Buch lesen: «Wittgenstein für Neulinge»

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Jona Tomke

Wittgenstein für Neulinge

Der wichtigste Philosoph der Neuzeit - endlich verständlich

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Inhaltsverzeichnis

Titel

WITTGENSTEINS ANLIEGEN

DIE ILLUSION DES FORTSCHRITTS

WOVON MAN NICHT SPRECHEN KANN, DARÜBER MUSS MAN SCHWEIGEN …

ENTSCHÄRFUNG DER METAPHYSIK

WIE BEDEUTUNG ENTSTEHT

BEREICHE DER BEDEUTUNG

RÜCKHOLUNG DES SELBST – Wittgensteins Philosophie der Psychologie

VOM WERT DES RITUALS – Wittgensteins Bemerkungen über Frazers Golden Bough

MAN WIRD OFT VON EINEM WORT BEHEXT, ZUM BEISPIEL VOM WORT „WISSEN“ – Wittgensteins Über die Gewissheit

„WAS AUF EINER LEITER ERREICHBAR IST, INTERESSIERT MICH NICHT“ – Wittgenstein über das Wunder der Normalität

SELBSTLOSIGKEIT – Wittgensteins Befreiungsschlag gegen die Identität

DER NEUE STIL DES DENKENS – nach Ludwig Wittgenstein

WITTGENSTEINS PROGRAMM

WITTGENSTEIN UND HEIDEGGER

G. W. Leibniz: Monadologie in leichter Sprache

Impressum neobooks

WITTGENSTEINS ANLIEGEN

Ludwig Wittgenstein ist der bedeutendste Philosoph der Neuzeit. Ihm ist an der Überwindung der auf Plato und Aristoteles zurückgehenden und das philosophische Denken der letzten 2.000 Jahre prägenden Vorstellung gelegen, dass wir als Menschen einer Außenwelt gegenüberstehen, welcher wir uns durch „Werkzeuge“ des Denkens bemächtigen.

Eine die Welt und ihre Verhältnisse handhabende Philosophie, die berechnet und begründet, ersetzt Wittgenstein durch die Besinnung auf Bedeutung. Denn Wissen kann bei näherer Betrachtung nicht den Urgrund bilden für menschliches Streben und Innesein. Wittgenstein weist auf, wie das Denken nicht etwa vermittelt zwischen Menschen und dem, was sie umgibt, sondern vielmehr einem Sein oder Feld entspringt, in dem Subjekt und Objekt beheimatet sind und in einem innigen Verhältnis zueinander stehen – nicht wie eine Karte zu ihrem Gebiet oder ein Bild zu dem, was es wiedergibt, sondern wie ein Hammer zum Nagel oder ein Kunstwerk zu seinem Betrachter.

Menschen können die Welt zwar reflektieren, bewältigen, doch „inbegriffen“ oder in ihr zu Hause sind sie nicht durch Vorsicht oder die Bilder, welche sie sich von ihr machen. Das gegenständliche Denken untermauert – nichts. Seine Ideengebäude kommen ständig in Not und außer Mode. Dass sie an sich bedeutungsleer sind, wird nur nicht genügend nachvollzogen, solange anstelle von ohnmächtig gewordenen Formeln noch deren Abwesenheit – als „Nihilismus“ – regiert.

Wittgenstein liegt daran, diese Abwesenheit verschwinden zu lassen, weil in ihr der Irrtum weiterlebt, die Welt müsse alles in allem vorstellbar sein. Nihilismus wird witzlos, sobald sich zeigt, dass er durch die Abwesenheit von Falschgeld charakterisiert wird. Wittgenstein lenkt unsere Aufmerksamkeit stattdessen auf den Umlauf der wahren Währung dank jener uns alles reichenden „Lichtung“, die Rede und Welt einbindet und von ihm ausgemacht wird in den Regelmäßigkeiten und Possen des gewöhnlichen Lebens.

DIE ILLUSION DES FORTSCHRITTS

Wittgenstein will die herkömmliche Philosophie des Gegenständlichen und seiner Berechnung ersetzen durch eine Philosophie spontaner Bedeutung und Besinnlichkeit.

