Buch lesen: «England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe]»

Schriftart:

Jon Savage

England’s Dreaming

Anarchie, Sex Pistols, Punk Rock

Mit einem Vorwort zur englischen Neuausgabe

Aus dem Englischen von Conny Lösch.

Die Übersetzung des 5. Teils besorgte Dorothee Knab.

Die Diskographie wurde für die englische Neuausgabe überarbeitet und erweitert und für die deutsche Ausgabe von Frauke Stuhl in Form gebracht

FUEGO

Über dieses Buch

In seinem Film »The great Rock’n’Roll Swindle« klärt der Manager der Sex Pistols Malcom McLaren in zehn Lektionen darüber auf, wie eine Pop-Gruppe gegründet und vermarktet wird, wie sich die großen Plattenfirmen am besten über den Tisch ziehen lassen und wie man die Touristenattraktion Nummer 1 auf der Welt wird. Wie in jedem modernen Mythos vermischt sich Wahrheit mit Legende und bietet jede Menge Raum für Selbststilisierungen. Jon Savage hat sich mitten in diese unglaubliche Geschichte hineinbegeben. Entstanden ist ein in England und Amerika hoch gelobtes Buch über Punk Musik, über The Clash, Ramones und andere Gruppen, die neben den Sex Pistols ihr Unwesen trieben. Wie Savage die Geschichte des Punk vor dem sozialen und politischen Hintergrund der siebziger Jahre beleuchtet und als Phänomen einer verarmten und verlorenen Jugend interpretiert, die auf die Glücks-versprechungen der Gesellschaft pfeift und ihr Haß und Verachtung entgegenschleudert, ist brillant.

Es ist aber auch die Geschichte der vier Jungs aus einer ziemlich verrotteten Gegend in Löndon, die Geschichte von John Lydon alias Johnny Rotten, Sid Vicious, Steve Jones und Paul Cook, »extrem häßliche« Dilettanten, »die keinen blassen Schimmer« hatten, »Ausgestoßene«, die niemand wollte. Mit »God save the Queen« stürmten sie die Charts, während der Rundfunk sich weigerte, das Stück zu spielen. Durch ihr rotzig-pubertäres Auftreten wurden sie zum »Liebling« des nach Skandalen hechelnden Boulevard und zu den Prügelknaben der Nation. Jon Savage erzählt episch, ausschweifend und läßt immer wieder die Protagonisten selbst zu Wort kommen. Eine packende Studie, in der auch die 10. Lektion geklärt wird: »Who killed Bambi?«

Pressestimmen

»England’s Dreaming hat Gemeinsamkeiten mit der Bibel … obwohl man einschränken muss, dass Jon Savages Opus besser recherchiert ist als die Bibel und die besseren Pointen hat. (…) Was damals nach dem Startschuss so geschah mit der Anarchie, den Sex Pistols und dem Punk Rock, ist bekannt und wurde seitdem oft erzählt, aber selten so minutiös wie von Jon Savage. (…) Bemerkenswert ist die Dichte an Informationen, Anekdoten, wichtigen und unwichtigen Details; Savage steckt in vier Seiten, woraus andere einen 400 Seiten langen Roman, einen Film und zwei Videospiele machen würden.« (Juliane Liebert, Süddeutsche Zeitung)

»Dieses Meisterwerk über die Popkultur der 1970-er Jahre ist eine ausgezeichnete Beschreibung der relevanten Schnittstelle zwischen Mode und Musik, die man im deutschen Kulturraum ja nie so im Auge hatte.« (Wolfgang Bortlik, Strapazin)

»Die bislang detaillierteste und faktenreichste Dokumentation zur Geschichte des Punkrock. […] England’s Dreaming ist eine Faktenfundgrube. Hier gibt’s den echten Stoff, der Nirvana erst möglich gemacht hat.« (Musikexpress)

»Brillante Aufarbeitung der englischen Punk-Bewegung.« (Rolling Stone)

»Eine Sozialgeschichte des Punk als Avantgardebewegung.« (Deutschlandfunk)

Für meinen Großvater, Malcolm James Grant (1.1.1904 -12.2.1977)

