Mit Kindern wachsen

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Was heißt „Achtsamkeit in der Familie“?

Die Praxis der Achtsamkeit in der Familie ruft uns dazu auf, den Möglichkeiten, positiven Entwicklungschancen und Herausforderungen des Eltern-Seins mit einem neuen Bewusstsein und einer besonderen inneren Haltung zu begegnen. Sie bringt nicht nur mit sich, dass uns das, was wir tun, als wichtig erscheint, sondern zeigt uns, dass unser bewusstes Engagement als Eltern im wahrsten Sinne des Wortes das Wichtigste ist, was wir tun können – sowohl für unsere Kinder als auch für uns selbst.

Dieses Buch befasst sich mit den verschiedensten Aspekten dessen, was Eltern erleben. Es beschreibt, wie wir die Bedürfnisse unserer Kinder so umfassend wie möglich befriedigen können, indem wir eine bestimmte Art von Gewahrsein oder Bewusstheit entwickeln. Mit Hilfe dieses Gewahrseins, das auch Achtsamkeit genannt wird, können wir zu einem tieferen Verständnis für unsere Kinder und uns selbst gelangen. Achtsamkeit ermöglicht es, hinter den oberflächlichen Anschein der Dinge vorzudringen und klarer zu sehen, wie unsere Kinder wirklich sind. Mit Hilfe der Achtsamkeit können wir sowohl in unser Inneres schauen als auch die Außenwelt betrachten und aufgrund dessen, was wir dabei sehen, in unserem Handeln ein gewisses Maß an Weisheit und Mitgefühl entwickeln. Wenn Eltern sich bei allem, was sie tun, um Achtsamkeit bemühen, so kann das eine sehr heilende und transformierende Wirkung haben – sowohl auf ihre Kinder als auch auf sie selbst.

In Teil IV des Buches werden wir sehen, dass man das Leben mit Kindern im Geiste der Achtsamkeit wie eine außergewöhnlich lange und zuweilen sehr anstrengende Meditationsklausur verstehen kann, die einen großen Teil unseres Lebens umfasst. Und wir können unsere Kinder als uns ständig fordernde Hauslehrer sehen, die uns von ihrer Geburt bis weit in ihr Erwachsenenleben hinein begleiten und schulen. Sie geben uns zahllose Gelegenheiten, mehr darüber zu erfahren, wer wir sind und wer sie sind. Dies wiederum gibt uns die Möglichkeit, mit den wichtigen Dingen in Kontakt zu bleiben und unseren Kindern zu geben, was sie für ihre Entwicklung am dringendsten brauchen. Vielleicht stellen wir im Laufe der Zeit fest, dass uns dieses Gewahrsein von Augenblick zu Augenblick von einigen der blockierendsten Gewohnheiten der Wahrnehmung und unserer Art, zu anderen Menschen in Beziehung zu treten, befreit – von den Zwangsjacken und Gefängnissen des Geistes, die die Vorgänger-Generation an uns weitergegeben hat oder die wir auf irgendeine Weise selbst geschaffen haben. Unsere Kinder können uns durch ihre bloße Gegenwart und oft ohne Worte oder Diskussionen dazu inspirieren, diese innere Arbeit zu tun. Je besser es uns gelingt, uns die dem Wesen unserer Kinder eigene Ganzheit und Schönheit zu vergegenwärtigen – insbesondere dann, wenn es uns gerade schwerfällt –, umso tiefer wird unsere Fähigkeit, achtsam zu sein. Je klarer wir sehen, desto besser, großzügiger und klüger können wir auf sie eingehen.

Wenn wir es uns zur Aufgabe machen, sie auch innerlich zu fördern und zu verstehen, wer sie sind, dann werden uns unsere „Hauslehrer“ insbesondere in den ersten zehn oder zwanzig Jahren unserer „Ausbildung“ unendlich viele Augenblicke des Staunens und der Glückseligkeit bescheren sowie zahllose Gelegenheiten, tiefste Gefühle der Verbundenheit und Liebe zu erfahren. Ebenso wahrscheinlich ist, dass sie zielsicher alle unsere wunden Punkte finden, alle unsere Unsicherheiten, an allen unseren Grenzen rütteln und all das in uns anrühren, wovor wir Angst haben und worin wir uns unzulänglich fühlen. Wenn wir bereit sind, das ganze Spektrum unserer Erfahrungen wirklich bewusst zu erleben, werden sie uns immer wieder an das Wichtigste im Leben erinnern – einschließlich seiner Mysterien.

