Angefühlt

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Angefühlt
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Dieses Buch ist die Fortsetzung von »Unverglüht« und »Aufgewühlt«. Das Lesen der vorherigen Teile ist keine Voraussetzung. Allerdings sind wenige Stellen der Handlung durch Kenntnisse aus vorangegangenen Teilen leichter verständlich.

JONA MONDLICHT

Angefühlt


EIN EROTISCHER ROMAN


www.Elysion-Books.com

ELYSION-BOOKS

1. Auflage: August 2017

VOLLSTÄNDIGE AUSGABE

ORIGINALAUSGABE

© 2017 BY ELYSION BOOKS GMBH, LEIPZIG

ALL RIGHTS RESERVED

UMSCHLAGGESTALTUNG: Ulrike Kleinert

www.dreamaddiction.de FOTO: © Bigstockphoto/pasiphae

LAYOUT &WERKSATZ: Hanspeter Ludwig

www.imaginary-world.de

ISBN (vollständiges Buch) 978-3-96000-0280

www.Elysion-Books.com


Inhalt

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Nachwort


Kapitel Eins

»Ich hätte früher zu dir kommen sollen.« Lia spricht leise, spröde und mühsam. Ihre Blicke streifen immer wieder über die glänzende Oberfläche eines Grabsteins, als würden sie dessen Gravur ertasten und die weißen, kleinen Buchstaben streicheln. »Viel früher.« Sie hält die rechte Handfläche zitternd über ihren Mund.

Ein welkes Blatt fällt, streift den Marmor und legt sich geräuschlos auf die nasse Erde. Seine Zeit ist vorüber. Es ist längst Herbst.

»Verzeih mir, Bruno. ..«, flüstert Lia durch ihre klammen Finger. Atem steigt vor ihrem Gesicht auf, aber der dünne, feine Nebelhauch verflüchtigt sich nur wenige Augenblicke entfernt.

»Ich war so dumm.« Langsam schüttelt sie den Kopf. Verzweifelt über sich selbst, die Endgültigkeit bleiern erkennend. Obwohl noch so viel zu sagen gewesen wäre. »Du hast auf mich gewartet.«

Eine Hand legt sich behutsam auf ihren Oberarm. Still, reglos, warm. Sie hält nicht, sie heilt nicht, aber sie ist da.

»Lia.« Ein Mann räuspert sich und tritt leise näher an sie heran. »Es ist alles gut, Lia. Bewahre dir die schönen Momente. Nicht …« Alexander schaut um sich und zieht die Stirn in Falten. »Nicht das hier. Bitte.«

»Er hat sein ganzes Leben auf mich gewartet. Bevor er mich kannte. Nachdem ich gegangen war«, wispert sie und lässt ihren Arm sinken. »Und jetzt ist er hier. So einsam.«

Einsam war er all die Jahre, denkt Alexander. Aber er sagt es nicht. Das würde sie noch mehr schmerzen. »Es tut mir leid«, presst er heraus und streicht langsam mit der Hand entlang ihres Oberarms. Auf und ab. »Wirklich. Es tut mir leid. Ich habe immer gehofft, ihr würdet wieder miteinander reden. Irgendwann.«

Lia wendet ihren Kopf. Mit geröteten Augen schaut sie zu Alexander und der Frau, die schweigend hinter ihm steht. »Bitte geht jetzt. Gebt mir ein paar Minuten mit Bruno. Wir hatten zu wenige …« Sie schluckt.

»Verstehe.« Er nickt nachdenklich, seine Hand sinkt herab. Dann tritt er zur Seite.

»Sarah«, sagt Lia zu der Frau, die nur einen Schritt entfernt steht und betroffen ihre Finger ineinander knetet. Sie atmet schwer ein und bemüht sich um eine feste Stimme. »Suche den Einen, der dir entspricht. Dem du vertraust wie keinem Anderen. Und der in deinen Tiefen navigiert, als seien es seine eigenen. Finde ihn. Aber begehe nicht den gleichen Fehler wie ich. Verliere niemals den Glauben daran, dass es nur einen einzigen Menschen im Leben gibt, der dich so lieben kann. Ich wünschte, ich hätte das früher verstanden.«

Sarah schluckt schwer. Sie erinnert sich an die Worte, die Bruno in seinem letzten Brief geschrieben hat. Langsam senkt sie ihre rechte Hand in die Manteltasche, als würde sie frieren. Zwischen den Fingern fühlt sie kaltes Papier.