Vorwort zur englischen Neuausgabe

Die Gegenüberstellung ist einfach, aber komplex genug, um etwas zu verdeutlichen: Der stolze Kriegsgewinner Winston Churchill, der in seinem Armeemantel so massig wie die Klippen von Dover wirkt, wurde mit einer von der Stirn bis in den Nacken reichenden Irokesenfrisur, bestehend aus feinstem englischen Rasen vom Parliament Square, gekrönt. Das ist kein geschmackvoller Haarschnitt, sondern Punk: ein blaßgrüner Farbtupfer auf dem Kanonenmetall der Skulptur. Die von unbekannten Künstlern während der anti-kapitalistischen Proteste am 1. Mai 2000 in der Londoner Innenstadt umgestaltete Skulptur wurde zum Pressebild des Tages. Für die einen ein Symbol der Gewalt und Denkmalschändung, für die anderen ein Beispiel kreativen Protestes, die Verfremdung einer nationalen Ikone.

Die Mai-Unruhen lösten bei 4000 teilnehmenden Demonstranten und 5500 Polizeikräften eine hitzige Debatte aus, in der der verpunkte Churchill für alle Parteien ein beliebtes Argument darstellte. Im Guardian behauptete ein Leserbriefschreiber sogar, dass Churchill Hitler schon nach zwei, statt erst nach sechs Jahren einen Arschtritt verpasst hätte, wenn er tatsächlich einen Irokesen-Haarschnitt getragen hätte. Emma Soames schrieb einen sehr emotionalen Artikel über die »Fotos meines Großvaters, die ihn so verunstaltet und entwürdigt zeigten, dass ich meinen Augen kaum traute.« Sogar auf den Leserbriefseiten des New Musical Express wurde ausführlich über Leben und Wirken des Mannes diskutiert. Und der Mirror fiel in den Chor mit der schlichten Frage ein: »Wo wären diese Rowdies heute, hätten die Nazis gewonnen?«

Für die Kinder der 50er und 60er Jahre ist Churchill der ultimative Groß-/Vater. Seine Beisetzung im Januar 1965 war ein nationales Ereignis von der Größenordnung der Beerdigung Prinzessin Dianas. Churchill galt sechzig Jahre lang als nationaler Held, unantastbarer noch als die Königliche Familie. Er hat Tausende, vielleicht Millionen ergebener Bewunderer, denn, wie Michael Korda in Harpers vom Mai 2000 schrieb, »von ihm kann mit Fug und Recht – vielleicht mehr als von jeder anderen Person des zwanzigsten Jahrhunderts – behauptet werden, dass er die westliche Welt gerettet hat ... Ohne ihn würden wir wahrscheinlich in einer von Hitlers Erben und Ideen beherrschten Welt leben. Dank ihm tun wir es nicht.«

Vielen Demonstranten galt Churchill als die Verkörperung der herrschenden Klasse. Die Schändung der Statue mag dazu geführt haben, dass das internationale, und mehr noch das globale Anliegen der Demonstration in den Hintergrund rückte, aber sie diente auch dazu, das Gespenst des Punk als Dämon der Bourgeoisie, als Vorbote der anarchistischen Apokalypse wieder aufleben zu lassen.

Ein viertel Jahrhundert ist seit Punk vergangen und England träumt noch immer. Der New-Labour-Konsens ist brüchig, angsterfüllt und wird von imaginären wie realen Dämonen bedrängt. Es ist durchaus fair, die Regierung mit dem Land selbst in Verbindung zu bringen, nicht nur wegen des überwältigenden Wahlsiegs im Mai 1997, sondern auch, weil die nationale Identität seither explizit ein Projekt von New Labour ist: die »Rückeroberung der Flagge« für das moderne Großbritannien, die es dem unheilvollen thatcheristischen Nationalismus zu entreißen galt. Man muss nur das Auftauchen des Union Jack in der Polit-und Pop-Ikonographie betrachten, um zu sehen, dass die nationale Identität in den 90er Jahren ein heißes Thema war. Sie schmückte 1992 Neil Kinnocks Parteiplattform, Noel Gallaghers Gitarre und den Bettbezug von Liam und Patsy auf dem »London Swings Again«-Cover der Märzausgabe 1997 von Vanity Fair.