Die Philosophie der Berechnung entspringt der Auffassung, der Mensch stehe der Welt gegenüber und bediene sich seiner Vorstellung, um ihre Verhältnisse zu deuten und handzuhaben. Wittgenstein weist nach, dass unser Sein in der Welt nicht auf ihrer Vergegenwärtigung beruht, welche nur Abkömmling ist von etwas Einschneidenderem, Bedeutenderem, das Menschen und Welt zusammenfasst und unverfälscht erscheint in Gepflogenheiten und Sprache.

Keineswegs bestritten wird die Welt als Vorstellung, nur gelangen wir infolge solcher Vergegenwärtigung nicht zu dem, was Menschen und Sein wesenhaft ausmacht. Dieser Irrtum wachse seit der Renaissance, meint Wittgenstein, mit dem Gebäude der Wissenschaften, welche sachliche Verfahren und Instrumente entwickelten, um die Welt zu deuten. „Der ganzen modernen Weltanschauung“, schreibt er in der Logisch-philosophischen Abhandlung (auch bekannt als Tractatus), „liegt die Täuschung zugrunde, dass die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien“ (6.371).

Was die Naturgesetzte erklären, ist nicht sehr umfangreich. Wohl liefern sie wirksame Mittel, aber keinen Zweck. „So bleiben sie bei den Naturgesetzen als bei etwas Unantastbarem stehen, wie die älteren bei Gott und dem Schicksal“, heißt es kritisch in der Logisch-philosophischen Abhandlung. „Und sie haben ja beide Recht [sic!], und Unrecht [sic!]. Die Alten sind allerdings insofern klarer, als sie einen klaren Abschluss anerkennen, während es bei dem neuen System scheinen soll, als sei alles erklärt“ (6.371).

Die Magie der Primitiven reklamiert nicht – wie unsere die Welt vergegenständlichenden Wissenschaften – die Erklärungsmacht für alles, was es gibt und geben wird. Der Glaube an die Allmacht der Naturgesetze, das Organon der Wissenschaften, ist so stark, dass er als absolut sicher gilt: Ihre Handhabung verbessert das Leben der Menschheit. „Unsere Zivilisation ist durch das Wort ‚Fortschritt‘ charakterisiert“, beklagt Wittgenstein in diesem Kontext in seinen Vermischten Bemerkungen. „Der Fortschritt ist ihre Form, nicht eine ihrer Eigenschaften, dass sie fortschreitet. Sie ist typisch aufbauend. Ihre Tätigkeit ist es, ein immer komplizierteres Gebilde zu konstruieren. Und auch die Klarheit dient doch immer nur dem Zweck und ist nicht Selbstzweck. Mir dagegen ist die Klarheit, die Durchsichtigkeit, Selbstzweck. Es interessiert mich nicht, ein Gebäude aufzuführen, sondern die Grundlage aller möglichen Gebäude durchsichtig vor mit zu haben. Mein Ziel ist also ein anderes als das der Wissenschaftler & meine Denkbewegung von der ihrigen verschieden.“

Wenn sich der Witz der Welt erschöpft in der wissenschaftlich-physischen Vergegenwärtigung ihrer Handhabungsmöglichkeiten, dann werden auch die Menschen zu nichts anderem als „Kräften“, die man ausbeuten, „Dingen“, die man bewältigen kann. Außerdem bleibt unter der Herrschaft des Fortschritts die Gegenwart grundsätzlich zurück hinter einer vorgestellten Zukunft, welche die grausamsten Opfer rechtfertigt.

