Aufgewühlt

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Aus der Reihe: Unverglüht #2
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Kapitel Zwei

»Ich habe etwas für dich.« Bruno durchquerte langsam den Raum. Seine Sohlen klopften auf dem Parkett und die Beine seiner schwarzen Anzughose rieben beim Gehen leise aneinander. Er griff einen der um den Holztisch platzierten Stühle an der Lehne und zog ihn nach hinten. »Was glaubst du, was es sein könnte?« Bruno lächelte und sah zu mir, während ich vor dem großen Panoramafenster auf dem Boden kniete. Nackt. Meine Handgelenke wurden hinter dem Rücken festgehalten von zwei breiten, miteinander verbundenen Lederfesseln. Die Schenkel hielt ich gespreizt. Ungeschützt. Offen. So verlangte es Bruno.

Sarah reibt sich unbewusst die Oberarme. Ihre Handflächen streichen über Gänsehaut. Sie hat das Gefühl, in einen Strudel zu geraten, von einem kräftigen Sog in einen Tunnel gezerrt zu werden. Vorbei an Wänden, die mit Lederriemen und Gürteln behangen sind. Und schließlich ist es, als säße sie wieder in der düsteren Manufaktur. Hohe Regale mit Lederballen um sich. Während Herr Conrad Pfeife rauchend Geschichten webt, in denen sie sich verfangen wird. Die Faszination ist zurück. Beinahe kann sie diese aufregende Mischung aus dem öligen Duft des Leders und der leichten Vanillenote des Tabaks riechen. Sarah hängt an den Lippen von Julia.

Er wendete den Stuhl mit der Sitzfläche zu mir und ließ sich langsam auf dem hohen Polster nieder. Der Rahmen des Stuhles knarrte leise unter seinem Gewicht. Mit einem Lächeln platzierte Bruno eine Schachtel aus grauer Pappe auf der Oberfläche des Holztisches. »Was meinst du, was es sein könnte«, wiederholte er seine Frage und blickte mich eindringlich an, während ich auf dem Boden vor dem Panoramafenster kniete und zu ihm herauf sah. »Du darfst wieder sprechen, ich erlaube es dir.«

Mein Hals fühlte sich trocken an. Ich räusperte mich, aber mein »Danke« klang trotzdem rau. Ich hatte seit Stunden nicht gesprochen. Mit einem kurzen Blick auf den Karton versuchte ich, dessen Inhalt abzuschätzen. Nicht mehr als ein dickes Buch hätte in ihn gepasst. Ich nahm an, dass es etwas Kleines sein musste, mit dem Bruno sich oder gar mir eine Freude bereiten wollte. Hatten wir in den letzten Tagen oder Wochen Dinge besprochen, die er plante? Hatte er etwas geäußert, hatte ich etwas überhört, das mir jetzt zum Verhängnis werden konnte?

Bruno strich mit seinem Zeigefinger langsam über die Seite seines Halses. Entlang des weißen Hemdkragens. Als würde er nachdenken. Dabei wollte er nur, dass ich es tat.

Ich kannte diese Geste, die ein Halsband symbolisierte. Bald, hatte er versprochen, würde er mir ein besonderes anlegen. Eines, das es nur für mich geben und für immer meines sein sollte. Mit dem er mich in Besitz nehmen wollte. Nicht nur optisch, sondern auch fühlbar. Ich sollte es an mir spüren, als habe er seine Hand in meinem Nacken. Ich wusste, wie viel ihm das bedeutet, und auch deswegen war ich bereit, eines zu tragen. Für ihn. Mehr noch, ich wünschte mir nichts sehnlicher, als ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Es hinzunehmen, ein Halsband angelegt zu bekommen. Abschätzend sah ich noch einmal auf den Karton. Lag in ihm tatsächlich …?

»Es ist wirklich für mich?«

»Natürlich«, antwortete Bruno verärgert. »Selbstverständlich. Ich sagte, ich habe es dir mitgebracht.« Er legte seine Hand wieder auf den Karton und schob ihn ein wenig hin und her. »Ich mag es nicht, wenn du Fragen mit Gegenfragen beantwortest.« Dann sah er mich eindringlich an. »Das gilt insbesondere dann, wenn du dich nach Dingen erkundigst, die ich dir bereits erklärt habe.«

Beschämt senkte ich den Kopf. Atmete aus. Ärgerte mich. Bruno hatte recht.