Der Union Jack ist das Symbol der Einheit zwischen England, Schottland, Wales und Nord-Irland. Aber es ist alles andere als eine gleichberechtigte Partnerschaft. England, besonders der Südosten, beherrscht die Ökonomie, das Klassensystem und die internationale Wahrnehmung der Inseln. Britpop, in dem der Union Jack immer wieder auftaucht, ist ein typischer Fall, denn er spiegelt nicht die multikulturelle Realität Großbritanniens wieder, sondern brachte fast nur weiße Rockgruppen aus dem Südosten hervor. Dennoch ist die bedingungslose englische Überlegenheit mit der erfolgreichen Installierung verfassungsmäßiger Versammlungen in Schottland und Wales und der zunehmenden Zentralisierung Europas wie nie zuvor grundsätzlicher Kritik ausgesetzt. Diese Situation zwingt England, einige seiner liebsten Bräuche und Gepflogenheiten neu zu überdenken. Hugo Young behauptet zu Recht (im Guardian, März 2000), dass »Großbritannien nicht überleben kann, wenn England weiterhin als zentralisierter und herrschender Staat im Staat fungiert. «Ressentiments werden diesen Staat auseinanderreißen. Mit der Inselmentalität werden engere Verbindungen zu Europa sabotiert und sowohl die Wünsche eines großen Teils der britischen Jugend als auch die Tatsache ignoriert, dass die »besonderen Beziehungen« Großbritanniens zu den zunehmend isolationistischen Vereinigten Staaten nicht mehr als selbst verständlich betrachtet werden können.

Im Juni 2000 kam das alte England in der Weltpresse wieder zum Vorschein, als eine starke nationalistische Abordnung in Brüssel und Charleroi während der Fußball-Europameisterschaft Amok lief. Seit dem ekstatischen Sommer 1990, gekennzeichnet von der halbwegs erträglichen offiziellen England-Hymne »World in Motion« von New Order, war Fußball Teil des neuen Großbritanniens, aber jetzt kollidierte die Begeisterung der Mittelklasse und der Medien mit der Realität der Hooligans. Innerhalb der Jungskultur und ihrer vermarktbaren Vorlieben für Sexismus, Alkohol und Machismo, war es möglich, diese schlecht gelaunten Schlägereien als logische Folge der ganzen maroden Vorstellung zu betrachten. Am aufschlußreichsten war ein Sonderbericht für BBC Panorama: Den »Fans« galt die Tatsache, dass Großbritannien den Krieg gewonnen hatte, als Rechtfertigung ihres Benehmens. »Wenn England nicht gewesen wäre, wärt ihr jetzt Krauts«, brüllten sie in Amsterdam.

Dennoch war es genau jener Mythos Churchills, den Punk dreißig Jahre nach dem V-E-Day, dem Victory in Europe, mit voller Wucht angriff: England hatte den Krieg nicht gewonnen, sondern verloren. Das Empire als Ruhekissen existierte nicht mehr, nur noch die Träume vergangener Glorie und das Thronjubiläum mit rot-weiß-blauem Festschmuck. Und so ragt Winston Churchill bedrohlich wie ein Punk aus der King’s Road Anfang der 80er Jahre auf. Einer von der Sorte, die einem ein paar Pfund dafür berechnen, dass man sie fotografieren darf, um sich seine ganz persönliche Punk-Postkarte anzufertigen. 1976 sahen Punks nicht so aus, aber das interessiert heute niemanden mehr: Das ist fünfundzwanzig Jahre her – also mindestens fünf Popgenerationen – und der unmittelbare Bezug ist verschwunden. Die Teenies von heute waren nicht mal geboren, als Mrs Thatcher gewählt wurde. Wir sind mittlerweile so weit von den Sex Pistols entfernt wie die Pistols damals von Johnny Ray. Punk existiert noch als vergangener Popstil, aus dem man sich bedienen kann, so wie er auch in de Medien noch als nebensächliche Absonderlichkeit fortbesteht. Punk gibt der englischen Elite immer noch Futter, die ihrerseits aber ihre lang andauernde Vorherrschaft über den britischen Pop mit der Dance Explosion Ende der 80er Jahre eingebüßt hat. Punk hatte Wert darauf gelegt, in einer hyper-intensiven Gegenwart zu leben, aber nun ist er Geschichte – lediglich ein weiterer englischer Traum.

Punk war eine internationale Außenseiter-Ästhetik: dunkel, entfremdet, fremd, voll schwarzen Humors. Er breitete sich 1975 von den Vereinigten Staaten über Großbritannien und Frankreich nach Europa, Japan und Australien aus. Wer sich damals in Großbritannien aufgrund seiner Klassenzugehörigkeit, Sexualität, seiner Wahrnehmungsweise, seines Geschlechts oder seiner persönlichen Präferenzen ausgestoßen fühlte, wer sich nutzlos oder unwert vorkam, für den waren die Sex Pistols ein Hass/Liebe-Generator von – wie Paul Morley schrieb – »infernalischer Macht, die die Chance zum Handeln, sogar zur Hingabe – an etwas, das größer war als man selbst – und damit möglicher Transzendenz bot«. Indem man zum Alptraum wurde, konnte man den eigenen Träumen begegnen.

