Buch lesen: «Mit Kindern wachsen»
Myla & Jon Kabat-Zinn
Mit Kindern wachsen
Aber das Bewusstsein vorausgesetzt, dass auch zwischen den nächsten Menschen unendliche Fernen bestehen bleiben, kann ihnen ein wundervolles Nebeneinanderwohnen erwachsen, wenn es ihnen gelingt, die Weite zwischen sich zu lieben, die ihnen die Möglichkeit gibt, einander immer in ganzer Gestalt und vor einem großen Himmel zu sehen!
Rainer Maria Rilke
Myla & Jon Kabat-Zinn
Mit Kindern wachsen
Die Praxis der Achtsamkeit in der Familie
Aus dem Amerikanischen von Mike Schaefer
© 2014 Myla Kabat-Zinn und Jon Kabat-Zinn
© 2015 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiburg by arrangement with Hyperion, New York
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:
Everyday Blessings: The Inner Work of Mindful Parenting
Titelfoto: © 2015 Mr. Nico/photocase.com
Hergestellt von mediengenossen.de
Alle Rechte vorbehalten
2. Auflage 2016
E-Book 2020
www.arbor-verlag.de
ISBN E-Book: 978-3-86781-315-0
Wichtiger Hinweis
Die Ratschläge zur Selbstbehandlung in diesem Buch sind von der Autorin und dem Autor sowie dem Verlag sorgfältig erwogen und geprüft worden. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Bei ernsthafteren oder länger anhaltenden Beschwerden sollten Sie auf jeden Fall einen Arzt, Psychotherapeuten, Psychologen oder Heilpraktiker Ihres Vertrauens zu Rate ziehen. Eine Haftung der Autorin / des Autors oder des Verlages für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.
Inhalt
Danksagung
Vorwort zur überarbeiteten Auflage
Prolog – jkz
Prolog – mkz
1 Die Gefahr und die Verheißung
Die Herausforderung der Elternrolle
Was heißt „Achtsamkeit in der Familie“?
Wie soll ich das schaffen?
2 Sir Gawain und die hässliche Dame: Die Geschichte enthält den Schlüssel
Sir Gawain und die hässliche Dame
3 Grundlagen der Achtsamkeit in der Familie
Selbstbestimmung
Empathie
Akzeptieren
4 Achtsamkeit – eine Art zu sehen
Eltern-Sein ist „die volle Katastrophe“
Zen-Meister in den eigenen vier Wänden
Eine achtzehnjährige Meditationsklausur
Warum Praktizieren wichtig ist
Atmen
Die innere Kunst der Achtsamkeit
Gedanken sind nur Gedanken
Verurteilen oder Unterscheiden
Formelle Achtsamkeitspraxis
Briefe an ein junges Mädchen, das sich für Zen interessiert
Die Stille zwischen zwei Wellen
5 Eine Art des Seins
Schwangerschaft
Geburt
Wohlbefinden
Stillen
Nahrung für die Seele
Das Familienbett
6 Resonanzen, Sich-Einstimmen und Präsenz
Resonanzen
Sich-Einstimmen
Berühren
Kleinkinder
Zeit
Präsent sein
Jack und die Bohnenranke
Schlafenszeit
7 Entscheidungen
Heilende Augenblicke
Wer sind die Eltern, wer ist das Kind?