»Bekomme ich noch eine Antwort? Fällt dir nicht ein, was es sein könnte?« Er klang ungeduldig. Trommelte mit den Fingern auf die Holzplatte des Tisches und es klang wie der Galopp eines Pferdes. »Du weißt es doch schon, Lia.« Mit einem scharfen Blick musterte er mich. Seine Finger hielten wieder still. »Du wirst es künftig für mich tragen, wenn ich es verlange.«

Mein Körper reagierte schneller als meine Gedanken. Allein die unmissverständliche Ankündigung und der Umstand, dass er ungefragt über mich verfügte, erzeugten einen aufregenden Unterdruck in der Magengegend. Und tiefer.

Ein Halsband! So oft hatte ich mir vorgestellt, wie es an mir aussehen würde. Hatte Bilder betrachtet und überlegt, was mich am besten kleiden würde. Grün oder braun sollte es sein, entschied ich, weil es zur Farbe meiner Augen passte. Gepolstert, sehr schmal und elegant, mit einer filigranen Schließe und vielleicht kleinen Ziersteinen an der Seite. Bruno hatte Geschmack und ich war mir sicher, dass er ein ganz besonderes Halsband gewählt hatte. So besonders, wie ich für ihn war.

»Eine Münze für deine Gedanken«, brummte Bruno, doch es klang nicht so, als wolle er sie wirklich wissen. »Komm jetzt her.« Er griff den Karton und zog ihn über den Tisch zu sich.

Ich schob mich Stück für Stück auf den Knien über den Parkettboden und versuchte, mein Gewicht mit den auf dem Rücken gefesselten Händen auszutarieren. Plump sah es sicherlich aus, aber das störte mich nicht. Bruno wollte mich so sehen. Nichts anderes zählte. Kurz vor seinen Füßen stoppte ich. So, dass er meinen Kopf auf seinen Schoß hätte ziehen können, ohne seine Position ändern zu müssen. Das hatte er mir beigebracht. Er mochte es nicht, mich zu korrigieren. Ich hatte mich stets zu bemühen, ihm keine Umstände zu bereiten. Tat ich es nicht, hatte ich mit den Konsequenzen zu leben. Im erträglichsten Fall wies er mich sofort auf den Fehler hin. Schwieriger wurde es dann, wenn er es nicht tat.

»Es ist ein besonders schönes Halsband, Lia.« Bruno hob den Deckel des Kartons an und griff hinein. »Schau mich an.«

Ich fixierte ihn mit den Augen und mühte mich um einen klaren Blick. Nichts anderes als etwas Besonderes hatte ich erwartet. Meine Beziehung zu Bruno entsprach dieser Eigenschaft in nahezu jeder Hinsicht. Sie ließ sich nicht vergleichen mit Freundschaft oder Liebe. Beide Worte fassten nicht die Ernsthaftigkeit und Tiefe, mit der wir uns aufeinander eingelassen hatten. Befreundet oder verliebt wäre all das, was wir taten, nur ein Spiel gewesen.

»Lia?«

In den Augenwinkeln sah ich, dass Bruno einen länglichen Gegenstand aus dem Karton hob. Leder. Grünbraun. Ich wiederkäute meine Wünsche. Verziert, sehr schmal und angenehm gepolstert. Ein Halsband wie ein Schmuckstück. So attraktiv, dass ich es für ihn auch tragen würde, wenn wir gemeinsam ausgingen.

»Sieh es dir an.« Bruno hielt beide Hände auf seinem Schoß und öffnete die Handflächen.

Als ich meinen Blick senkte, stockte mir der Atem. Weiteten sich meine Augen. Was sich auf den Händen von Bruno befand, war weder grünbraun noch verziert. Sondern ein kantiger, schlichter Lederstreifen. Nicht schmal, wie ich es mir vorgestellt hatte, stattdessen breit wie eine Streichholzschachtel. Mit einer Schließe, deren Gewicht sich allein durch ihre Größe erahnen ließ. Das war kein Schmuckstück. Das war ein grober Riemen, konstatierte ich schockiert.

»Sieh nur, es ist etwas Einmaliges«, erklärte Bruno und drehte das Halsband langsam in den Händen. Zum Vorschein kam ein kleiner, silberner Ring, der mittig angebracht war. Und ein tief in das Leder geprägter Buchstabe. Ein L.

Ich schluckte. Das sollte ich um den Hals tragen? Einen schmucklosen Riemen mit einer riesigen Schließe im Nacken? Braunes, ungepolstertes und grobes Leder? Mit einem Buchstaben, der mich wie billiges Eigentum aussehen ließ? Fassungslos hob ich den Blick.