Punk hat die herrschenden Jungsmodalitäten nicht reproduziert. Es waren gerade abweichende Sex- und Genderstrategien, die seine ursprüngliche Wirkung ausmachten. Plötzlich musste man nicht mehr alleine sein. Man hatte viel Spaß dabei, es sich schlecht gehen zu lassen. Man war erfüllt vom Gift. Man versank darin und lebte nach Iggys Anweisung in »Death Trip«: »Sick boy, sick boy, learning to be cruel.« Man griff die Väter an, die Generation des Zweiten Weltkriegs: Alles, was sie nicht ausdrücken konnten, hielt man ihnen stolz vor: Ihre unerbittliche Selbstbeherrschung hatte sich zu einem leeren Starren und einer gewaltsamen Geste verfestigt. »Gimme World War Three we can live again.« Das war harter Stoff. England bekam gesagt, was es nicht hören wollte. Punk verlangte ein Engagement, auf das sich viele Popfans nicht einlassen wollten, und tatsächlich drückte sich die Gefährlichkeit dieser dunklen Ästhetik bald in Todesopfern, Drogenabhängigkeit und Zynismus aus, eine schwarze Wolke, die viele verfolgte.

Es gab eine schreckliche, bewusste Flucht kopfüber in die Zerstörung: »You can always tell«, sangen die San Francisco’s Sleepers,

»when you are going to hell.« Diese emotionale Verstörtheit ist eine kulturelle Besonderheit von Punk und bis heute Thema für alle Beteiligten. Punk war aber auch in der Welt und zwar fest entschlossen, seit John Lydon in »Anarchy in the UK« Akronyme aneinanderreihte. Die Sex Pistols hatten die größte Macht, als sie noch nicht festgelegt oder definiert waren. »God Save the Queen« war ein stolzes »fuck you«, das England scheinbar aus einem Nirgendwo, tatsächlich aber von der Haupttribüne aus zugerufen wurde. Was sie lostraten, besaß so viel Sprengkraft, dass die Polarisierung des politischen Klimas sehr bald nach einer Definition verlangte. Punk hatte sich auf die Politik gestürzt, und die Politik reagierte und meldete Ansprüche an, und zwar unabhängig davon, ob sie sich auf die äußerste Rechte berief, auf die Linke (Rock Against Racism), auf Anarchie (Crass) oder auf offenere Formen der Autonomie, die Wert auf kulturelle und soziale Unabhängigkeit legte. Jetzt, wo Popmusik in allen Medien präsent ist, vergisst man leicht, dass Punk 1976 und 1977 missbilligt und sogar verboten wurde, woran zunächst die Musikindustrie Anteil hatte, dann die Printmedien und die Politiker und schließlich die Öffentlichkeit insgesamt. Als Folge entstand ein alternatives Vertriebs- und Produktionsnetzwerk, das aus der Not eine Tugend machte: Es war einfach und billig, also los. Das Ideal der Zugänglichkeit, das seither durch das Internet erweitert wurde, ist ein Vermächtnis von Punk.

Obwohl Punk seit Anfang 1978 für die Musikindustrie lukrativ wurde, bewahrte er sich im Kern einen wütenden Abscheu vor Konsum, der Funktion von Popkultur und der Rolle, die Punk selbst dabei spielte. Wie John Lydon am Tag seines letzten Konzerts als Sex Pistol sagte: »Ich will einfach alles kaputt machen. Ich mag Rockmusik nicht, und ich weiß nicht, warum ich überhaupt noch mitmache.« In »Der Mann, der vom Himmel fiel« von Nic Roeg, ein Film, der 1976 erschien und großen Einfluss auf Punk hatte, fällt David Bowie in der Rolle des Newton vom Glauben ab. Er vergisst, warum er auf die Erde kam, und gibt sich allerhand Vergnügungen hin. In einer der denkwürdigsten Szenen des Films räkelt er sich völlig betrunken auf einem Stuhl und versinkt in einem Meer undefinierbaren Rauschens, das aus Dutzenden von Fernsehapparaten dringt. Im England von 1976 war dies auf jeden Fall futuristisch, aufregend und erschreckend zugleich. Diese Reaktion entsprach der im Punk, wo man gleichzeitig von den Medien fasziniert war und sie verdammte. Als Punk der Medienindustrie angepasst wurde, führte dieser Widerspruch zu den vorhersehbaren Ergebnissen. Und jetzt, da wir alle Newtons sind, ist es nicht sterbenslangweilig geworden?