Als sich Lia wieder dem Grab zuwendet, zieht Sarah den sorgfältig gefalteten Bogen vorsichtig hervor. Zitternd öffnet sie ihn und betrachtet die fein säuberlich gezeichnete Schrift.

»Ich habe Dich nicht angelogen, Sarah. Man trifft nur ein einziges Mal im Leben auf einen Menschen, der die gleiche Tiefe besitzt und dem man so sehr vertraut, dass man ihn dorthin vorlässt.«

Sie beißt sich auf die Unterlippe. Wie besonders sich Lia und Bruno ähnelten, denkt sie. Wie gleich ihre Erkenntnisse waren. Wussten sie das nicht?

Eine kräftige Hand senkt sich über die Schrift. Alexander drückt das Papier zur Seite und schüttelt langsam den Kopf. Widerstandslos schiebt Sarah den Brief zurück in ihre Manteltasche.

»Wenn du dir sicher bist, ihn gefunden zu haben«, sagt Lia plötzlich, während sie auf das Grab schaut und erneut eine feine Nebelwolke vor ihrem Gesicht aufsteigt, »so unterwerfe dich ihm. Übereigne dich, deine Seele und deinen Körper. Vollständig und für immer. Anders kannst du nie wirklich glücklich werden. Niemals.«

Alexander greift Sarah an der Schulter. Mit einer nickenden Geste deutet er in Richtung des schmalen Kiesweges, der sich schnurgerade zwischen Koniferen und dunklen Büschen entfernt. Er spannt sich durch das Gelände wie der Achsenfaden eines Spinnennetzes, ist in regelmäßigen Abständen verklebt mit querenden Wegen und scheint den farblosen Friedhof für alle Ewigkeiten zusammenzuhalten.

»Ruf an, wenn du mich brauchst«, sagt Alexander zu Lia. Seine Stimme klingt belegt. »Jederzeit.« Kurz verharrt er. Als er keine Antwort erhält, wendet er sich ab und zieht Sarah mit sich. Es ist Zeit, zu gehen.

Die kleinen Steine knirschen bei jedem Schritt unter den Sohlen. Während Alexander entschlossen voranschreitet, dreht sich Sarah kurz um. Einmal, zweimal. Stets sieht sie Lia unbeweglich vor Brunos Grab stehen. Immer weiter entfernt. Es fühlt sich an wie ein Abschied auf ewig, denkt sie. Wie das Zuschlagen eines Buches nach dem letzten Kapitel. Und irgendwie ist es das auch zwischen Lia und Bruno: Das letzte Kapitel. In diesem Moment schreibt es sich.

»Was für ein Zettel war das?« Alexanders Frage schneidet sich in ihre Gedanken. Scharf. Mehr kontrollierend als neugierig. Er sieht Sarah nicht an und folgt mit großen Schritten dem Kiesweg, sodass sie Mühe hat, neben ihm zu bleiben.

»Ein Brief«, erklärt sie zügig. »Ein paar Worte von Bruno.« Erst dann bemerkt sie, dass sie ihm keine Rechenschaft schuldig ist. Ihre Antwort war ein Automatismus wie der zwischen Kind und Vater, Schüler und Lehrer.

Alexanders Gesichtszüge bleiben regungslos. »Und an wen ist er gerichtet?«

Es ist die Art und Weise, wie er seine Fragen stellt, denkt Sarah. Präzise, klar und so, dass ihnen eine Anweisung zum unverzüglichen und ehrlichen Antworten innewohnt. Sie muss sich eingestehen, dass ihr das imponiert. »Er ist an mich gerichtet«, antwortet sie wahrheitsgemäß.

Alexander schiebt die Hände in die Taschen und geht weiter. Schweigend.

Sarah beobachtet ihn von der Seite. Sein kantiges Kinn, die ausgeprägten Wangenknochen und die gerade Nase lassen ihn wie eine Skulptur erscheinen. Streng sieht er aus, wenn er so nachdenklich ist. Das fiel ihr bereits vor einem Vierteljahr auf, als sie ihm in Lias Wohnung zum ersten Mal begegnete.

Sie dreht sich erneut um. Die Frau verharrt noch immer vor dem Grab. Aus der Entfernung erweckt sie den Eindruck, erfroren zu sein. In gewisser Weise, denkt Sarah traurig, trifft das wohl auch zu.