Bruno kniff die Augen zusammen. Ihm war meine Reaktion nicht entgangen. Er musste beobachtet haben, wie sich meine Körperhaltung von Stolz zu Enttäuschung wandelte, als meine Schulterblätter sanken und sich mein Oberkörper leicht nach vorn beugte. »In deinen Pupillen ist das Glänzen matt geworden. Was ist mit dir?«

Ich senkte den Kopf, denn ich wusste nicht, wohin ich schauen sollte. Bruno wollte ich nicht in die Augen sehen. Wenn er es ernst meinte mit diesem groben Riemen, erwartete er Dankbarkeit und ich würde ihn enttäuschen. Aber das Halsband in seinen Händen wollte ich ebenso nicht sehen. Meine Blicke flüchteten hastig, aber fanden kein Ziel. »Es ist nichts«, log ich. Schneller, als ich darüber nachdenken konnte, welche Konsequenzen diese Lüge nach sich ziehen würde.

»Erkläre es mir!« Bruno sah weiter auf mich. »Erkläre mir dieses Nichts!« Seine Stimme hatte sich verändert. Fordernd klang sie, streng und keinen Kompromiss duldend. Er setzte einen Fuß nach außen und beugte sich vor. »Jetzt sofort!«

Ich wusste, dass ich nicht umhin kommen würde, ihm die Wahrheit zu sagen. Er roch es, wenn ich log. Ganz gleich, welche Ausflüchte ich nutzen würde, er würde sie alle wittern und einfangen. Ich zwang mich, das Halsband zu betrachten und suchte eine Formulierung, mit der ich meine Entrüstung in vorsichtige Worte kleiden konnte. Aber nichts Bedachtes konnte ausdrücken, wie wenig der Lederriemen meinen Vorstellungen entsprach. Dass mir die Farbe nicht gefällt, hätte ich nicht begründen können. Dass kein Polster die Innenseite auskleidet, hätte Bruno höchstens amüsiert. Kritik an der Breite des Halsbandes würde dazu führen, dass er es erst recht mögen würde. Ich kannte ihn gut genug. Wenn ich meinte, dass etwas unmöglich sei, spornte es ihn an, mir das Gegenteil zu beweisen. Und es gelang ihm immer.

Bruno schnellte unvermittelt nach vorn und griff mir knapp über dem Nacken in die Haare. »Das reicht!« Mit einer einzigen kräftigen Bewegung drängte er meinen Kopf auf den Boden, zwängte mich zur Seite und presste meine Wange fest auf das Parkett.

 

Ich schrie überrascht auf. Winkelte meine an den Handgelenken gefesselten Arme auf dem Rücken an, um die Position erträglicher zu halten. Das Halsband fiel und schlug mit der Schließe voran nur eine Handbreit vor meinem Gesicht auf. Ich schloss die Augen.

»Sieh hin«, wies Bruno mich an. Seine Hand umspannte fest meinen Nacken und übte unnachgiebig Druck aus. »Das ist dein Halsband, Lia. Deins!«

Als ich meine Lider hob, kam ich nicht umhin, auf den Lederriemen zu sehen. Ich glaubte, ihn riechen zu können, so nah lag er vor mir.

»Was stört dich daran?« Bruno klang verärgert. Er beugte sich immer weiter über mich, als wolle er mich noch fester packen.

Alles, dachte ich. Die auffällige Breite. Die riesige Schließe. Das fehlende Innenpolster. Die Farbe. Schmucklosigkeit. Die Makel wiederholten sich in meinen Gedanken, aber keinen von ihnen wagte ich vorzutragen.

»Gefällt es dir nicht?«

Ich war dankbar über die angebotene Brücke. So fiel es leichter. Ich versuchte zu nicken, auch wenn Bruno meinen Hals mit seiner Hand fixierte. Meine Wange rieb auf dem Parkettboden. Er bemerkte es.

»Aha«, knurrte er daraufhin, ließ mich aber nicht los. »Wie hätte es denn aussehen sollen, damit es meiner hübschen Lia gefällt?« Es klang spöttisch.

Ich biss mir auf die Lippen. Diese Frage hatte ich vermeiden wollen. Es behagte mir nicht, all das aufzuzählen, was ich mir vorgestellt hatte. Vor allem nicht in meiner Position. Also schüttelte ich den Kopf, so gut es ging.