Unsere Aufgabe als Eltern ist teilweise deshalb besonders intensiv und anstrengend, weil unsere Kinder von uns Dinge fordern, die niemand anders von uns fordern könnte und wie es niemand anders tun könnte oder würde. Sie kommen uns so nah wie kein anderer Mensch, und sie zwingen uns ständig, in den Spiegel zu schauen, den sie uns vorhalten. Dadurch geben sie uns immer wieder die Chance, uns auf neuartige Weise zu sehen und uns bewusst zu fragen, was wir aus jeder Situation lernen können, die wir mit ihnen erleben. Aus diesem Gewahrsein heraus können wir dann Entscheidungen treffen, die gleichzeitig dem inneren Wachstum unserer Kinder und unserer eigenen Weiterentwicklung zugutekommen. Unsere Verbundenheit mit ihnen und unsere Abhängigkeit voneinander eröffnen uns die Möglichkeit, gemeinsam zu lernen und zu wachsen.


Um unsere Aufgabe als Eltern auf achtsame Weise erfüllen zu können, ist es hilfreich, etwas darüber zu wissen, was Achtsamkeit ist. Achtsamkeit ist ein Gewahrsein, das jeden einzelnen Augenblick erfasst, ohne darüber zu urteilen. Wir können dieses Gewahrsein entwickeln, indem wir unsere Aufmerksamkeit verfeinern, unsere Fähigkeit zur Konzentration auf den gegenwärtigen Augenblick schulen und diese Aufmerksamkeit so gut wie möglich aufrechterhalten. Wenn wir dies versuchen, wird unser Kontakt zu unserem Leben, so wie es sich Augenblick um Augenblick entfaltet, immer intensiver.

Gewöhnlich vergeht ein großer Teil unseres Lebens mit automatischen Reaktionen. Wir sind nur sehr partiell und eher zufällig aufmerksam, und viele wichtige Dinge erscheinen uns als Selbstverständlichkeiten, oder wir beachten sie erst gar nicht. Wir beurteilen gewöhnlich alles, was wir erleben, indem wir uns blitzschnell und oft völlig unkritisch Meinungen bilden, deren Maßstab in den meisten Fällen ist, was wir mögen oder nicht mögen, was wir wollen oder nicht wollen. Achtsamkeit kann Eltern sehr effektiv bei der Erfüllung ihrer Aufgabe helfen, all das bewusst zu registrieren, was in jedem einzelnen Augenblick geschieht, und so durch den Schleier der automatischen Gedanken und Gefühle zur Wahrnehmung einer tieferen Realität zu gelangen.

Achtsamkeit ist ein zentrales Anliegen buddhistischer Meditation, wobei es vor allem darum geht, Aufmerksamkeit zu entwickeln und zu kultivieren. Diese Praxis ist in verschiedenen Meditationsschulen in ganz Asien seit mehr als zweieinhalbtausend Jahren gepflegt und weiterentwickelt worden, und sie stößt heute in vielen Bereichen der westlichen Gesellschaft auf zunehmendes Interesse – unter anderem in der Medizin, den Neurowissenschaften, der Psychologie, der Gesundheitsvorsorge, in der Erziehung, im Justizwesen sowie in Sozialprogrammen.

Achtsamkeit ist eine meditative Disziplin. Es gibt viele meditative Disziplinen. Wir könnten sagen, dass all diese Methoden Türen ähneln, die in ein und denselben Raum führen. Von jeder dieser Türen aus eröffnet sich dem Betrachter eine einzigartige Perspektive, die sich von dem Anblick, der sich von den anderen Türen aus bietet, völlig unterscheidet. Doch ganz gleich, durch welche Tür wir den Raum betreten, wenn wir darin stehen, ist es immer der gleiche Raum. Ganz gleich, an welcher Meditationsmethode oder -tradition wir uns orientieren: Was in der Meditation geschieht, ist immer ein Sich-Einstimmen auf die Ordnung und Stille, die jede Aktivität enthält, so chaotisch sie uns auch erscheinen mag. Dieses Sich-Einstimmen geschieht mit Hilfe unserer Fähigkeit zur Aufmerksamkeit.