Wissenschaft und Fortschritt schieben die Stimmungs- oder Sinn-Fragen der Menschheit, die immer hier und jetzt existieren, prinzipiell auf. „Ich könnte sagen“, schreibt Wittgenstein in den Vermischten Bemerkungen, „wenn der Ort, zu dem ich gelangen will, nur auf einer Leiter zu ersteigen wäre, gäbe ich es auf, dahin zu gelangen. Denn dort, wo ich wirklich hin muss, dort muss ich eigentlich schon sein. Was auf einer Leiter erreichbar ist, interessiert mich nicht.“

Die Leiter steht für Planung und Wissenschaft. Darüber hinaus bezieht sich Wittgenstein hier auf den Hintergrund oder das Feld, welches alles bereits einbinden muss, damit Bedeutung überhaupt stattfindet. Die Techniken der Wissenschaft sind einer von zahllosen Abkömmlingen dieses Grundes, welcher die Vergegenständlichung ermöglicht, durch deren Weiterungen jedoch zugedeckt zu werden droht.

Denn die Technik steht nicht nur zu Gebote, sondern wirkt zugleich stilbildend – in einem Maß, das wir Menschen bald oder vielleicht sogar heute schon nicht mehr außerhalb eines Zusammenhangs zu leben verstehen, der die Kräfte der Technik ebenso unverrückbar einbindet wie uns selbst. Unabhängig von Wissenschaft und Planung verfügten wir über keine Existenz und deswegen auch über keinen Halt mehr, um die modernen Verhältnisse, welche sich als Ganzes bewegen, noch zu beeinflussen.

Dass sie sich in eine vorteilhafte Richtung bewegen, in die wir sie sogar lenken, ist für Wittgenstein das fromme Wunschbild des Fortschritts. Sein Philosophieren bezweckt, den akuten Verläufen durch die Kritik ihrer inneren Voraussetzungen das Alleinrecht an Sein und Welt der Menschen zu entziehen, damit diese wieder zum pulsenden Ursprung ihres ganzen Lebens zurückgelangen.

WOVON MAN NICHT SPRECHEN KANN, DARÜBER MUSS MAN SCHWEIGEN …

So lautet der notorische Schlusssatz der Logisch-philosophischen Abhandlung – Wittgenstein bezieht sich damit auf Ethik, Ästhetik und Logik: Sinnvolle Aussagen lassen sich nur über die Welt treffen, nicht jedoch über das, was diese erschafft oder was in ihrem Kontext nahegelegt wird.

„Wenn etwas gut ist, so ist es auch göttlich“, schreibt Wittgenstein in seinen Vermischten Bemerkungen. „Damit ist seltsamerweise meine Ethik zusammengefasst. Nur das Übernatürliche kann das Übernatürliche ausdrücken.“

Seinen Tractatus hat er geschrieben, um dieses Übernatürliche negativ zu bestimmen: Es umfasst alles, was insofern eine Rolle spielt, als es im Tractatus nicht vorkommen kann. „Lass nur die Natur sprechen & über die Natur kenne nur ein höheres [sic!], aber nicht, was die anderen denken könnten.“

Die Absicht oder Strategie des Tractatus lässt sich besser nachvollziehen, wenn man sich ein existenzielles Feld vorstellt, das zwischen den Polen VERGEGENWÄRTIGUNG, SOLLEN und ANMUT angesiedelt ist; die Sprache aber beschränkt sich auf den Bereich der VERGEGENWÄRTIGUNG und kann daher weder Ethisches noch Ästhetisches betreffen.

Das gilt zumindest im Hinblick darauf, was Wittgenstein im Tractatus noch als „Sprache“ gelten lässt. Denn sein Tractatus kann gelesen werden als Parodie des wissenschaftlichen Weltbilds, dessen Zurückstufung seine Philosophie im Ganzen leisten soll. Der Tractatus kennt daher nur die logisch-wissenschaftliche „Sprache“ der Verdinglichung. Wittgenstein verleiht dem Begriff „Sprache“ später eine viel umfassendere Bedeutung, als es noch im Tractatus der Fall ist. Trotzdem ist es hilfreich, den im Tractatus postulierten Sprachbegriff nachzuvollziehen, da er anschaulich macht, was uns heute bestimmt und, wie Wittgenstein findet, zu entkernen droht.

Unter „Sprache“ wird (im Tractatus) ausschließlich die Abbildung der Wirklichkeit verstanden: Die Sprachbestandteile sind den Gegenständen, auf die sie sich beziehen, nicht willkürlich zugeordnet, sondern weisen Bildern gleich dieselbe innere Ordnung auf wie das, was sie vergegenwärtigen – kraft derer sie es abbilden.