»Gut«, meinte Bruno und zog das Wort lang in einem Tonfall, den ich kannte. Nichts war gut. Stattdessen war es die Feststellung, dass er mir das nicht durchgehen lassen würde. Dass er seinen Willen auch auf andere Weise erreichen konnte.

Ich spürte, dass Bruno seinen Griff in meinem Nacken lockerte. Doch bevor ich aufatmen konnte, setzte er seinen Fuß unsanft zwischen meine Schulterblätter. Die Schuhsohle fühlte sich kühl und kantig an auf der Haut. Vor meinen Augen tauchte seine Hand auf, griff nach dem Lederriemen und zog ihn unter meinem Hals hindurch. Meine Haare wurden nach oben geschoben und ich wusste, was geschah, als ich die Schließe hinter meinem Kopf metallisch klimpern hörte. Bruno legte mir das Halsband an. Den schlichten, groben Riemen. Zum ersten Mal.

Ich hatte mir diesen Moment anders vorgestellt. Feierlich. Aufwühlend. Stolz, aber ergeben hätte ich vor ihm knien wollen. Den Kopf gesenkt und mit einem Gefühl, als verspreche er mir für immer den Schutz unter seiner Hand. Während er mir ein Schmuckstück anlegt.

Unsanft zog sich das Leder um meine Haut. Bruno zog unerbittlich, bis es den Hals eng umschloss. Als er den Dorn einhakte, musste ich überrascht röcheln. Die Ledermanschetten an meinen Handgelenken hinderten mich daran, mir aus einem Reflex heraus an den Hals zu greifen.

»Erhebe dich, meine hübsche Lia«, knurrte Bruno und nahm seinen Fuß von meinem Rücken. Gleichzeitig zwängte er aber zwei Finger unter das Halsband, sodass ich Atemnot bekam. Ich bemühte mich daher, dem Zug seiner Hand schnell zu folgen. Kam mühselig auf die Knie, zog ein Bein nach vorn und stemmte mich in die Höhe. Die Fesselung meiner Arme raubte mir das Gleichgewicht und ich fiel gegen Bruno.

Der fing den Schwung ab und drängte meinen Körper gegen den Rand des Tisches. Mit einer ausholenden Armbewegung fegte er den Pappkarton über die glänzende Tischplatte, bis dieser auf der anderen Seite polternd zu Boden stürzte. Dann griff er meine Hände und zog sie nur ein kleines Stück nach oben.

Ich ahnte, was Bruno beabsichtigte. Und ich wusste, dass ich mich nicht dagegen wehren konnte. Je höher er meine Hände hob, um so mehr musste ich meinen Oberkörper nach vorn beugen. Es gab keinen Spielraum. Der Schmerz in meinen Schultergelenken signalisierte das anatomische Limit. Ich suchte daher zügig einen sicheren Stand und senkte meinen Oberkörper freiwillig bis auf die Tischplatte. Meine nackten Brüste berührten das kühle, polierte Holz zuerst. Stirn und Nasenspitze folgten. Als ich mich zurechtgerückt hatte, spürte ich, dass Bruno meine Hände freigab.

Er ging langsam um den Tisch herum und strich mir dabei mit einem Finger sanft über den Rücken. Zwischen den Armen entlang über die Schulterblätter bis hinauf in meinen Nacken. Als er schließlich vor mir stand, griff er erneut unter das Halsband.

Ich winkelte den Kopf an. Das Leder um meinen Hals war eng geschlossen. Während Bruno daran zog, drückte es gegen meinen Kehlkopf. Mit den Füßen stemmte ich meinen Oberkörper noch ein kleines Stück weiter auf den Tisch. Mehr Luft verschaffte es mir nicht.

Bruno blieb unbeeindruckt. »Nun gut«, meinte er und nahm sich Zeit, als wolle er einen längeren Vortrag halten. »Lass uns über dein Halsband reden, Lia. Ich finde ganz sicher heraus, was dir nicht gefällt an ihm. Und auch, ob deine Enttäuschung gerechtfertigt ist.«


Kapitel Drei

»Ich brauche erst einmal einen Kaffee.« Julia erhebt sich und zieht ihren Morgenmantel kräftig zusammen. Ihre Hände umklammern das Revers, als müsse sie sich daran festhalten. Dann wendet sie sich ab.