»Steht etwas in diesem Schreiben, von dem Lia erfahren sollte?«

Sarah bemerkt, dass Alexander bereits einen Schritt vor ihr ist. Hastig eilt sie wieder an seine Seite. »Nein«, sagt sie und unterdrückt ihren schnellen Atem. Brunos Brief ist ausschließlich an sie selbst gerichtet. Er schrieb ihn als Abschied. Als Ermunterung, ihre Neigung zuzulassen. Und als Mahnung, keine Zeit zu verschenken. »Bruno war der gleichen Meinung wie Lia.«

 

Alexander dreht sich ihr zu und schaut sie überrascht an. »Der gleichen Meinung? Zu welchem Thema?«

»Dass ich den einen Menschen suchen soll, der zu mir passt.« Sarah zuckt einmal mit den Schultern. Alexander weiß von ihrer Leidenschaft. Sie muss nichts verheimlichen vor ihm. »Dem ich mich unterwerfen kann.«

Er fixiert sie mit seinem Blick, dann schaut er wieder nach vorn. »Fürwahr, das solltest du tun«, meint er schließlich. Aus einer Manteltasche zieht er eine kleine Pappschachtel hervor. Kurz dreht er sie zwischen den Fingern und drückt er den Deckel nach oben. »Lakritzbonbons«, erklärt er Sarah. »Sie schmecken dir nicht.« Dann schiebt er sich eine der schwarzen Kugeln in den Mund.

Sarah ist beeindruckt. Sie hat Alexander in Lias Haus kennengelernt. Das war im Sommer. Obwohl sie sich erst heute ein zweites Mal treffen, hat er sich ihren Geschmack eingeprägt. Mehrere Monate lang. Tief unter ihrem Erstaunen und viel intensiver trifft sie der Umstand, dass er aus seiner Erinnerung heraus für sie entschieden hat. Zielsicher und wie selbstverständlich.

Alexander schiebt die Pappschachtel zurück in die Manteltasche. »Hast du eine ungefähre Vorstellung von dem, was auf dich zukommt?« Er schaut sie ernst von der Seite an. Forschend. Abschätzend. Seine Wangen wölben sich nach innen, während er an dem Bonbon lutscht.

Sarah ist unsicher, was sie antworten soll. Viel hat sie gehört in den Erzählungen von Bruno. Über Unterwerfung, Vertrauen und tiefe Gefühle. Sie hat aus Lias Geschichten gelernt, wie gefährlich verletzbar sie sein wird und wie einfach ausnutzbar. Erlebt hat sie selbst bislang nichts. Weder das eine noch das andere. Sie kann kaum einschätzen, wie wertvoll all das Erzählte sein wird, wenn sie eigene Erfahrungen zu sammeln versucht. Sie weiß nicht einmal, wie und wo sie damit überhaupt beginnen soll.

»Also nicht«, kommentiert Alexander die ausbleibende Antwort. Er sagt es, als vermerke er es in einem Notizbuch und streiche mit spitzem Bleistift und hochgezogener Stirn das Feld für individuelle Voraussetzungen. Wie ein Immobilienmakler, der kühl kalkulierend den Interessentenkreis bereinigt.

Sarah schweigt resigniert.

»Draußen am Tor ist ein kleines Café. Ich lade dich ein.« Alexander reckt den Kopf, als wolle er sich vergewissern, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hat. Dabei ist der Ausgang nicht weit entfernt. Nur noch wenige Koniferen säumen den Kiesweg, bevor er in einen breiten Platz mündet. Auf der gegenüberliegenden Seite steht ein großes, geschwungenes Eisentor offen. »Ich spendiere dir einen warmen Tee oder eine heiße Schokolade. Die Entscheidung überlasse ich dir.«

Immerhin, denkt Sarah. Wenn ihr schon keine Wahl bleibt, die unerwartete Einladung auszuschlagen. »Danke«, sagt sie also und fühlt sich dabei auf eine seltsame Weise artig und beruhigt.

Schweigend überqueren sie den Platz, der mit hellen Steinplatten belegt ist. Er wirkt wie ein Portal zwischen den Welten der Lebenden und Toten. Sarah dreht sich noch einmal um, aber sie kann Lia nicht mehr sehen. Zu weit sind sie entfernt.

»Schau nach vorne«, meint Alexander plötzlich und Sarah bemerkt erst, als sie vor sich kein Hindernis findet, dass es symbolisch gemeint ist.