Aber so wie die Hippiebewegung auf ökologische Belange und ein anderes Verständnis von Autonomie verwies, genauso blieben die Punkideale virulent, weil sie nach wie vor nicht eingelöst wurden. Der Widerspruch, an dem Punk zu Grunde ging, bestand in dem Versuch, Konsum und Medien von innen heraus zu kritisieren und verändern zu wollen, ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt war. In den 90er Jahren scheiterte Nirvana, die in den Vereinigten Staaten den Sex Pistols am nächsten kamen, an genau jenem Widerspruch, diesmal innerhalb einer globalen Pop/Medien-Ökonomie von beispielloser Unbarmherzigkeit und mit entsprechend schwerwiegenden Folgen. Das zentrale Problem bleibt bestehen, zumindest für jene, die die Grundlagen der Gesellschaft hinterfragen: Wie vermeidet man, dass man Teil dessen wird, wogegen man protestiert?

Vielleicht ist das die eigentliche Botschaft der Mai-Unruhen, die wie die Demonstrationen am 30. November gegen die World Trade Organization aus einer radikalen Kritik am globalen Kapitalismus entstanden ist, deren Wurzeln auch auf Punk zurückgehen, auf Anarchie, Anti-Konsumismus und Demokratisierung von Zugangs- und Teilnahmemöglichkeiten.

Trotz der Verschwörungstheorien in der Boulevardpresse gab es während der Mai-Unruhen keine Führer. Gewalt und Vandalismus tobten sich aus, aber in den Demonstrationen verschaffte sich durch das neue Styling Winston Churchills und durch das Pflanzen von Cannabis-Samen auf dem Parliament Square auch spielerische Subversion Ausdruck. Das Fehlen einer umfassenden, festgelegten Ideologie wurde heftig kritisiert, aber ebenso wie Punk am Einflussreichsten war, als er noch nicht definiert war, ist dies keine Schwäche, sondern eine Stärke. Die einfache Verfremdung des Denkmals durch Punk und den Radikalismus ist eine jener Momentaufnahmen, die eine grundlegende Kluft in der Wahrnehmung der Gesellschaft offenbaren, die Kluft zwischen 1940 und 2000, zwischen jenen, die die Aktion für eine Schändung, und jenen, die sie für eine perfekte Metapher Englands halten, ein Land, das sich weigert, die Gegenwart zu präsentieren, und sogar die Existenz der Gegenwart in Zweifel zieht. Die Vitalität des Punk hält an, und sein Virus wirkt – fünfundzwanzig Jahre nach seinem Höhepunkt – nicht als Musik, als Kultur oder als Band weiter, sondern als allgemeines Symbol für jugendliche Unzufriedenheit, Rebellion und Störung der öffentlichen Ordnung. Wenn nichts in Frage gestellt wird, wird schließlich auch nichts verändert.


1

Wir befinden uns am Beginn der siebziger Jahre. Alle Beteiligten sind bereits auf der Welt, aber nur wenige kennen sich untereinander. Sie werden 1976 und 1977 in einem Beziehungsgeflecht aufeinandertreffen, das so undurchdringlich ist wie die labyrinthischen Londoner Slums in den Romanen von Dickens. Die anderen Anfänge des Punk – die Songtexte, avantgardistischen Manifeste, Schauergeschichten – existieren bereits, aber zuerst brauchen wir den Ort, an dem diese Blumen wie Schmetterlingssträucher zwischen Kriegsruinen erblühen können.

Der kleine merkwürdige Laden in der King’s Road 430 in unmittelbarer Nähe von World’s End besteht aus einem Raum im Erdgeschoss eines vierstöckigen, spätviktorianischen Hauses, das Anfang des Jahrhunderts umgebaut wurde. Eine eiserne Säule in der Mitte des Raums trägt die Decke. Das einzige Tageslicht dringt durch das Schaufenster. Es gibt keine Innentoilette. Der Laden befindet sich an exponierter Stelle, am Ende einer Reihe ähnlicher, etwas größerer Läden; an der Ostseite schließt die örtliche Vertretung der Conservative Association an.