Obgleich die Achtsamkeit in der buddhistischen Tradition besonders differenziert beschrieben worden ist, spielt sie in allen Kulturen eine wichtige Rolle und ist etwas wahrhaft Universales, da sie nichts anderes beinhaltet als die Entwicklung von Bewusstheit, Klarheit und Mitgefühl, also von Fähigkeiten, die alle Menschen besitzen. Es gibt viele Möglichkeiten, diese Kultivierungsarbeit zu leisten, und keine von ihnen ist die einzig richtige, ebenso wenig wie es eine einzig richtige Art gibt, mit Kindern umzugehen.

Achtsamkeit beinhaltet für uns als Eltern, dass wir uns im Alltagsleben mit unseren Kindern der wirklich wichtigen Dinge bewusst bleiben. Wir werden feststellen, dass wir uns die meiste Zeit über gezielt darum bemühen müssen, uns zu vergegenwärtigen, was dies ist. Es kann sogar sein, dass wir in bestimmten Augenblicken absolut nicht wissen, was wichtig ist, weil uns unsere Orientierung verloren gegangen ist – das kann sogar sehr leicht geschehen. Doch selbst in den schwierigsten und schrecklichsten Augenblicken unseres Lebens als Eltern können wir bewusst von der aktuellen Situation Abstand nehmen und uns mit einem frischen, unvorbelasteten Blick fragen: „Was ist in dieser Situation wirklich wichtig?“

Achtsamkeit beinhaltet für uns als Eltern, dass wir uns daran erinnern, diese Art der Aufmerksamkeit, Offenheit und Weisheit in allen Situationen, in denen wir mit unseren Kindern zusammen sind, zu entwickeln. Das ist eine echte Übungsmethode, eine innere Disziplin, eine Form der Meditation, die sowohl Kindern als auch Eltern großen Nutzen bringen kann.

Wenn wir von unseren Kinder lernen wollen, ist es notwendig, dass wir im Umgang mit ihnen aufmerksam sind und innerlich still werden. Diese innere Stille ermöglicht es uns, den ständigen inneren Aufruhr, die Unklarheit und die automatischen Reaktionen unseres Geistes zu durchschauen und so ein größeres Maß an Klarheit, Ruhe und Verständnis zu entwickeln – Eigenschaften, die sich unmittelbar auf unseren Umgang mit unseren Kindern auswirken.

Wie alle Menschen haben auch Eltern ihre Bedürfnisse und Sehnsüchte, und ebenso wie ihre Kinder haben auch sie ihr eigenes Leben. Das Problem ist, dass die Bedürfnisse der Eltern und ihrer Kinder sehr oft unterschiedlicher Natur sind. Sie sind gleichermaßen berechtigt und wichtig, aber sie sind ganz einfach unterschiedlich und stehen manchmal im Widerspruch zueinander. Durch dieses Aufeinanderprallen unterschiedlicher Bedürfnisse kann sich ein Kampf entwickeln, in dem es darum geht, wer von beiden Seiten „seinen Willen durchsetzt“. Diese Gefahr besteht besonders dann, wenn wir uns als Eltern gestresst, überlastet und erschöpft fühlen.

 

Statt unsere Bedürfnisse gegen die unserer Kinder auszuspielen, können wir in solchen Augenblicken versuchen, uns der Interdependenz unserer Bedürfnisse bewusst zu werden. Unser Leben ist zutiefst mit dem Leben unserer Kinder verbunden. Wenn es ihnen nicht gut geht, leiden auch wir, und wenn es uns nicht gut geht, leiden sie.