Sie durchqueren das Tor, dessen schwarze Farbe gegen Rostflecken kämpft und an den Stellen ihrer Niederlage kraftlos abblättert. Der Ausgang grenzt an einen Zaun aus verbundenen Eisenstangen, die bis zu einem kleinen Haus reichen. Dort klammert sich Efeu herbstmüde an hell getünchte Außenmauern. Noch so ein Kontrast, denkt Sarah.

Alexander schreitet zielstrebig auf das Café zu. Die zwei Steinstufen zur Glastür nimmt er mit einem Schritt. Er öffnet schwungvoll die Tür und deutet Sarah mit einer leichten Kopfbewegung an, voranzugehen.

»Dort drüben!« Bestimmend weist er in eine Ecke des kleinen Raums, den sich fünf runde Tische mühevoll teilen. »Das sieht gemütlich aus.« Er greift ungefragt und mit beiden Händen Sarahs Mantel, hebt den Kragen leicht von ihren Schultern. »Den legen wir besser beiseite. Es ist recht warm hier.«

Sie nickt und schlüpft aus dem schweren Stoff. Als sie sich nach Alexander umdreht, um ihm aus Dankbarkeit für seine Fürsorge ein Lächeln zu schenken, kümmert er sich bereits um die Garderobe. Also durchquert sie den kleinen Raum und nimmt an dem Tisch Platz, den er ausgewählt hat. Der enge, gepolsterte Holzstuhl unter ihr knarrt leise.

Neugierig greift Sarah nach der gefalteten Karte, die auf der Tischdecke liegt. Sie betrachtet Bilder mit Eisbechern und überlegt, was Alexander sagen würde, wenn sie sich für einen der riesigen Becher entscheidet. Als plötzlich zwei Finger das Papier greifen und ihr kommentarlos entziehen, erschrickt sie. Aber sie protestiert nicht und lässt ihre Hände sinken.

»Einen Tee? Schokolade?« Er legt das Faltblatt beiseite und schiebt sich einen Stuhl zurecht, sodass er ihr gegenüber sitzt. »Du hast dich bestimmt längst entschieden, oder?« Lächelnd schaut er zu Sarah. »Jedenfalls benötigst du dazu keine Eiskarte, denke ich.«

»Tee«, antwortet sie gepresst. Sie erinnert sich an die Lederwerkstatt von Bruno, in der sie so gern gesessen hat. Auf dem Tisch vor seinem Thronsessel stand immer ein heißer, duftender Tee. »Rooibos«, fügt sie zügig an und lehnt sich zurück. Einen kurzen Moment später korrigiert sie ihre Haltung und bemüht sich, aufrecht zu sitzen.

Alexander quittiert es mit einem freundlichen Nicken. »Wenn man dich beobachtet«, beginnt er und verschränkt die Arme vor dem Körper, »wenn man dein Verhalten analysiert, dann erkennt man deine Neigung.« Sein Lächeln fließt breit. »Wusstest du das?«

Sarah reibt sich mit den Händen über die Oberschenkel. Sie hat nicht damit gerechnet, nach dem Treffen auf dem Friedhof in eine Privataudienz mit Alexander zu geraten. Auch nicht damit, ausgerechnet solchen Fragen ausgesetzt zu sein. Vereinbart war lediglich, Lia an das Grab von Bruno zu führen und sie zu begleiten, solange sie es wünscht. Beides war geschehen.

Aus einer Seitentür stürmt eine junge Frau. Im Gehen streift sie sich die langen blonden Haare nach hinten und hat dabei Mühe, ihren Notizblock in der Hand zu behalten. Geübt schlängelt sie sich an den wenigen Tischen vorbei und als sie schließlich ankommt, ist sie außer Atem von dem kleinen Stück Weg. »Darf ich«, fragt sie gehetzt, »etwas bringen?«

Alexanders Mimik verändert sich augenblicklich. Langsam wechselt er den Blick von Sarah zu der jungen Frau und sein Lächeln vertrocknet. »Einen schönen Tag wünsche ich«, entgegnet er schließlich konzentriert und mit tadelnder Stimme. »So viel Zeit und Höflichkeit sollte sein, da geben Sie mir sicherlich recht, oder?«

Sarah senkt ihren Kopf und schaut auf die Tischdecke. Sie fühlt sich unwohl. Kurz erwägt sie, die unangenehme Situation mit einem Scherz zu entschärfen. Aber sie unterlässt es. Es ist Alexanders Auseinandersetzung. Nicht ihre.