Werte
Bewusstes Konsumverhalten
Das mediale Inferno
Ausgeglichenheit
8 Realitäten
Jungs
Eishockey auf dem Teich
Camping in der Wildnis
Softball durchbricht den Trübsinn
Mädchen
Zottelhaube oder: „Ich gehe so, wie ich bin!“
Partei ergreifen, Selbstbehauptung, Verantwortung
9 Grenzen und Chancen
Erwartungen
Nachgeben
Grenzen und Chancen
Sich um die eigenen Angelegenheiten kümmern
„Du bist am Zug!“
Weggabelungen
10 Dunkelheit und Licht
Vergänglichkeit
Der Strom der verborgenen Trauer
Am seidenen Faden
Wenn der „Kragen platzt“
Es gibt keine Garantie
Verirrt
Es ist nie zu spät
Epilog
Vier Achtsamkeits-Übungen für den Alltag
Sieben Intentionen – Elternschaft als spirituelle Disziplin
Zwölf Übungen zur Entwicklung von Achtsamkeit in der Familie
Empfohlene Literatur
Quellen
Danksagung
Bei der Arbeit an diesem Buch schrieb zunächst jeder von uns bestimmte Kapitel allein. Danach gaben wir einander Feedback und veränderten den Text. Schließlich überarbeiteten wir die ursprüngliche Fassung und bezogen das neue Material mit ein. Auf diese Weise entstand allmählich das vorliegende Buch. Alle Kapitel darin sind Produkte unserer gemeinsamen Bemühungen. Das Endergebnis ist aus unser beider Herz und Geist hervorgegangen und natürlich nicht zuletzt auch aus unserem langjährigen Zusammenleben.
Wir möchten zuerst unseren Kindern danken – für ihren respektlosen Humor, für ihre Ehrlichkeit und ihr Verständnis sowie dafür, dass sie uns auch an einem Teil ihres Lebens außerhalb der Familie teilnehmen lassen. Die Geschichten aus ihrer Kindheit, die wir hier mit ihrem Einverständnis wiedergeben, spiegeln kostbare Augenblicke, die letztlich einzig und allein ihnen gehören. Wir wissen ihre Nachsicht und Geduld mit uns zu schätzen, und es ist für uns ein großer Segen, dass sie ihr Leben und ihre Liebe mit uns teilen.
Wir danken auch unseren eigenen Eltern, Sally und Elvin Kabat sowie Roslyn und Howard Zinn, für alles, was sie uns gegeben haben.
In verschiedenen Entstehungsphasen dieses Buches haben wir Freunde um ihr Feedback gebeten. Ihnen allen möchten wir danken, dass sie uns geholfen haben. Larry Rosenberg, Sarah Doering, Robbie Pfeufer Kahn, Becky Sarah, Norman Fisher, Jack Kornfield und Trudy Goodman haben das ganze Manuskript gelesen und uns mit ihrer Kritik und ihren Anregungen sehr geholfen. Außerdem möchten wir Halé Baycu-Schatz, Kathryn Robb, Jenny Fleming, Mary Crowe, Sala Steinbach, Nancy Wainer Cohen, Sally Brucker und Barbara Trafton Beall für ihre hilfreichen Anregungen danken.
Eine Reihe von Personen haben Beiträge zu diesem Buch geliefert und haben dadurch mit Herz und Seele Anteil daran, und wir sind ihnen für ihre Großzügigkeit und ihre Ausdruckskraft zu tiefem Dank verpflichtet. Wir möchten Caitlin Miller für ihre Gedichte in dem Kapitel Briefe an ein junges Mädchen, das sich für Zen interessiert danken, Susan Block für ihr Material in dem Kapitel Es ist nie zu spät, Ralph und Kathy Robinson für das Gedicht, das von ihrem Sohn Ryan Jon Robinson stammt, sowie auch für Ralphs Bericht über Ryans Leben und die Schilderung seines Todes im Kapitel Vergänglichkeit, Lani Donlon für die Geschichte in Werte. Cherry Hamrick für ihren Brief in Achtsamkeit im Klassenzimmer und Rebecca Clement, ihrer Schülerin, für den ihren. Auch Rose Thorne, Becky Sarah, Halé Baycu-Schatz und Robbie Pfeufer Kahn haben Material beigesteuert, für das wir ihnen ganz herzlich danken möchten.
Ich (Myla Kabat-Zinn) fühle mich insbesondere Robbie Pfeufer Kahn zu Dank verpflichtet für die vielen Gespräche über die Bedürfnisse von Kindern, die wir im Laufe der Jahre geführt haben. Durch meine täglichen Spaziergänge und Gespräche mit Halé Baycu-Schatz habe ich ebenfalls wichtige Anregungen erhalten.