Das bedeutet, dass es allen Beteiligten hilft, wenn wir uns der Bedürfnisse unserer Kinder und unserer eigenen Bedürfnisse bewusst sind, der emotionalen wie der physischen – und wenn wir dem Alter der Kinder angemessene Wege suchen, wie jeder bekommen kann, was er oder sie am meisten braucht. Schon allein diese Sensibilität im Umgang mit uns selbst und unseren Kindern verstärkt unsere Verbindung zueinander. Durch die Qualität unserer Präsenz spüren sie selbst in schwierigen Situationen, dass sie uns wichtig sind und wir für sie sorgen. Treten dann Konflikte zwischen unseren Bedürfnissen und den Bedürfnissen unserer Kinder auf, so sind wir in der Lage, Entscheidungen zu treffen, die aus dieser Herzensbeziehung hervorgehen und so in stärkerem Maße von Güte und Weisheit getragen sind.


Wir betrachten die Aufgabe, die Eltern übernehmen, als eine heilige Verantwortung. Eltern sind für ihre Kinder Beschützer, Ernährer, Tröster, Lehrer, Gefährten, Vorbilder und Quellen bedingungsloser Liebe und Geborgenheit. Wenn wir in diesem Bewusstsein leben und handeln und wenn wir uns bemühen, in dem Prozess, der sich Augenblick für Augenblick entfaltet, ein gewisses Maß an Achtsamkeit zu entwickeln, dann besteht eine größere Chance, dass die Entscheidungen, die wir als Eltern treffen müssen, aus dem Gewahrsein dessen erwachsen, was der Augenblick erfordert und was dieses Kind in dieser Phase seines Lebens durch sein Wesen und sein Verhalten von uns erbittet. Wenn wir uns dieser Herausforderung stellen, erhöht sich dadurch nicht nur die Chance, dass wir für unsere Kinder das Bestmögliche tun, sondern wir erkennen vielleicht auch zum ersten Mal die tiefsten und besten Kräfte in uns selbst.

Achtsamkeit im Umgang mit Kindern erfordert, dass wir die Herausforderungen erkennen, mit denen wir als Eltern tagtäglich konfrontiert werden, und dass wir versuchen, unsere Aufgaben mit Gewahrsein zu erfüllen. Dieses Gewahrsein kann alle Aspekte der Realität einschließen: unsere Frustration, unsere Unsicherheit und Unzulänglichkeit, unsere Grenzen und sogar unsere dunkelsten und destruktivsten Gefühle sowie die Situationen, in denen wir uns überfordert oder innerlich völlig zerrissen fühlen. Auch und gerade mit diesen problematischen Aspekten unseres Seins sind wir aufgefordert, bewusst und systematisch zu „arbeiten“.

Dies zu verwirklichen ist eine gewaltige Aufgabe. Wir alle sind in vielerlei Hinsicht von den Ereignissen und Umständen unserer eigenen Kindheit geprägt, und wir können sogar in mehr oder weniger starkem Maße Gefangene dieser Geschehnisse sein. Und unsere eigene Kindheit hat nicht nur entscheidenden Einfluss darauf, wie wir die Welt und uns selbst wahrnehmen – unsere Lebensgeschichte wirkt sich zwangsläufig auch darauf aus, wie wir unsere Kinder wahrnehmen, darauf, was wir glauben, „was sie verdienen“, wie für sie gesorgt und wie sie erzogen und „sozialisiert“ werden sollten. Wir alle halten als Eltern sehr strikt und oft unbewusst an bestimmten Ansichten fest, was immer sie beinhalten mögen, als befänden wir uns unter dem Einfluss eines mächtigen Zaubers. Nur wenn wir uns dieser prägenden Einflüsse bewusst werden, können wir die Elemente unserer eigenen Erziehung nutzen, die sich für uns selbst als hilfreich, positiv und förderlich erwiesen haben, und erst dann wird es uns gelingen, über die destruktiven und blockierenden Aspekte hinauszuwachsen.

Für diejenigen unter uns, die sich in ihrer Kindheit verschließen mussten, um ihre Gefühle zu unterdrücken oder um sie „nicht zu sehen“, weil sie nur so das Geschehen ertragen konnten, kann es besonders schmerzhaft und schwierig sein, ein größeres Maß an Achtsamkeit zu entwickeln. In Augenblicken, in denen die alten Dämonen wieder lebendig werden, wenn schädliche Überzeugungen, destruktive Muster und Alpträume aus unserer Kindheit wieder zutage treten und wir von dunklen Gefühlen und von Schwarzweißdenken geplagt werden, ist es besonders schwierig für uns, innezuhalten und einen frischen Blick auf die Dinge zu werfen.