Die Frau dreht ihren Notizblock in der Hand und schlägt die erste Seite nach oben. »Es empfiehlt sich hier nicht immer, einen schönen guten Tag zu wünschen«, sagt sie selbstbewusst. »Jedenfalls nicht, wenn die Gäste von einem Besuch auf dem Friedhof kommen.« Mit einer Kopfbewegung deutet sie in Richtung der Glastür. »Entschuldigen Sie bitte, das ist nicht unhöflich gemeint. Aber uns begegnen überdurchschnittlich oft Menschen, die gerade eine Urnenbeisetzung bedauern mussten. Es irritiert, wenn ich ihnen einen großartigen Tag wünsche.« Ihr überlegenes Lächeln senkt sich unerbittlich auf Alexander hernieder, der von seinem Stuhl heraufschaut und die Augenbrauen wölbt.

Sarah riskiert einen Blick zu ihm und bemerkt mahlende Wangenknochen. Brodelnd wägt er eine Antwort ab. Es schmeckt ihm offensichtlich nicht, auf eine Belehrung hin selbst belehrt worden zu sein.

»Einen Tee. Rooibos. Heiß. Für die schweigende Dame mir gegenüber«, knirscht Alexander schließlich und weist mit der Hand auf Sarah. »Und einen Kaffee für mich. Schwarz, pur und stark. Den brauche ich jetzt. Danke.«

»Prima! Kommt sofort!« Die Frau lässt ihr Lächeln genussvoll über den Tisch schwappen, schaut sich triumphierend um und fließt dann gemeinsam mit ihm ab. Während sie sich entfernt, kritzelt sie fahrig auf ihren Notizblock. Als notiere sie stolz, gerade einen Löwen erlegt zu haben.

»Sie«, sagt Alexander langsam und wendet sich Sarah zu, »ist ganz anders als du.« Sein Blick hellt sich wieder auf. »Niemals hättest du dich so verhalten.«

Sarah hebt ruckartig den Kopf und räuspert sich. Sie weiß nicht, ob die Bemerkung als Kompliment gemeint ist oder nicht. Schätzt er sie wenig selbstbewusst ein? Glaubt er, sie würde alles hinnehmen? Hält er sie für eine Frau, die nicht ihre Meinung vertritt?

»Moment«, widerspricht sie protestierend. »Ich sage durchaus, was ich denke!«

»Das will ich hoffen«, entgegnet Alexander. »Aber darum geht es nicht.« Er lehnt sich nach hinten und lässt sich nicht von der knarzenden Stuhllehne irritieren. »Du würdest dich niemals so verhalten in der gleichen Situation.«

»Wie dann?« Sarah überlegt, was sie anstelle der blonden Frau geantwortet hätte. Außer, dass sie andere Worte gewählt hätte, fällt ihr keine bessere Antwort ein. Immerhin, ihr Gegenüber war davon beeindruckt. Ganz offensichtlich.

Alexander wiegt den Kopf. »Machen wir ein Experiment. Ich werde es dir beweisen.«

Neugierig rutscht Sarah auf dem Stuhl nach vorn und lehnt sich gegen den Tisch.

»Ich bin gespannt«, sagt sie aufgeregt und bläst sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Was muss ich tun?«

»Nichts.« Er reibt sich die Hände, verschränkt dann die Finger und stützt seinen Kopf ab. »Weißt du eigentlich, wie ich Julia kennengelernt habe?«

Sarah erinnert sich, dass Lia von einem Korsett erzählte, welches Alexander bei Bruno in Auftrag gegeben hatte. Lia war es, an der es entworfen und anprobiert worden war. »Ich weiß, dass du in Brunos Lederwerkstatt warst. Vielleicht dort?«

»Das ist richtig.« Er nickt bestätigend. »In der düsteren Werkstatt traf ich tatsächlich zum ersten Mal auf Lia. Es muss irgendwann im Herbst gewesen sein, denn ein heftiger Sturm drückte gegen die schmalen Oberlichter des hohen Raums.«

»Lia, komm bitte hierher!« Bruno strich mit den Händen über die Lehnen seines großen Sessels, der wie ein Thron wirkte. Er tat es beiläufig, als wolle er Staub von ihnen wischen. Dabei war das abgewetzte Leder so sauber wie das alte Sofa auf der gegenüberliegenden Seite, auf dem ich es mir gemütlich gemacht hatte. Doch die Geste passte zu Bruno, wie er da saß in einer Strickjacke, die großväterlich anmutete, mit großen Knöpfen auf der Vorderseite und zwei ausgebeulten Seitentaschen, in der er eine ganze Hand hätte vergraben können. Stattdessen kramte er eine geschwungene Pfeife hervor und einen kleinen, braunen Lederbeutel. Beides legte er bedächtig vor sich auf den Tisch.