Sarah fühlt sich aus ihren Gedanken gerissen. Eben lag Lia noch vor ihr auf dem Tisch. Mit auf dem Rücken gefesselten Händen. Dort, wo Sarah jetzt sitzt, muss ihr Hintern gewesen sein. Sie schaut Julia hinterher und ihr Blick gleitet unwillkürlich ihren Rücken entlang nach unten. Schlank ist sie noch immer. Der über den Hüften eng um die Taille gezogene Morgenmantel lässt sie wie eine sich schlängelnde Sanduhr aussehen, wenn sie läuft. Sarah muss daran denken, wie Lia mit dem Oberkörper gegen ein Fenster lehnte, während ihr ein Korsett im Rücken geschnürt wurde. Herr Conrad hat das erzählt. Seine Geschichten wirken plötzlich viel greifbarer. Lebendiger. Wie nachkolorierte Bilder.

»Tut mir leid«, ergänzt Julia mit rauer Stimme und verschwindet im Flur, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Sarah lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. Atmet tief ein und aus. Sie hat damit gerechnet, dass dieses Halsband eine Tür aufstoßen könnte zu alten Erinnerungen. Sie hat sogar darauf gehofft. Aber sie hat nicht geglaubt, dass es hinter der Tür noch derart lebendig zugehen würde. Das hatte sie ausgeschlossen, als sie nach dem Tod von Herrn Conrad die alten Fotos und das Halsband von der Wand genommen hatte. Wie welke Erinnerungen hingen sie dort und sahen so aus, als würden sie nach ihrem Verbleichen auch bald vergessen sein. Aber Julia hat nicht vergessen. Und Sarah beginnt, etwas Ungeheuerliches zu fürchten. Dass, während Herr Conrad bis an sein Lebensende in seiner kleinen Werkstatt gewartet hat, Lia nicht weit entfernt ebenso wartete. Er auf sie. Sie auf ihn. Ob aus Unkenntnis oder Stolz. Beides wäre schlimm. Besonders für Julia, wenn sie davon erfährt.

Sarah beißt sich auf die Unterlippe. Sie fühlt sich unwohl. Es ist, als halte sie zwei Fäden in der Hand. Auf der einen Seite die Geschichte von Herrn Conrad, auf der anderen jene von Lia. Sie fühlt sich als Bindeglied zwischen beiden. Und sie ist nicht sicher, ob sie die Enden wirklich verknoten soll.

In der Küche klappert Geschirr, dann pocht eine Schranktür gegen ihren Rahmen und schließlich klirrt es. Sarah zieht den Kopf ein.

»Mist«, hört sie Julia fluchen. »Verdammter Mist!«

Sarah erhebt sich und folgt dem Geräusch. Sie überlegt, ob es richtig war, unangekündigt hierher zu kommen. In Julias Reich einzudringen. Ihr ohne Vorbereitung nicht nur räumlich, sondern auch seelisch derart nahezukommen. Sie hat Julia überrumpelt. Vielleicht sollte sie besser gehen, bevor noch mehr zu Bruch geht.

Als sie vor der Tür zur Küche steht und ihren Kopf vorsichtig um die Ecke schiebt, sieht sie Julia zwischen den Scherben einer Porzellantasse knien. Der Saum des weißen Morgenmantels faltet sich auf dem Boden und Julia drückt ihren Daumen in die ausgestreckte Innenfläche der anderen Hand. Hilflos sieht sie aus, denkt Sarah. Überfordert. Aus dem Konzept gebracht.

»Ist etwas passiert?«, fragt sie vorsichtig, obwohl es doch offensichtlich ist. »Kann ich dir helfen?«

Julia betrachtet ihre Hand. »Nein, ich habe nur …«

Sarah müht sich, nicht auf die weißen Scherben zu treten und steht nach drei Schritten neben ihr. Sieht unschlüssig auf sie herab. Als Julia den Kopf ein wenig senkt, um die Hand zu betrachten, durchfährt sie ein Schauer. Denn sie blickt direkt auf den Nacken. Dort, wo die große Schließe des Halsbandes immer gelegen haben muss. Damals.

»Ich habe mich geschnitten«, stellt Julia sachlich und nüchtern fest, dreht ihren Kopf und schaut nach oben. Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrt sie. Erinnert an tausend Momente, in denen sie zu einem anderen Menschen aufsah. Obwohl das schon eine so lange Zeit her ist.

Sarah bemerkt es. Ihr ist sofort bewusst, dass sie beide an denselben Menschen denken. An das gleiche Machtverhältnis. An dieses besondere Gefühl, unterworfen zu sein. Sie hält dem Blick von Julia stand, der erneut fragt, was zwischen ihr und Herrn Conrad geschehen ist.