Weiterhin möchten wir all denen von Herzen danken, die uns über ihre Erfahrungen als Eltern berichtet haben. Viele dieser Geschichten haben wir auf Bitte der Betreffenden hin in anonymer Form nacherzählt. Einige konnten wir aus Platzgründen oder aufgrund ihres Inhalts nicht verwenden. Trotzdem möchten wir denjenigen, die uns diese teilweise erschütternden Geschichten mitgeteilt haben, dafür danken.
Von Robert Bly habe ich (mkz) erstmals eine wunderschöne und herzergreifende Version der Geschichte Sir Gawain und die hässliche Dame gehört. Er wiederum beruft sich in seiner Darstellung auf Gioia Timpanelli, die die Geschichte seit mehr als zwanzig Jahren erzählt und ihre Version unter anderem aus der mündlichen Überlieferung des Mittelalters und von Chaucers Wife of Bath‘s Tale herleitet. Unsere eigene Version dieser Geschichte basiert hauptsächlich auf Rosemary Sutcliffs Erzählung in The Sword and the Circle.
Unsere Lektoren Leslie Wells und Bob Miller haben uns in den entscheidenden Phasen des Produktionsprozesses mit ihrer Erfahrung zur Seite gestanden. Wir wissen es sehr zu schätzen, dass sie uns während der gesamten Entstehungszeit des Buches die Unabhängigkeit gelassen haben, die wir brauchten, um unsere Ansichten so zu formulieren, wie sie nun in diesem Buch vor Ihnen liegen. Auch andere Mitarbeiter des Hyperion-Verlages haben uns in verschiedenen Phasen des Entstehungsprozesses wichtige Hilfe geleistet. Insbesondere sind wir Jennifer Lang zu großem Dank verpflichtet, die die Genehmigungen zur Benutzung fremder Quellen einholte.
Vorwort zur überarbeiteten Auflage
Haben Sie schon einmal Unkraut gejätet? Je mehr Sie auszupfen, desto mehr sehen Sie. In einem Moment denken Sie, sie hätten alles erwischt, und im nächsten Moment sehen Sie wieder neues. Sie müssen also geduldig sein und sich auf den Prozess selber einlassen und dürfen nicht nur auf das gewünschte Ergebnis schauen. Achtzehn Jahre, nachdem man die erste Fassung geschrieben hat, ein Buch über das Elterndasein zu überarbeiten, ist ganz ähnlich – und ein bisschen ernüchternd. Es war unvermeidlich, dass sich unsere Ansichten mit zunehmender Erfahrung als Eltern – und mittlerweile als Großeltern – im Laufe der Jahre änderten. Egal, wie klar uns manche Dinge in der Vergangenheit zu sein schienen: Durch die längerfristige Perspektive und die kontinuierliche Weiterentwicklung von Achtsamkeit hat sich unsere Fähigkeit, zu sehen und zu verstehen, entwickelt und vertieft, und was wir einst felsenfest glaubten, ist differenzierter geworden. Dies ist ein endloser Prozess, der uns hoffentlich ermöglicht, das ganze Leben lang weiter zu lernen. Vor diesem Hintergrund haben wir noch einmal das ganze Buch überarbeitet und dabei die Essenz der ursprünglichen Ausgabe zu bewahren versucht. Wir feilten an unserer Darstellung und machten unsere Aussagen klarer, wenn wir das Gefühl hatten, es sei nötig oder ein wichtiger Punkt oder eine wichtige Perspektive müssten stärker beleuchtet werden. Wir haben den Text sowohl in der Tonlage wie auch inhaltlich überarbeitet, um widerzugeben, wie sich unsere Ansichten seit der ersten Niederschrift verändert haben, und natürlich auch deshalb, weil sich auch die Welt so stark verändert hat – für Eltern wie für Kinder.