Ich hatte es mir gemütlich gemacht, die Beine übereinandergeschlagen und einen Arm auf die Lehne gestützt.

Hinter mir vernahm ich eilige Schritte und blickte erstaunt über die Schulter hinweg. Ich sah den Vorhang, der die Werkstatt vom Wohnbereich trennte, und ich sah eine Hand, die den Stoff beiseitezog.

»Oh«, entfuhr es mir. Nicht nur, weil ich bis dahin geglaubt hatte, mit Bruno allein zu sein. Wir hatten Geschäftliches besprochen und Details unserer Unterredung waren – sagen wir – so individuell, dass ich sie nicht im Beisein von Dritten hätte erwähnen wollen. Schon gar nicht vor der Frau, die sich eben zwischen Durchgang und Vorhang hindurchschlängelte. Ich kannte sie nicht.

Während ich mich erhob, um sie zu begrüßen, nutzte ich meine Bewegung für einen flüchtigen Blick. Das schnell skizzierte Bild zeigte Wollsocken, Jeans und eine schlanke Taille, an die sich eine weiße Bluse schmiegte. Schwarze, lange Locken umflossen ein hübsches Gesicht und fielen über ein dunkelgrünes Tuch, das leger auf ihren Schultern lag. Ich schätzte die Frau auf fünfunddreißig Jahre – deutlich älter, als ich selbst war zu diesem Zeitpunkt. Zu mehr war keine Gelegenheit, wenn ich nicht den Sekundenbruchteil verpassen wollte, in dem aus höflichem Wahrnehmen Aufdringlichkeit wächst.

»Ich möchte dir Julia vorstellen«, erklärte Bruno mit zufriedener Stimme. »Sie ist …« Er überlegte kurz und ich erwartete, dass er mich über ihre Beziehung zueinander aufklären wollte. Er entschied sich anders. »Sie ist eine ganz bemerkenswerte Frau.«

Als ich fragend zu ihm sah, schmolz sein Gesicht zu einem amüsierten Lächeln. Ich ahnte, dass sie weder der Familie noch dem Kundenkreis angehörte.

 

Julia ließ mir keine Zeit für weitere Mutmaßungen. Sie senkte kurz den Kopf und ich wertete es als Verlegenheit, anschließend schenkte sie mir neben einem leise gesprochenen »Guten Tag« ein herzliches Lächeln.

Bruno wies mit der Hand in meine Richtung. »Das ist ein guter Kunde von mir«, fuhr er fort, »und ich denke, wir werden in den nächsten Wochen deine Hilfe benötigen. Du nennst ihn Alexander.«

Ich war nicht überrascht. Dass Bruno ihr diesen Namen nannte, bestätigte meine Vermutung, dass ihn mit Julia eine besondere Beziehung verband.

Sarah ist irritiert. »Moment bitte«, unterbricht sie die Erzählung und stört sich auch nicht daran, dass Alexander die Augenbrauen nach oben zieht.

»Julia sollte dich Alexander nennen?« Sie lehnt sich zurück und knetet ihre Unterlippe zwischen Zeigefinger und Daumen.

»Ja.« Er wiegt den Kopf hin und her. »Er hat mich vorgestellt, mehr nicht. Das macht man doch so, oder?«

Sarah gibt sich damit nicht zufrieden. Wenn man stolpert, schaut man sich schließlich nach dem Hindernis um. Auch wenn es nur eine Formulierung ist, an der man hängenblieb. Sie kneift die Augen zusammen. »Welchen Namen hätte er sonst nennen sollen?«

Alexander richtet den Blick an ihr vorbei. Als Sarah Schritte hört, begreift sie den Grund seiner Ablenkung.

»Einen Tee, einen Kaffee«, rezitiert die Blondine die Bestellung. Auf ihrer linken Handfläche balanciert sie ein kleines Tablett aus buntem Plastik. Geübt greift sie mit der anderen Hand die Tassen und schiebt sie auf den Tisch. »Heiß und frisch«, ergänzt sie lächelnd, während sie neben der Kaffeetasse ein Milchkännchen und einen Zuckerstreuer abstellt. Sie klemmt sich anschließend das Tablett unter den Arm und zieht ihren Notizblock hervor. »Darf es noch etwas sein?«

Alexander greift plötzlich das kleine Glas mit dem Zucker und hält es der jungen Frau entgegen. »Das brauchen wir hier nicht. Bitte nehmen Sie es wieder mit. Nichts Süßes. Ich hatte extra darum gebeten.«

Sarah blickt entgeistert zu Alexander. Sie kann sich nicht erinnern, dass er mit der Bedienung tatsächlich darüber gesprochen hätte.