Das Sprachverständnis des Tractatus ist immanent, indem es auf Strukturen fußt, die sich in der Materie wiederholen.

Konkret muss man sich das wie eine Fotografie oder eine Zeichnung vorstellen in Bezug zu dem Sachverhalt, welchen diese wiedergibt. Das Bild hat ebenso ein materielles Substrat wie die Tatsache, welche es gegebenenfalls bewahrheitet, indem es ihr gleich die Materie im Raum verteilt. Eine wahre Aussage ist ein Bild, dessen Anordnung sich in der Wirklichkeit wiederholt. Andernfalls ist sie falsch, jedoch nicht sinnlos, solange sie eine innere Ordnung aufweist, deren Wahrwerdung vorstellbar ist.

Denken besteht laut dem Tractatus im Anfertigen von Bildern der Wirklichkeit, die dann wahr oder falsch werden können. Ethische Aussagen sind in einer solchen Sprache sinnlos – weil sie von vornherein wahr sein müssten. Was jedoch nicht falsch werden kann, ist keine Vergegenwärtigung der Welt. Andere Aussagen gibt es – zumindest in der Welt des Tractatus – nicht.

Dasselbe gilt für ästhetische Aussagen – sie sind unmöglich, weil es die Anmut der Wirklichkeit ist, welche den Inhalt der Bilder von der Wirklichkeit, welche das Denken verfestigt, beglaubigt oder verwirft; sie kann nicht verdinglicht werden.

Damit erledigt sich auch das Problem des Solipsismus – einer der originellsten Befunde des Tractatus zu einem der zähesten Probleme der Philosophiegeschichte: Denn das „denkende, vorstellende, Subjekt gibt es nicht“ (Tractatus 5.631). Damit ist gemeint, dass unser Gemüt zwar voller Gedanken und Vorstellungen ist, diese Bilder aber nicht uns, sondern vielmehr der „Verdinglichung“ – als Spiegel der Wirklichkeit – angehören, und es daher nicht heißen muss „Ich denke, also bin ich“, sondern „Denken geht vor sich, also bin ich nicht“.

Jeder Mensch wird so seinen unverwechselbaren Satz an Bildern entwerfen und verwalten, die seine und nur seine Welt ausmachen, aber doch über den Sinn, welcher sie formt, mit der Wirklichkeit verbunden bleiben.

Die Verdinglichungssprache, welche der Tractatus thematisiert, ist jene der Wissenschaft, und es ist das Hauptanliegen des Textes, den Leser in die Lage zu versetzen, nachzuvollziehen, wie wenig kraft dieser Sprache gesagt werden kann, indem sie nur Tatsachen betrifft, nicht aber deren Anmut, oder was über sie hinaus zu tun oder zu lassen wäre.

Der Tractatus ist einer der fabelhaftesten philosophischen Texte überhaupt, ebenso rigoros wie witzig, vergleichbar einem aufgefächerten Koan. „Meine Sätze erläutern dadurch“, heißt es unter 6.54, „dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.“

Dieses Statement beinhaltet den Wink, dass der Tractatus idealerweise als Nachahmung herkömmlichen „Vergegenständlichungs“-Philosophierens gelesen werden sollte, dessen Wesen und Beschränktheit er mustergültig vor Augen führt. Zu wirklich bedeutenden Aspekten – meist ethischer oder ästhetischer Natur – kann auf diese planende, berechnende Weise nichts gesagt werden.

„6.4312 Die zeitliche Unsterblichkeit der Seele des Menschen, das heißt also ihr ewiges Fortleben nach dem Tode, ist nicht nur auf keine Weise verbürgt, sondern vor allem leistet diese Annahme gar nicht das, was man immer mit ihr erreichen wollte. Wird denn dadurch das Rätsel gelöst, dass ich ewig fortlebe? Ist denn dieses ewige Leben dann nicht ebenso rätselhaft wie das gegenwärtige? Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit. (Nicht Probleme der Naturwissenschaft sind ja zu lösen.)“

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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