Erschöpfung des Lebens und die Vergeudung der Ressourcen vorantreibt.

Als das verbliebene Haupthemmnis – das letzte der von Marx so genannten »Naturhindernisse« – für die vollständige Durchsetzung des 24/7-Kapitalismus lässt sich der Schlaf nicht beseitigen. Er lässt sich aber zerrütten und aushöhlen, und die Methoden und Triebkräfte dieser Zerrüttung sind voll am Werk, wie meine Eingangsbeispiele zeigen. Die Beeinträchtigung des Schlafs ist untrennbar verbunden mit dem Abbau sozialer Sicherungen in anderen Bereichen. Genauso wie weltweit der allgemeine Zugang zu sauberem Trinkwasser durch Verschmutzung und Privatisierung systematisch zunichte gemacht wurde, mit dem Resultat der Vermarktung von Wasser in Plastikflaschen, ist eine ähnliche künstliche Verknappung auch beim Schlaf leicht zu erkennen. Die Summe aller Beeinträchtigungen ruft jene Insomnie hervor, in der Schlaf letztendlich gekauft werden muss (auch wenn man dabei für einen chemisch modifizierten Zustand bezahlt, der nur annähernd dem richtigen Schlaf entspricht). Nach Statistiken zum steigenden Schlaftablettenkonsum bekamen im Jahr 2010 rund 50 Millionen Amerikaner Präparate wie Ambien oder Lunesta verschrieben, viele weitere Millionen kauften rezeptfreie Schlafmittel. Es wäre aber abwegig zu glauben, dass eine Verbesserung der gegenwärtigen Verhältnisse die Menschen tief schlafen und erholt aufwachen ließe. Denn Schlaflosigkeit dürfte heutzutage auch in einer weniger repressiven Welt kaum zu beseitigen sein. Ihre geschichtliche Bedeutung und ihre besondere Gefühlsstruktur verdankt sie kollektiven Erfahrungen, die ihr äußerlich sind. Sie ist nicht mehr zu trennen von vielen weiteren weltweiten Formen der Enteignung und des sozialen Verfalls. Als aktuelles Phänomen individuellen Verlusts hängt sie zusammen mit einer allgemeinen Weltlosigkeit.

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