430 King's Road, London, Oktober 1976 (© Bob Gruen)

Die Funktionsveränderungen des Gebäudes illustrieren den sozialen Wandel in diesem Randgebiet, ein Mikrokosmos dessen, was Malcolm McLaren »die menschliche Architektur der Stadt« genannt hat. World’s End selbst ist nach einem großen Pub in der Nähe benannt. Dieser Name wiederum leitet sich nicht von der Apokalypse, sondern von der Tatsache ab, dass das Haus zur Zeit seiner Erbauung im 18. Jahrhundert, das letzte am Stadtrand war.

Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte die King’s Road 430 Joseph Thorn, der dort über dreißig Jahre lang einen Pfandleihbetrieb unterhielt. In den frühen 50er Jahren war es ein Café, geführt von Mrs Ida Docker. Als die oberen Ausläufer der King’s Road Mitte der 50er Jahre in Mode kamen, breiteten sich Boutiquen, Cafés und andere Treffpunkte langsam auch nach unten auf die östlichen Abschnitte aus. Folge dieser Entwicklung war, dass auch Nummer 430 aufhörte, ein Laden zu sein, der nur Kunden aus der unmittelbaren Umgebung anzog. Eine Zeitlang war dort eine Agentur für Yachten, dann das Geschäft eines Motorrollerhändlers. Im Winter 1967, als Michael Rainey Hung On You von Chelsea Green dorthin verlegte, wurde es schick.

Hung On You ist ein gutes Beispiel für den sozialen Mix aus Mode, Musik und Politik, der zum wichtigsten Exportgut Londons wurde. Gemeinsam mit David Mlinaric, Tara Browne (verewigt in »A Day In A Life« von den Beatles) und Christopher Gibbs, war Michael Rainey einer der ersten echten, aristokratischen Chelsea Stylisten, eine Elite, die nicht auf Herkunft oder Manieren beruhte, sondern auf Stil und Glamour.

Mitte der 60er Jahre legte die englische Musik- und Kulturindustrie enorm zu – ein Prozess, der offiziell durch die Auszeichnung der Beatles mit dem MBE-Orden im Oktober 1965 markiert wird. Popgruppen wie die Beatles, die Animals und die Rolling Stones, die aus provinziellen und armen Verhältnissen stammten, wurden nicht nur reich und berühmt, sondern zur neuen Aristokratie. In John Lennons Worten: »zu Königen des Dschungels«.

An der Kleidung der Beatles oder der Rolling Stones Anfang 1966 lässt sich das sehen: eng geschnittene, zweireihige Anzüge aus Samt oder gestreiftem Stoff, getragen mit grellen, handgemalten 40er Jahre-Krawatten oder Crêpe de Chine-Halstüchern aus den Dreißigern. Das war der Popmodernismus Mitte der 60er Jahre auf dem Höhepunkt der Hippie-Ära. Als sich dieser Stil verbreitete, wurde er vor allem in der Carnaby Street oder der Portobello Road verkauft. World’s End hat von der Goldgrube nicht profitiert, da es zu weit abgelegen war. Obwohl andere Läden wie Granny Takes A Trip 1966 aufgemacht hatten, war die Ecke kein Umschlagplatz für den Massenmarkt, sondern ein Ort für Drogen, Exzentrik oder Ziel besonderer Pilgerfahrten.

Michael Rainey schloss Hung On You Anfang 1969. Er hatte zur Entstehung der Idee multipler Identitäten in der Mode beigetragen – Kleidung, die nicht von der Gleichförmigkeit der Herkunft oder des Geschmacks zeugte, sondern von einem aufrührerischen Durcheinander der Farben, Epochen und Nationalitäten. Trevor Miles hatte Hung On You mit Kaftanen beliefert; in jüngerer Zeit hatte er Westen für Tommy Roberts Kleptomania hergestellt. Sie beschlossen, gemeinsam einen Laden mit einem neuen Namen zu eröffnen.