»Kein Problem«, meint die junge Frau, zuckt aufgesetzt lächelnd mit den Schultern und greift den runden Behälter aus Glas. »Das muss ich wohl vergessen haben.«

»So wird es sein.« Alexander nickt wie ein Lehrer, der sich an der missratenen Leistung eines Schülers ergötzt. Du hast mir nicht zugehört, könnte er sagen, und ich habe gewusst, dass du nicht mehr als diese schlechte Note schaffen wirst, egal, wie sehr du dich anstrengst. »Für den Moment habe ich keinen weiteren Wunsch.«

Sarah wartet, bis die Bedienung den Raum durchquert und verlassen hat. Dann lehnt sie sich wieder nach vorn. »Du hast ihr nichts davon gesagt, dass du keinen Zucker möchtest«, erklärt sie leise.

Alexander greift unbeeindruckt zum Milchkännchen. »Doch, das habe ich.« Er versenkt den Löffel rührend zur Hälfte in seinem Kaffee und beobachtet interessiert, wie sich eine Kumuluswolke aus Milch in dem schwarzen Getränk auflöst. »Ich habe sie sehr deutlich darauf hingewiesen.«

Sarah schüttelt den Kopf. Sie ist überzeugt, dass sie recht hat. Denn sie hat auf jedes einzelne Wort von ihm geachtet, seitdem sie den Friedhof gemeinsam verlassen haben. »Auch ich habe es nicht gehört«, sagt sie.

»So?« Alexander hebt den Löffel über die Tasse und nimmt sich Zeit. Nachdenklich beobachtet er jeden Tropfen, der aus der Mitte der Oberfläche heraus eine kreisförmige, braune Welle schickt. Schließlich legt er das Besteck sorgsam auf den Teller. »Hörst auch du mir nicht richtig zu?«

Sein Lächeln ist nur ein Vorhang. Direkt dahinter befindet sich etwas Unerwartetes, denkt Sarah. Wartend. Lauernd. Wie der kleine, abgetrennte Raum in Brunos Werkstatt, in dem Lia kniend ausharrt, während er auf der anderen Seite ahnungslose Kunden bedient.

»Möchtest du mich etwa belehren?« Alexander greift seelenruhig zur Kaffeetasse, hält sie mit beiden Händen. Es ist, als fasse er bereits nach der Kordel zum Öffnen des Vorhangs.

»Nein«, beschwichtigt Sarah, »schon gut. Ich wollte das nicht diskutieren.« Ihr hätte es gereicht, wenn es bei einem kurzen Hinweis geblieben wäre.

»Sage mir, dass du im Recht bist.« Alexander bläst über den Tassenrand hinweg Luft. Während er dabei zu ihr schaut, sieht es aus, als blicke er nach oben. Das passt nicht zu ihm, denkt Sarah.

»Sag es mir.« Er klingt unnachgiebig. Hinter dem Vorhang bewegt sich etwas.

Sarah atmet tief ein. Sie sucht keine Bestätigung. Und es ist ihr unangenehm, Alexander zu berichtigen. Darum ging es doch gar nicht. Sie schüttelt den Kopf.

Er nähert sich vorsichtig dem Tassenrand. Als seine Lippen das Getränk berühren, zuckt er zurück. »Verdammt, ist das heiß«, beschwert er sich und stellt die Tasse grob ab, sodass der Kaffee fast überschwappt. Mit dem angewinkelten Zeigefinger fährt er sich über den Mund. »Dann werden wir unsere Unterhaltung jetzt fortsetzen. Und höre mir bitte aufmerksam zu. Wo war ich stehengeblieben?«

»Komm zu mir«, meinte Bruno aufmunternd und klopfte mit einer Hand auf die Lehne seines Thronsessels. Bei jedem anderen als ihm hätte ich das als Geste empfunden, mit der man ein Kind zu sich ruft und ihm Zeit schenkt. Doch ich wusste von Brunos leidenschaftlicher Art und Weise, mit einer Frau umzugehen. Bislang hatte er – vielleicht gerade deswegen – keine Partnerin gefunden, die ihm entsprach. Als ich jedoch beobachtete, wie unmittelbar Julia seiner Anweisung folgte und sich neben ihn stellte, direkt dort, wo seine Hand auf die Sessellehne geklopft hatte, war ich mir dessen nicht mehr sicher.