Wir wollen hier keineswegs den Eindruck erwecken, dass es irgendeinen festen oder gar objektiven Maßstab für elterliche Achtsamkeit gibt, an dem Eltern sich orientieren oder messen sollten. Achtsamkeit erfordert immer die kontinuierliche Vertiefung und Verfeinerung des Gewahrseins und der Fähigkeit, in der Gegenwart präsent zu sein und angemessen zu handeln. Es geht also keineswegs darum, dass wir ein festes Ziel oder Ergebnis erreichen, so wertvoll uns ein solches auch erscheinen mag. Ein wichtiger Teil des Prozesses ist, dass wir uns selbst mit einem gewissen Maß an Güte und Mitgefühl sehen. Dazu gehört, dass wir uns unserer Schwierigkeiten, unserer Blindheit, unserer menschlichen Schwäche und Fehlbarkeit bewusst sind und dass wir so achtsam wie möglich an ihnen arbeiten. Auch in Augenblicken der Dunkelheit und Verzweiflung, die uns zeigen, dass wir im Grunde nichts wissen, können wir immer wieder frisch und unbelastet anfangen. Jeder Augenblick ist ein Neuanfang, eine Gelegenheit zur Einstimmung auf das, was ist, und vielleicht sogar eine Chance, uns selbst und unsere Kinder auf eine neuartige und tiefere Weise zu sehen, zu fühlen und zu erkennen.

Denn die Liebe zu unseren Kindern kommt in der Qualität unserer Beziehung zu ihnen in jedem neuen Augenblick zum Ausdruck, und sie vertieft sich in alltäglichen Momenten, sofern wir uns dieser Momente bewusst und wir in ihnen voll und ganz präsent sind. Liebe kommt nicht nur in großen Gesten zum Ausdruck, beispielsweise darin, dass wir unseren Kindern eine Reise in einen Erlebnispark schenken, sondern sie zeigt sich unter anderem in der Art, wie wir ihnen das Brot reichen oder wie wir ihnen „Guten Morgen“ sagen. Sie äußert sich in alltäglicher Güte, in dem Verständnis, das wir ihnen entgegenbringen, und in einer generell akzeptierenden Haltung. Wir bringen Liebe zum Ausdruck, indem wir liebevoll handeln. Ob es uns in einem bestimmten Augenblick gut oder schlecht gehen mag, der wichtigste Maßstab für unsere Fürsorge und beharrliche Liebe zu unseren Kindern ist die Qualität unserer Aufmerksamkeit.


Dieses Buch wendet sich an Menschen, denen die Qualität des Familienlebens und das Wohl ihrer Kinder wichtig ist – der schon geborenen und der noch ungeborenen, der jungen wie der älteren. Wir hoffen, dass es Eltern in ihrem Bemühen unterstützt, ihre Liebe durch ihr Sein und Handeln im Alltag zum Ausdruck zu bringen. Das ist uns nur möglich, wenn es uns gelingt, in unserem eigenen Leben authentisch zu sein und wenn wir mit dem ganzen Spektrum unserer Gefühle in Kontakt sind – kurz gesagt: wenn wir wach sind.

In der Art, wie wir unsere Aufgabe als Eltern erfüllen, kommen unsere besten und übelsten Seiten zum Vorschein, und wir erleben in dieser Rolle sowohl die befriedigendsten als auch die erschreckendsten Momente unseres Lebens. Einfühlsam über das Leben von Eltern zu schreiben ist eine ungeheuer anspruchsvolle Aufgabe. Zeitweise haben wir das Gefühl, dass in unserer Familie alles zum Besten steht. Unsere Kinder wirken in solchen Momenten glücklich, stark und ausgeglichen. Am nächsten Tag jedoch – oder schon im nächsten Augenblick! – kann die Hölle losbrechen. Plötzlich wird unsere Welt beherrscht von Konfusion, Verzweiflung, Wut und Frustration. Was eben noch zu gelten schien, erweist sich nun als völlig unzutreffend und nützt uns nichts mehr. Alle Regeln scheinen über Nacht oder in einem einzigen Augenblick ungültig geworden zu sein. Wir wissen nicht mehr, was vor sich geht und warum bestimmte Dinge geschehen. Wir fühlen uns wie die erbärmlichsten Versager.