Die Welt, in die Kinder heute hineingeboren werden, ist in der Tat in vielerlei Hinsicht völlig anders als zu der Zeit, als unsere Kinder aufwuchsen. Zum einen wurden unsere Kinder in eine rein analoge – und deswegen viel langsamere – Welt hineingeboren. Heute muss man sich, nach dem Siegeszug von Internet und drahtloser Vernetzung, auch mit der digitalen Welt und ihrer immer rasanteren Geschwindigkeit auseinandersetzen – einer Parallelwelt, die uns trotz wunderbarer Nutzungsmöglichkeiten leicht zu Zerstreutheit und Körperferne verführt, und zwar genau dann, wenn es notwendig wäre, präsenter und wirklich im Körper anwesend zu sein, um die emotionalen Herausforderungen des Elterndaseins und des Lebens anzunehmen und auch dessen Freuden ganz zu erleben. Mehr denn je ist Achtsamkeit notwendig, um sich in diesem neuen Gebiet zu bewegen, während wir Kinder erziehen und selbst weiter wachsen und ein erfülltes Leben führen wollen. Diese beiden Ebenen des Lebens – sich um Kinder zu kümmern und selber zu wachsen – sind eng miteinander verflochten.
Achtsamkeit als eine Art des Daseins und als formelle wie auch informelle Meditationspraxis ist in einem Maße Teil des gesellschaftlichen Mainstreams geworden, wie es 1997 überhaupt nicht vorstellbar war. Es gibt mittlerweile eine schnell wachsende und zunehmend tragfähige Forschung zur Achtsamkeitspraxis und ihren Auswirkungen auf die Biologie, die Psychologie und die soziale Interaktion des Menschen. Die Praxis der Achtsamkeit beeinflusst unser Gehirn und unsere Gene, unsere Fähigkeit zu Aufmerksamkeit, emotionaler Selbstregulierung, Impulskontrolle, zum Perspektivenwechsel und zu Führungsaufgaben generell sowie viele andere wichtige Merkmale, die uns ausmachen: etwa die Fähigkeit, durch unsere angeborene Veranlagung zu Empathie, Sich-Einstimmen, Mitgefühl und Güte unsere tiefe gegenseitige Verbundenheit zu erkennen.
Nie zuvor sind die wissenschaftlichen Beweise so unwiderlegbar gewesen, dass die Schulung von Achtsamkeit ausgeprägte positive Effekte für einen selbst und für diejenigen haben kann, mit denen wir zusammenleben. Und nie zuvor ist es für Eltern wichtiger gewesen, diese Veranlagung, die wir alle haben, zu kultivieren – zu Bewusstheit und herzlicher Offenheit für den gegenwärtigen Moment und letztendlich zu größerer Weisheit, wie man ein erfülltes und sinnvolles Leben führen kann, auf eine Art und Weise, die emotional und sozial intelligent ist.
Wir hoffen, dass diese überarbeitete Ausgabe von „Mit Kindern wachsen“ Sie anspricht und inspiriert, aktiv und aus ganzem Herzen eine größere Bewusstheit zu kultivieren – in Ihrem Elterndasein, in Ihrem Leben.
Myla & Jon Kabat-Zinn
22. Februar 2014
Prolog – jkz
Unser Sohn, gerade das erste Jahr im College, kommt um 1.30 Uhr in der Nacht auf Thanksgiving nach Hause. Ein Freund hat ihn gefahren. Als er am frühen Abend anrief und uns mitteilte, er schaffe es nicht, zum Abendessen bei uns zu sein – was wir eigentlich gehofft hatten –, waren wir alle enttäuscht, und einige Augenblicke lang hatte ich deutlich Verärgerung in mir gespürt. Wir hatten dann vereinbart, dass wir die Haustür offen lassen würden und dass er uns bei seiner Ankunft wecken sollte. Doch das war gar nicht nötig. Wir hörten ihn schon beim Betreten des Hauses. Selbst wenn er versucht, leise zu sein, ist seine junge und überschäumende Energie nicht zu überhören. Er kommt die Treppe herauf. Wir rufen ihn flüsternd, um seine Schwestern nicht aufzuwecken. Er kommt in unser dunkles Schlafzimmer. Wir umarmen uns. Er tritt an meine Seite des Bettes, lehnt sich quer über mich zu Myla hinüber und umarmt uns beide gleichzeitig, mit seinen Armen, und mehr noch: mit seinem ganzen Wesen. Er ist glücklich, wieder zu Hause zu sein. Als wäre es die natürlichste Sache der Welt, liegt er quer über mir. Jede Spur von Verärgerung über seine Verspätung, jede Enttäuschung darüber, dass er das gemeinsame Abendessen versäumt hat, ist augenblicklich verflogen.