Mr Freedom war wie eine gigantische Spielwiese. War er einmal durch die eisbecherartige Vorderfront getreten, wurde der Kunde von einem riesigen ausgestopften Gorilla mit blaugefärbtem Plüschpelz begrüßt. Während eine sich drehende silberne Kugel an der Decke ein Gefühl wie in einem Palais vermittelte, konnte man am Tresen, in den munter flimmernde Fernsehapparate eingebaut waren, Süßigkeiten kaufen. Die von den 50er Jahren beeinflussten Klamotten waren trivial, grell und fantastisch.

»Ich habe Blitze aufgenäht, lange T-Shirt-Kleider mit Raketen drauf, Mickey Maus-T-Shirts und so was alles«, sagt Miles. Andere Stücke waren zum Beispiel bedruckte Kleider im Lucie Mabel Atwell-Stil, Applikationen mit Schlagwörtern wie »Slip it to Me« und »Pow«, die absichtlich von hässlichen Models getragen wurden, überall Supermann-Jacken und falsche Leopardenfelle. Der Laden war von Anfang an ein Erfolg.

Es war einer der Ursprünge für die in den frühen siebziger Jahren vorherrschende Popkultur: eine Mischung aus Camp und Infantilität. Evokationen einer 30er Jahre-Umgebung, die charakteristisch sind für eine Babyboomer-Kindheit – eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt im Spaßpalast, dem Bibas Superstore, finden sollte –, gingen 1968 Hand in Hand mit der schöngeistigen Verschlüsselung des Stils der dreißiger Jahre unter dem Begriff Art Deco. Als die Dynamik des Popmodernismus nachließ, begann die Ära der jahrzehntelangen Stil-Revivals. Style ersetzte Inhalt, Kleidung wurde Kostümierung.

Phänomene des Popkults wie Mr Freedom lösten einzelne Themen wie »die 30er« oder »die 50er Jahre« aus ihrem zeitlichen Bezugsrahmen und tobten durch die Vergangenheit wie ein Kind durch einen Antiquitätenladen. Ästheten wie Nik Cohn war diese fröhliche Plünderei verhasst: »Für einen Augenblick erlangt Spaß die definitive Herrschaft. Auf Parties nicht mehr ganz junger Jointraucher erschienen nahezu kahle Fettsäcke, verkleidet als Johnny Weissmüller, und ihre Ehefrauen spielten Rita Hayworth. Das ist kein schöner Anblick.«

Für Miles brachte diese Auffälligkeit aber dringlichere Probleme mit sich, das Problem des geistigen Diebstahls. Sein gefeiertster Entwurf, das »Star«-T-Shirt, wurde sofort von der etablierten Textilindustrie kopiert, die den Markt mit billigen Imitationen überschwemmte. Tommy Roberts ging pleite und eröffnete einen größeren, besseren Laden am Ende der Kensington Church Street, während Miles, weniger Geschäftsmann, in 430 blieb: »Wir haben uns überworfen, und ich bekam den Mustang und den Laden.«

Es war Zeit für ein neues Konzept: Pazifik Exotik. Miles machte sich mit 5000 Pfund nach New York auf und kaufte bergeweise gebrauchte Jeans, Latzhosen und Hawaii-Hemden. Die Ladenfront wurde mit grünem Wellblech und Bambusbuchstaben im Hawaii-Stil dem neuen Gewand von 430 angepasst. Eine antike Benzinzapfsäule wurde ausgestellt. Drinnen stopfte die Electric Colour Company alles mit Bambus voll, legte Binsenmatten auf den Boden und verkleidete Miles’ Mustang mit Tigerfellimitat.

Paradise Garage war einer der ersten Läden, die auf Retro-Pop machten und alte Klamotten von erlesenem Geschmack anboten. Miles war seiner Zeit wieder voraus, aber er wurde nicht nur von anderen, geschäftstüchtigeren Händlern im Preis unterboten, sondern er begann, sich zu langweilen. »Ich dachte, in Ordnung, gebrauchte Klamotten, abgehakt, nächste Idee. Also habe ich den Boden schwarz besprüht, eine Jukebox und eine verschiebbare Tanzfläche reingestellt. Dann bin ich für ein paar Monate abgehauen. Das mag einem heute außergewöhnlich erscheinen, aber so machte man damals Geschäfte.«

1971 war der Glanz aus der King’s Road verschwunden, und der Laden sah sich starker Konkurrenz durch seine Nachbarn wie Alkasura und Granny Takes A Trip ausgesetzt, die Knittersamteleganz an englische Musiker verkauften, welche auf dem lukrativen amerikanischen Markt tourten. Als die Hippiebewegung an ihrem Tiefpunkt angekommen war, wurde World’s End von Drogen überflutet.