»Ich bin kurz im Bad«, sagt Julia schließlich mit gepresster Stimme und es fühlt sich an wie eine Flucht. Während sie sich mühsam erhebt, bewegt sie sich nach vorn, um sich nicht unmittelbar neben Sarah aufzurichten. »Das hier räume ich gleich weg.«

Sarah nickt. Es ist ihr unangenehm. »Soll ich besser gehen?«, fragt sie unsicher. »Wir könnten uns für einen anderen Tag verabreden, oder …« Oder gar nicht, denkt sie. Auch das wäre möglich.

»Nein«, antwortet Julia. »Du gehst nicht.« Sie lächelt nur leicht, aber es wirkt ehrlich. Vorsichtig schreitet sie über die Porzellansplitter hinweg und verlässt ihre Hand haltend den Raum. »Ich habe noch Fragen an dich«, ruft sie von irgendwoher und Sarah nimmt an, dass es das Badezimmer ist.

Sie blickt sich um und entdeckt in der Ecke hinter der Tür einen kleinen, runden Mülleimer. Kehrschaufel und Besen sind gegen ihn gelehnt.

»Fragen?«, ruft sie zurück, während sie zugreift. »Welche?« Sarah überlegt, welche Antworten sie an Julias Stelle suchen würde. Vielleicht, wie sie Herrn Conrad kennengelernt hat. In welchem Verhältnis sie zueinander standen. Und schließlich die unausweichliche Kardinalfrage. Aus welchem Grund sie das Halsband besessen hat. Spätestens diese Antwort würde die beiden Fäden ganz nah aneinander bringen.

»Woher kennst du Bruno?« Im Badezimmer ist kurz ein kräftiger Wasserstrahl zu hören, der hart im Waschbecken aufprallt.

Sarah nickt. Sie hat mit der Frage gerechnet. Mit Kehrschaufel und Besen geht sie in die Hocke und schiebt die ersten Scherben zusammen.

»Ich wollte einen Gürtel kaufen«, ruft sie zurück. »Letztes Jahr zu Weihnachten. Deswegen fand ich in seine Lederwerkstatt.« Eigentlich war es umgekehrt, korrigiert sie sich. Sie entdeckte zuerst dieses rostige Schild unter einer Toreinfahrt: »Lederwarenmanufaktur, Inhaber C.B. Conrad«. Und anschließend wurde der Gürtel zum Vorwand, den Laden aufzusuchen. Wie gut es dort roch.

»Aha«, sagt Julia im Bad. Es klingt, als würde ihr die Antwort nicht genügen.

»Meine Schuhe waren nass«, ergänzt Sarah. »Darum bot er mir an, einen Moment zu bleiben.« Aus dem Moment war einer der aufwühlendsten Tage ihres bisherigen Lebens geworden.

»Verstehe«, antwortet Julia. »Manchmal lernt man sich an außergewöhnlichen Orten kennen. Das ging mir früher auch so.« Eine Schranktür klappt im Badezimmer, dann rauscht wieder kurz das Wasser.

Sarah ahnt, an was Julia denkt. An den Strand, an dem sie saß, als Bruno sie gefunden hat. An das Teelicht zwischen ihnen. An die kleinen Steine. Damals, als Bruno noch nicht die Werkstatt besaß und quer durch das Land zu seiner Kundschaft gefahren ist. Er konnte die besten Korsetts auf Maß fertigen, hat man ihr gesagt.

»Was machst du beruflich?« Julias Gedanken scheinen den gleichen Weg genommen zu haben.

Mit dem Besen widmet sich Sarah auch den kleinen Scherben, die sich in die Fugen der weißen Fliesen verirrt haben. Sorgfältig schiebt sie die letzten kleinen Splitter auf die Schaufel und erhebt sich.

»Ich bin Tänzerin.« Sie sieht sich noch einmal um, ob sie einen Splitter übersehen hat, findet aber nichts. »Ballett. Ich habe eine Stelle an der Oper.« Sie erinnert sich, dass sie für Herrn Conrad auf Zehenspitzen gelaufen ist. Er hat es so verlangt. Als hätte er es geahnt.

 

»Beeindruckend«, ruft Julia aus dem Badezimmer. »Das ist der Traum aller Mädchen, oder?«

Sarah will nicht erklären, dass viel mehr dahinter steckt, als kleine Mädchen sich das je vorstellen. Es würde wie eine Rechtfertigung klingen, die nicht notwendig ist.