Ich spüre, dass ein Glücksgefühl von ihm ausgeht, das weder übertrieben noch manisch ist. Er strahlt Freude, Zufriedenheit, Ruhe und Verspieltheit aus. Es ist, als würden alte Freunde einander wiedersehen, und mehr als das: wie ein Familienfest. Er ist jetzt zu Hause, hier, in unserem dunklen Schlafzimmer. Er gehört zu uns. Die Verbindung zwischen uns dreien ist spürbar. Ein Gefühl der Freude durchflutet mich, und ich sehe eine Folge von Bildern aus meinem Leben mit ihm, die die Fülle dieses Augenblicks widerspiegeln. Dieser große Neunzehnjährige, der quer über mir liegt und den ich so oft in meinen Armen gehalten habe, bis er sich von uns löste und in die Welt hinausging, der nun einen zerzausten Bart und starke Muskeln hat, ist mein Sohn. Ich bin sein Vater. Myla ist seine Mutter. Schweigend sind wir uns dessen bewusst. Während wir daliegen, baden wir in unseren Glücksgefühlen, die sich zu einer Einheit verbinden.
Nach einiger Zeit verlässt er uns, um sich einen Film anzuschauen. Er kann noch nicht schlafen, weil er zuviel Energie hat. Wir versuchen, wieder einzuschlafen, doch wälzen wir uns noch stundenlang im Bett herum, vor Erschöpfung wie betäubt. Ich überlege kurz, ob ich zu ihm in sein Zimmer hinübergehen soll, um mehr kostbare Zeit mit ihm zu verbringen, aber ich bleibe dann doch liegen. Es ist nicht notwendig, dass ich irgendetwas hinterherlaufe, weder ihm noch dem Schlaf, den ich eigentlich dringend brauche. Am nächsten Morgen breche ich zur Arbeit auf, lange bevor er aufwacht. Den ganzen Tag über begleitet mich das Bewusstsein, dass er am Abend bei meiner Rückkehr zu Hause sein wird und ich ihn sehen werde.
Solche Augenblicke machen den Segen und die Freude aus, die wir Eltern erleben können, wenn wir es nicht selbst verhindern, so wie ich es an jenem Tag fast durch meine anfängliche Verärgerung getan hätte. Ebenso leicht können solch glückliche Augenblicke vorübergehen, ohne dass wir sie überhaupt bemerken. Doch was ist das Besondere an ihnen? Spüren wir nur bei der ersten Heimkehr aus dem College, bei der Geburt, beim ersten Wort oder beim ersten Schritt eine so tiefe Verbindung zu unseren Kindern? Oder sind solche Augenblicke häufiger, als wir vermuten? Könnte es sein, dass sie eher häufig als selten sind, dass wir sie praktisch jederzeit erleben können, selbst in schwierigeren Situationen – sofern wir sowohl mit unseren Kindern als auch mit diesem Augenblick in Kontakt bleiben?
Meine Erfahrung ist, dass es solche Augenblicke im Überfluss gibt. Nur gehen sie leicht unbemerkt und ohne dass ich ihren Wert erkenne, vorüber, wenn ich nicht wach genug bin, sie zu sehen. Es erfordert eine gewisse Art von innerer Arbeit, sie wahrzunehmen, denn mein Geist lässt sich so leicht und durch so viele Dinge von der Fülle jedes Augenblicks ablenken.
Wir Eltern befinden uns auf einer mühsamen Reise, einer Art Odyssee, unabhängig vom Alter unserer Kinder, ob uns dies bewusst ist oder nicht, ob es uns gefällt oder nicht. Diese Reise ist natürlich nichts anderes als das Leben selbst mit all seinen Windungen, mit all seinem Auf und Ab. Wie wir die Fülle der Ereignisse unseres Lebens mit unserem Geist und unserem Herzen aufnehmen, entscheidet über die Qualität unserer Reise und deren Bedeutung für uns. Unsere Wahrnehmung beeinflusst, wohin wir gelangen, was auf unserem Lebensweg geschieht, was wir lernen und wie wir uns bei alldem fühlen.