An einem Sommertag 1971 verschlug es Malcolm McLaren in diese reizlose Gegend. McLaren hatte gerade seine Ausbildung am Goldsmiths’ College vorzeitig abgebrochen; sein Abschlussprojekt – das unvollendet blieb – war ein psychogeographischer Film über die Oxford Street, die bei ihm eine Faszination für den Rock’n’Roll der 50er Jahre im Allgemeinen und für Billy Fury im Besonderen ausgelöst hatte. In seiner Darstellung: »1969 und 1970 gab ich meine Stipendiumskohle aus, um verschiedene Platten aus den 50er und 60er Jahren auf Flohmärkten zu sammeln. Als ich abging, hatte ich eine riesige Sammlung. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und ich hatte die Idee, diese Platten zu verkaufen, mich mit einem befreundeten Kunststudenten, Patrick Casey, zusammenzutun, der einen großartigen Sinn und eine Begabung dafür hatte, einzigartige, gebrauchte Klamotten zu finden – besonders alte Lederjacken und Zoot Jackets, merkwürdig taillierte Jacketts mit breiten, wattierten Schultern, die genau in die Zeit dieser Platten passten. Niemand wusste damals – 1970, 1971 –, dass das ein angesagter Stil werden würde.«


Trevor Miles vor Nummer 430, 1970 (© Trevor Miles)

Auf dem Weg zu einem Flohmarkt nahe der Ecke zur Edith Grove wurde McLaren von einem Mann auf seine Lurexhosen angesprochen, die seine Freundin Vivienne Westwood für ihn angefertigt hatte. Der Mann, ein amerikanischer Gauner namens Bradley Mendelson, betrieb den Laden in der 430, von dem McLaren schwer beeindruckt war:

»Alles war völlig runtergekommen; der Typ brauchte Geld. Aber er hatte eine Jukebox, die laut plärrte. Alles war schwarz, es gab kein Schild, überhaupt keine Ladenfront. Ich war begeistert, weil es so 50er-Jahre-mäßig war.«

Im Oktober 1971 zog McLaren mit Vivienne Westwood und Patrick Casey in den hinteren Teil von Nummer 430 ein. Als Trevor Miles von seiner Hochzeitsreise zurückkehrte, war er nicht besonders begeistert:

»Bradley Mendelson hatte ohne mein Wissen die Hälfte des Ladens vermietet. Als wir zurückkamen, war ich schockiert. Ich erklärte mich für bankrott und bin einfach wegspaziert. Malcolm übernahm den Laden, behielt die Jukebox und machte daraus Let It Rock

Für Miles war es das Ende einer Ära: »Malcolm und Vivienne waren wahrscheinlich sehr bodenständig, aber mir kamen sie wie Außerirdische vor. Malcolms Herangehensweise und seine Haltung haben mich immer fasziniert – die Art und Weise, wie er es schafft, dass man ihm Sachen durchgehen lässt. Ich finde Viviennes Art, ihre Botschaft rüberzubringen, manchmal beinahe peinlich, wenn auch sehr eindringlich. Aber es war die Anfangszeit: sie hatten sehr feste Überzeugungen und die Kleidung, die sie machten, war wirklich einmalig.«

Obwohl sie ungefähr gleich alt waren und auf ähnliche Weise in die Popkultur eingetaucht waren, hatten McLaren und Westwood sehr wenig mit den schönen Menschen der King’s Road gemein. 1971 hassten beide leidenschaftlich Hippies: »Hippos« (Nilpferde), wie McLaren sie nannte. Ihr Interesse an Kleidung hatte mit Spaß oder Camp nichts zu tun. Beide mißtrauten dem sozialen Aufstieg der free and easy-Hippiekultur zutiefst. McLaren mochte die Schuldgefühle, die von den Tittenmagazinen wie Photoplay und Fiesta, die er im hinteren Teil des Ladens verkaufte, abfärbten. Mit ihren Wasserstoffsuperoxydfrisuren, riesigen Brüsten und Leopardenfellkostümen stellten diese Evas und Audreys Anachronismen dar, ihre schiere Übertreibung aber warf ein Licht auf die wahre Dynamik des Begehrens und der sexuellen Unterdrückung, der man in einer Gegend auswich, wo ein Laden zum Beispiel Liberated Lady hieß.