»Als Kind träumt man von vielem«, sagt sie beiläufig und balanciert die Kehrschaufel vorsichtig über den Mülleimer. Gerade hebt sie den Deckel, als sie Julia antworten hört.

»Auch davon, sich einem Mann zu unterwerfen?«

Die Scherben rutschen wie eine Porzellanlawine tosend in den Mülleimer. Sarah ist so erschrocken, dass ihr der Deckel aus der Hand gleitet und mit einem lauten Knall schließt. Sie stellt die Kehrschaufel ab und reibt sich eher aus Verlegenheit die Hände. Dann lehnt sie sich gegen die Wand und überlegt. Es gab keinen konkreten Zeitpunkt, an dem sie festgestellt hat, diese Leidenschaft in sich zu tragen. Sie erinnert sich, als Kind stets jene Märchen gemocht zu haben, in denen Prinzessinnen entführt und gefangen gehalten wurden, in denen arme Stieftöchter dienen mussten und mitunter auch grob behandelt wurden. Deren Geduld, Leid und Tapferkeit bewunderte sie. In ihren Gedanken wurden daraus oftmals Gehorsam, Unterordnung und Hingabe. Vor allem aber Größe. Die Geschichten verloren daher an Faszination ab dem Kapitel, in dem die Prinzessinnen und Stieftöchter befreit wurden. Umgekehrtes Happy End. Als sie älter wurde, wuchs ihre unbeschwerte Faszination zu einem deutlichen Kribbeln im Unterleib. Aus Märchenbüchern wurden erotische Romane. Sie las nicht mehr auf dem Boden sitzend, sondern kniete. Und wünschte sich einen Mann, dem sie sich unterwerfen konnte, der von ihr Gehorsam, Unterordnung und Hingabe forderte. Für den sie Stieftochter und Prinzessin zugleich sein würde. Gefunden hat sie ihn nie. Dass es ihn überhaupt geben könnte, glaubt sie erst seit den Erzählungen von Herrn Conrad über Bruno und Lia.

»Ist alles in Ordnung?« Julia schaut vorsichtig durch den Türrahmen in die Küche. Der weiße Morgenmantel ist verschwunden. Über einer schwarzen Hose aus Stoff trägt sie eine dunkelgrüne Bluse. Ihre Füße stecken in flachen Pantoletten.

»Ja, es ist alles in Ordnung«, versichert Sarah schnell und befreit sich von ihren Gedanken. »Ich weiß nicht, wann ich das alles bemerkt habe. Es fühlt sich an, als sei es immer da gewesen.«

Mit beiden Händen schiebt sich Julia die schwarzen Locken nach hinten. »Angeboren«, sagt sie und nickt, während sie sich die Haare hinter dem Kopf aufschüttelt. »Betrachte das als Geschenk. Manche entwickeln ihre Neigung vielleicht aus bestimmten Ereignissen im Leben. Mag sein. Manchen liegt es aber auch in den Genen.« Sie zwinkert. »Das sind die Echten.«

Sarah verschränkt die Arme vor ihrem Körper. »Wie war es bei dir?« Quid pro quo. Auch sie hat Fragen.

Julia läuft vorsichtig zur gegenüberliegenden Küchenzeile und schaut dabei auf den Boden. »Danke, dass du die Scherben weggeräumt hast.« Dann öffnet sie den Schrank und zieht eine runde Metalldose nach vorn. »Möchtest du auch einen Kaffee?«

Sarah nickt. Ein Tee wäre ihr lieber gewesen. Rooibos. Den hat sie bei Herrn Conrad immer getrunken. Aber sie will keine Umstände machen.

Julia füllt einen Wasserkocher, schaltet ihn ein und schiebt auf der Anrichte zwei Tassen nebeneinander. Sie blickt kurz über die Schulter zu Sarah. »Ich erinnere mich, als Kind breite Gürtel gemocht zu haben.« Sie spreizt Daumen und Zeigefinger ihrer Hände auseinander und fährt sich nach beiden Seiten über die Taille. An ihrem linken Mittelfinger klebt ein frisches Pflaster. »So, weißt du? Ich habe mich damit eingeschnürt, bis ich kaum noch atmen konnte.« Julia lächelt verschämt, als erzähle sie eine peinliche Begebenheit. »Das ist über vierzig Jahre her«, ergänzt sie entschuldigend.