Doch selbst in solchen Augenblicken können wir versuchen, uns dessen bewusst zu bleiben, was geschieht, ganz gleich, wie unangenehm und schmerzhaft es auch sein mag. So schwer es uns auch fallen mag, wir versuchen anzunehmen, was geschieht und selbst in solch schwierigen Augenblicken herauszufinden, was die Situation von uns fordert. Die Alternative wäre, dass wir uns in unseren impulsiven und automatischen Verhaltensweisen verfangen und unserer Angst oder Wut oder Abwehr unser Mitgefühl und unsere Klarheit opfern. Und da auch dies zuweilen unvermeidlich ist, können wir in solchen Fällen das Geschehene später, in einem ruhigeren Zustand, noch einmal untersuchen, um vielleicht zumindest nachträglich etwas daraus zu lernen.

Dieses Buch ist aus unserer eigenen Erfahrung als Eltern entstanden. Sicherlich unterscheidet sich diese in vielerlei Hinsicht von dem, was Sie als Mütter oder Väter erleben. Vielleicht unterscheiden sich einige der spezifischen Verhaltensweisen, für die wir uns entschieden haben, um unsere Aufgabe als Eltern zu erfüllen, sehr stark von dem, wie Sie erzogen wurden oder von Ihrer eigenen Art, mit Ihren Kindern umzugehen. Vielleicht werden Sie auf einiges von dem, was wir in diesem Buch vertreten, oder auf bestimmte Entscheidungen, die wir beschreiben, mit starken Gefühlen reagieren. Das ganze Thema, wie wir mit unseren Kindern umgehen, kann sehr tiefe Emotionen wecken, weil es immer wieder unser Selbstbild und die Art, wie wir das Leben sehen, berührt und in Frage stellt.

Es geht uns keineswegs darum, dass Sie alles genauso machen sollen, wie wir es gemacht haben, oder Ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass Sie andernfalls irgendetwas völlig falsch machen. Wie wir alle wissen, sind die Probleme, mit denen Eltern sich tagtäglich beschäftigen müssen, nicht leicht zu lösen, und es gibt auch keine allgemeingültigen Antworten und Lösungen. Ebenso wenig wollen wir den Eindruck vermitteln, dass Achtsamkeit die Antwort auf alle Probleme des Lebens oder auf alle Fragen ist, mit denen wir als Eltern konfrontiert werden. Wir wollen Ihnen lediglich eine andere Art, die Dinge zu sehen, nahe bringen; eine andere Art zu sein, die sich vielleicht auf viele unterschiedliche Weisen mit Ihrer persönlichen Art, Ihre Aufgabe als Mutter oder Vater zu erfüllen und Ihr Leben zu leben, vereinbaren lässt. Letztlich müssen wir alle ganz individuell entscheiden, was wir für unsere Kinder und für uns selbst für das Beste halten, und dabei sind unsere Kreativität und unsere Fähigkeit, wach und aufmerksam zu sein, unsere wichtigsten Stützen.

Wir möchten versuchen, Ihnen unsere Erfahrungen mit diesem Weg der „Achtsamkeit in der Familie“ zu vermitteln, weil wir hoffen, dass das transformierende Potenzial dieses Weges Ihren Werten und Intentionen entspricht und Ihnen bei der Erfüllung Ihrer Aufgabe von Nutzen sein wird.

Achtsamer Umgang mit Kindern beinhaltet letztlich die Möglichkeit, sie klarer zu sehen und unserem Herzen zuzuhören und zu vertrauen. Achtsamkeit gibt den täglichen Herausforderungen des Elterndaseins Struktur und Unterstützung. Sie kann uns auch helfen, für unsere Kinder zu Quellen bedingungsloser Liebe zu werden – Augenblick für Augenblick, Tag für Tag.