Wenn wir das Abenteuer unseres Lebens wirklich voll auskosten wollen, so erfordert dies eine besondere Art des Engagements und der Präsenz, eine stetige Aufmerksamkeit, die zugleich sanft und offen ist. Oft lehrt die Reise uns, aufmerksam zu sein, und weckt uns auf. Manchmal lernen wir auf eine sehr schmerzhafte oder gar beängstigende Weise, die wir niemals selbst gesucht hätten. Wie ich es empfinde, besteht die Herausforderung der Elternschaft darin, jeden Augenblick so intensiv und bewusst wie möglich zu leben, unseren Weg so gut zu planen, wie wir können, unsere Kinder zu fördern und in diesem Prozess selbst zu wachsen. Unsere Kinder und die Reise, auf der wir uns mit ihnen zusammen befinden, bieten uns in dieser Hinsicht unendlich viele Möglichkeiten.
Das ist eindeutig eine Lebensaufgabe – eine Aufgabe, die wir um des Lebens willen auf uns nehmen. Wir alle wissen im Grunde, dass es nicht darum geht, höchste Perfektion zu erreichen oder alles immer „richtig zu machen“. Es geht mehr um die Suche selbst als darum, eine bestimmte Qualität zu erreichen. „Perfektion“ ist in diesem Zusammenhang einfach keine adäquate Kategorie – was immer dieser Begriff im Hinblick auf die Aufgabe von Eltern beinhalten könnte. Wichtig ist, dass wir authentisch sind, dass wir unseren Kindern und uns selbst soviel Respekt entgegenbringen wie nur möglich und dass wir an alles, was wir tun, mit der festen Absicht herangehen, zumindest keinen Schaden anzurichten.
Meiner Ansicht nach besteht unsere Aufgabe als Eltern vor allem darin, Augenblick für Augenblick so aufmerksam wie möglich zu sein, so bewusst wie möglich zu leben, auch und gerade im Umgang mit unseren Kindern. Wir wissen heute, dass unbewusstes Verhalten eines oder beider Elternteile zwangsläufig Leiden für die Kinder mit sich bringt, insbesondere, wenn es sich in Form starrer Ansichten, egozentrischer Verhaltensweisen und eines Mangels an Gewahrsein und Aufmerksamkeit manifestiert. Wenn Eltern sich so verhalten, ist das häufig ein Symptom dafür, dass sie selbst leiden, auch wenn sie ihr Verhalten niemals in diesem Licht sehen mögen, solange sie nicht selbst eine tiefe Erfahrung des Aufwachens machen.
Vielleicht sollten wir alle, jeder auf seine Weise, Rilkes Einsicht beherzigen, dass stets „unendliche Fernen“ sogar zwischen den einander nahestehendsten Menschen liegen. Wenn wir das wirklich verstehen und akzeptieren – so beängstigend es uns zuweilen erscheinen mag –, können wir uns vielleicht bewusst dafür entscheiden, so zu leben, dass sich Rilkes „wundervolles Nebeneinander-Wohnen“ entwickeln kann, indem wir die Distanz nutzen und lieben, die es uns ermöglicht, den anderen „in ganzer Gestalt und vor einem offenen Himmel zu sehen“.
Das ist, so meine ich, unsere Aufgabe als Eltern. Um sie zu erfüllen, müssen wir unsere Kinder fördern, schützen und sie so lange unterstützen und begleiten, bis sie selbstständig ihren eigenen Weg gehen können. Auch ist es sehr empfehlenswert, in unserem eigenen Leben Ganzheit anzustreben. Damit unsere Kinder, wenn sie uns anschauen, unsere Ganzheit vor dem Himmel betrachten können, müssen wir selbst völlig eigenständige Personen sein.
Das ist nicht immer leicht. Im familiären Alltag achtsam zu sein ist für Eltern harte Arbeit. Es bedeutet, dass wir uns innerlich gut kennenlernen und dass wir an jenem Berührungspunkt arbeiten, an dem unser eigenes inneres Leben und das Leben unserer Kinder zusammentreffen. Besonders hart ist diese Arbeit heute deshalb, weil die Kultur, in der wir leben, immer stärkeren Einfluss auf das häusliche Leben und auf das Leben unserer Kinder nimmt.