Er sah zu ihr herauf und runzelte die Stirn. »Alexander wird es nicht stören, wenn du dich setzt«, sagte er schließlich. Eine direkte Anweisung hätte nicht anders geklungen.

Julia nickte, dann sank sie neben dem Sessel auf die Knie. Sie legte ihre Hände in den Schoß und richtete ihren Blick auf die Kerze, die zwischen Bruno und mir auf dem Tisch stand. Eine Haarsträhne fiel über ihr Gesicht, aber Julia blieb so ruhig wie die kleine Flamme, die den Docht zehrte und ihre Wangen matt beleuchtete. Nur ihr Atmen hob und senkte sanft ihren Oberkörper, bewegte den Stoff der weißen Bluse. Es schien, als habe sie sich mit einer Sphäre aus Stille umhüllt. In eine schweigende Ewigkeit begeben, aus der sie nur Bruno wieder freisprechen durfte.

»Das stimmt doch, Alexander, oder?« Bruno riss mich gleichsam aus meinen Gedanken wie aus meiner Faszination.

Ich löste den Blick von der knienden Frau, strich mit der Hand über den Nacken und nahm wieder auf dem Sofa Platz. »Mich stört das in keiner Weise«, pflichtete ich Bruno bei. »Ganz im Gegenteil, denn …« Ich suchte nach der richtigen Formulierung. Am liebsten hätte ich ihn gefragt, ob meine Ahnung zutrifft. Hatte er einen Menschen gefunden, der seine Vorstellungen eines Zusammenlebens teilte? »Es sieht schön aus«, antwortete ich schließlich eher unbeholfen als diplomatisch.

»Natürlich«, meinte Bruno und sah mich befremdet an, als zweifle er an meinem Verstand.

»Sie«, korrigierte ich mich daraufhin zügig. »Ich wollte ausdrücken, dass sie schön aussieht.« Ich beschloss, besser zu schweigen. Oder mir für Antworten mehr Zeit zu nehmen.

»Selbstverständlich.« Er sah über die Lehne hinweg zu Julia, legte ihr vorsichtig seine Hand flach auf den Kopf und strich ihr durch das Haar. »Ich rief dich zu mir«, sprach er, »weil ich ein Korsett fertigen werde. Kein gewöhnliches. Ein Unikat. Alexander hat ganz außergewöhnliche Vorstellungen. Sehr exquisite.« Bruno schwieg einen Moment. »Aber realisierbare«, ergänzte er dann versonnen. Er schien längst in Schnitten und Schnürungen zu denken. »Es wird mir Freude bereiten.«

Ich räusperte mich. Es traf zu, dass ich ein besonderes Korsett wünschte. Ich hatte mich an Bruno gewandt, weil er bekannt war als ein Meister seines Faches. Seine Ledermanufaktur hatte man mir bereits vor Jahren verraten als ein Geheimtipp für Wünsche, die so individuell waren wie meine. Trotzdem verstand ich nicht, welchen Part die Frau einnehmen sollte, die regungslos neben dem Sessel kniete und lauschte.

Als hätte Bruno meine Gedanken bemerkt, fuhr er fort. »Steh auf, Lia.« Er zog seine Hand zurück auf die Lehne und wartete.

Als Julia ihren Kopf hob, streifte mich ein scheuer Blick. Möglicherweise hatte sie vermutet, ich würde es nicht bemerken. Doch mir genügte der kurze Moment, in dem wir uns direkt in die Augen sahen, um ihre Unsicherheit zu spüren. Wie eine unablässig arbeitende Unruhe lag sie hinter ihren Pupillen. Seltsam und unangenehm musste es ihr erscheinen, vor mir – einem unbekannten und wesentlich jüngeren Mann – derart dirigiert zu werden. Schließlich lenkte ihr Verstand ein, ließ ihren Blick flüchten und mit den Augen den Vorhang fixieren, durch den sie den Raum betreten hatte. Eilig zog sie das rechte Bein nach vorn und drückte ihren Körper mit einer einzigen Bewegung aufwärts, ohne mit den Handflächen den Boden zu touchieren. So blieb sie stehen und sah an mir vorbei.