Sarah lächelt zurück. Denn schon wieder sieht sie Lias geschnürten Rücken vor dem Panoramafenster des Hotels. Und Bruno, der ihr den Atem raubt. Sie wird es irgendwann erzählen müssen, dass ihr diese Begebenheit bekannt ist.

Mit einem kleinen Löffel schaufelt Julia Kaffeepulver in die Glaskanne. Sorgfältig, um nichts zu verschütten. »Da war ich höchstens vierzehn Jahre alt. Und habe mir vorgestellt, all das für jemanden zu tun. Oder es tun zu müssen.« Sie räuspert sich. »Sowohl das Einschnüren als auch der Gedanke, währenddessen jemandem zu Willen zu sein, haben mich erregt. Bevor ich überhaupt ahnen konnte, was Erregung tatsächlich bedeutet. Als ich später Bilder von Frauen in Korsetts sah, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als eine von ihnen zu sein.« Das Wasser im Kocher beginnt zu rauschen und Julia legt abwartend ihre Hand an den Griff. »Ich habe nie geglaubt, dass ich das tatsächlich einmal erleben werde. Bis Bruno kam.«

Bis er dir ein Korsett anlegte, denkt Sarah. Und auch einen Riemen um den Hals, der nun erlebnisgetränkt im Wohnzimmer auf dem Tisch liegt. Auch wenn du ihn erst gar nicht mochtest. Sie holt tief Luft. »Wie hat er dich von dem Halsband überzeugt?«

Julia gießt das heiße Wasser in die Kanne und setzt bedächtig einen Deckel auf, an dem ein Filter befestigt ist. Dann dreht sie sich um. »Möchtest du das wirklich wissen? Es ist nicht ganz harmlos …« Sie wiegt den Kopf hin und her. »Ich bin nicht sicher, ob ich dir das erzählen soll.«

»Es würde mir helfen«, antwortet Sarah schnell. »Ich würde gern erfahren, was es mit dem Halsband auf sich hat.« So lang hat sie es bei sich aufbewahrt, so oft hat sie es in der Hand gehalten. Sie möchte seine ganze Geschichte erfahren. »Wenn es dir nicht zu intim ist.« Dann senkt sie den Blick. »Ich möchte selbst eines tragen. Irgendwann.« Suche, hatte Herr Conrad geschrieben. Suche nach dem, der zu dir passt.

»Reden wir offen«, sagt Julia entschlossen, dreht sich um und lehnt sich gegen den Schrank. »Ich habe mich Bruno unterworfen und er hat mich angenommen. Das ist dir nun bekannt. Du solltest aber noch wissen, dass es eine sehr tiefe Beziehung war, die wir über Jahre miteinander führten. Er hat mich nicht einfach nur erreicht. Er griff mich viel tiefer …« Ihre Stimme klingt belegt. »Direkt an meiner nackten Seele, verstehst du?« Sie nickt, als wolle sie es sich selbst bestätigen. »Bruno behauptete stets, so etwas geschehe ebenso endgültig wie einmalig.« Mit einem eindringlichen und festen Blick sieht sie zu Sarah. »Wie ist das bei dir? Du bist zwar viel jünger als ich, aber …« Ihre Augen werden schmal, sie konzentriert sich. »Wolltest du bei ihm zu meiner Nachfolgerin werden?« Es ist ihr anzusehen, dass die Frage Kraft kostet und schmerzt.

Sarah nimmt erschrocken die Handflächen nach vorn. »Nein«, wehrt sie entschlossen ab, »wir haben uns wirklich nur unterhalten!« Vielleicht ist das ein wenig untertrieben, gesteht sie sich ein. Denn sie sieht sich vor Herrn Conrad knien, während er im Sessel saß. Aber gleichzeitig erinnert sie sich auch, wie deutlich er sie von sich gewiesen hat. Denn er hat auf die Rückkehr von Lia gewartet. Bis an sein Lebensende. Sarah fühlt sich unwohl bei dem Gedanken, dass Julia das nicht ahnt. Es wird schwer werden, es ihr mitzuteilen. Vielleicht sollte sie es besser für sich behalten. »Um ehrlich zu sein, bin ich bislang keinem Mann begegnet, dem ich mich unterwerfen würde.« Und nach einer kurzen Pause fügt sie an: »Auch deswegen höre ich dir gern zu, wenn du über das Halsband erzählst.«

Julia schweigt einen Moment. »Du bist noch jung. Du hast alles vor dir.« Dann greift sie die Kanne und löst sich vom Schrank. »Lass uns ins Wohnzimmer gehen. Und bring die Tassen mit.«