Ein Grund für meine regelmäßige Meditationsübung ist, dass ich auf diese Weise versuche, angesichts der ständigen ungeheuren äußeren Anforderungen mein inneres Gleichgewicht und meine geistige Klarheit zu erhalten. Außerdem hilft mir die Meditation, trotz aller Witterungsumschwünge, denen ich auf meiner Reise als Familienvater Tag für Tag ausgesetzt bin, einigermaßen „auf Kurs zu bleiben“. Dass ich mir jeden Tag, gewöhnlich am frühen Morgen, eine bestimmte Zeitspanne für das stille Sitzen reserviere, hilft mir, ruhiger und ausgeglichener zu bleiben, einen klareren und umfassenderen Blick zu bewahren, mir ständig dessen bewusst zu bleiben, was wirklich wichtig ist, und mich immer wieder neu dafür zu entscheiden, dass ich mein Leben von jenem Gewahrsein leiten lassen will.
Die Achtsamkeit, die ich beim stillen Sitzen und bei der Ausführung alltäglicher Aufgaben entwickle, ermöglicht es mir, den gegenwärtigen Augenblick aufmerksam zu erleben – was mir wiederum hilft, im Herzen ein wenig offener und im Geist ein wenig klarer zu bleiben und dadurch meine Kinder so sehen zu können, wie sie sind; ihnen geben zu können, was sie von mir am dringendsten brauchen, und ihnen den Raum zuzugestehen, den sie benötigen, um ihre eigene Art zu finden, wie sie in der Welt leben wollen.
Doch ist auch mein regelmäßiges Meditieren keine Garantie dafür, dass ich immer ruhig, freundlich, sanft und in der Gegenwart zentriert bin. Oft bin ich das ganz und gar nicht. Die regelmäßige Meditationsübung hat auch nicht automatisch zur Folge, dass ich immer weiß, was in einer Situation zu tun ist, oder dass ich mich nie verwirrt oder ratlos fühle. Allerdings hilft mir die durch die Übung verstärkte Achtsamkeit, Dinge zu sehen, die ich andernfalls vielleicht nicht gesehen hätte, und kleine, aber wichtige und manchmal entscheidende Schritte zu gehen, die ich andernfalls vielleicht nie gegangen wäre.
Nach einem Workshop, in dem ich den Anfang dieses Prologs (noch in Manuskriptform) vorgelesen hatte, erhielt ich von einem Mann in den Sechzigern einen Brief folgenden Inhalts:
Ich möchte Ihnen hiermit für ein ganz besonderes Geschenk danken, das Sie mir an jenem Tag gemacht haben … Die Beschreibung der Rückkehr Ihres Sohnes zu Thanksgiving hat mich sehr tief berührt. Das gilt insbesondere für Ihre Schilderung dessen, wie er Sie mit seinem Sein umhüllte, als er sich quer über Sie legte. Als ich das hörte, habe ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder liebevolle Gefühle meinem eigenen Sohn gegenüber gespürt. Ich weiß nicht genau, was geschehen ist, aber es ist, als hätte ich bisher immer das Gefühl gehabt, mein Sohn müsse anders sein, damit ich ihn lieben könnte, und das hat sich jetzt geändert.
Wenn sie niedergeschlagen oder enttäuscht sind, haben vielleicht alle Eltern hin und wieder das Gefühl, sie bräuchten eine andere Art von Kind, um es lieben zu können. Wenn wir dieses Gefühl nicht näher prüfen, kann es sich leicht von einem kurzlebigen Impuls in eine dauerhafte Enttäuschung verwandeln, und es kann sein, dass wir eine Sehnsucht nach etwas entwickeln, von dem wir glauben, wir hätten es nicht. Wenn wir dann später noch einmal genauer hinschauen, so wie dieser Vater es getan hat, stellen wir möglicherweise fest, dass wir die Kinder, die uns gegeben sind, verstehen und so lieben können, wie sie sind.
Jon Kabat-Zinn