Buch lesen: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 7/I»

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© 1975/2013 Pabel-Moewig Verlag GmbH,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-195-0

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

1.

Philip Hasard Killigrew hörte das dumpfe Wummern und das plötzlich lauter werdende Heulen nur im Unterbewußtsein. Erst das Bersten von Holz riß ihn aus dem Schlaf. Und als sich eine Stenge wie ein riesiger Speer durch die niedrige Decke der Kapitänskammer bohrte und den Kartentisch wie ein Spielzeug beiseite fegte, schwang er sich aus der Koje und lief auf bloßen Füßen in den Gang hinaus, der aufs Quarterdeck der „Isabella von Kastilien“ führte.

Er duckte sich unwillkürlich, als wieder dieses helle Heulen in der Luft war, das einen neuen tödlichen Gruß aus heißem Eisen ankündigte. Er sah, wie auf der „Marygold“ der Besanmast barst und krachend aufs Achterdeck schlug.

Brüllende Stimmen auf dem Hauptdeck der „Isabella“ erinnerten Hasard daran, daß die drei Schiffe, die in der Mill Bay an der Pier lagen, um Proviant zu übernehmen, einem gnadenlosen Gegner hilflos ausgeliefert waren.

Von dem Feind war nichts weiter zu sehen als graue Pulverdampfwolken, die über den mächtigen Steinwällen von Fort Eastern King in den langsam aufhellenden Morgenhimmel stiegen.

Hasard brüllte seine ersten Befehle zu Ferris Tucker hinunter, der zum Fort hinüberstarrte und nicht zu begreifen schien, wie es dem Feind hatte gelingen können, unbemerkt so dicht unter Land zu segeln, ohne von den Soldaten auf den Forts und der Zitadelle gesehen zu werden.

Hasards Stimme riß den Schiffszimmermann aus seiner Erstarrung. Er begann die Männer, die verschlafen über Deck taumelten, in die Wanten zu jagen.

Der Seewolf preßte die Lippen zusammen. Er haßte es, von einem Feind überrascht zu werden. Er verfluchte die Besatzung der Forts und der Batterien auf der St.-Nicholas-Insel und auf Mount Edgcumbe. Die Kerle hatten gepennt! Nicht ein einziger Warnschuß war abgefeuert worden.

Hasard beobachtete den Flug einer Kugel, die hoch über der „Isabella“ hinwegtorkelte und irgendwo in der Stadt einschlug.

„Verdammt noch mal, Ferris!“ brüllte er. „Geht das nicht schneller?“

Er zitterte vor Wut. Die Ohnmacht, einem Feind wehrlos ausgeliefert zu sein, brachte sein Blut in Wallung. Die Adern an seinen Schläfen schwollen an. Seine stahlblauen Augen verfolgten die Männer, die auf den Rahen herumturnten und die Segel loswarfen, und er sah, daß sie alles gaben, was in ihnen steckte.

Es waren viel zu wenig Leute an Bord. Ben Brighton und die Hälfte der Mannschaft hatten Freiwache und waren seit dem gestrigen Abend in der Stadt.

„Deck!“

Hasard riß den Kopf hoch und blickte zu Stenmark hinauf, der in den Großmars geklettert war.

„Drei Kriegsgaleonen!“ schrie der Schwede. „Und da – zwei Karavellen in der Batten-Bucht!“

Der Schwede hatte nichts weiter gesagt, aber Hasard war klar, daß der Angreifer nur eine Flagge am Mast fahren konnte – die spanische. Es war in den letzten Jahren häufiger geschehen, daß spanische Kriegsgaleonen englische Häfen angegriffen hatten, aber noch niemals hatte es ein so kleiner Verband gewagt, in den Plymouth Sound einzulaufen, dessen Küsten von Kanalschlünden flankiert waren.

Endlich hörte Hasard die Detonationen der Vierundzwanzigpfünder von den Stonehouse Forts. Hoffentlich zielten die verschlafenen Kerle gut genug, um die Dons so lange aufzuhalten, bis Hasard seine Galeone aus der Mill Bay steuern konnte und gefechtsbereit war.

Hasard blickte zur „Marygold“ hinüber. Kapitän Drake war nicht an Bord, aber der Profos Carberry scheuchte seine Männer über die Decks. Hasard sah, daß sie an den Kanonen hantierten. Carberry hatte mit dem erfahrenen Blick des alten Seefuchses erkannt, daß es mit dem zerschossenen Besan sinnlos war, die „Marygold“ seeklar machen zu wollen. Alles, was er tun konnte, war, dem Feind die Zähne zu zeigen und zurückzuschießen.

Auf der „Santa Cruz“ schrie sich Kapitän Thomas die Kehle heiser. Er trieb seine Männer an, die in die Wanten kletterten, um die Segel zu setzen.

Hasard hielt den Atem an, als er die Kugel sah, die über Fort Eastern King heranfauchte. Ihre Bahn führte direkt auf die „Santa Cruz“ zu. Er wollte einen Warnschrei ausstoßen, doch es war bereits zu spät.

Zwei Männer, die auf der Großrah standen, rissen die Arme hoch, um das Gleichgewicht zu halten. Einer von ihnen konnte seinen Körper ausbalancieren. Er lief ein paar Schritte zur Nock hinaus und hechtete mit einem gewaltigen Satz ins Wasser, als sich der Großmast langsam zu neigen begann.

Der andere Mann, der sich auf der Steuerbordseite befand, hatte weniger Glück. Er konnte nicht springen, denn unter ihm befand sich das Kopfsteinpflaster des Kais. Verzweifelt versuchte er, sich am Oberliek des Großsegels festzuklammern. Er schrie, und Hasard vermeinte seine schreckgeweiteten Augen zu sehen.

Der Großmast der „Santa Cruz“ splitterte, als er auf das Schanzkleid der Galeone krachte. Die Großmarsstenge fegte wie eine überdimensionale Peitsche zwischen die am Kai gestapelten Kisten und Tonnen.

Der Schrei des Mannes auf der abknickenden Großrah verstummte abrupt. Ein armlanger Holzsplitter ragte aus seiner Brust. Seine Beine hatte der Großmast unter sich begraben. Seine Hände schlossen sich um den großen Splitter, sie färbten sich rot vom Blut, das aus der großen Wunde quoll. Ein Zittern ging durch seinen Körper. Hasard sah, wie der Kopf des Mannes zur Seite rollte.

Verbitterung stieg in Hasard auf. Der Zorn schwemmte alle Gedanken an den Mann, der eben gestorben war, hinweg. Sein Zorn galt nicht den Angreifern, die ihre Kanonen auf die Stadt und den Hafen von Plymouth abfeuerten. Er galt den schläfrigen Posten auf den Forts, die die in der Dunkelheit herangesegelten Spanier nicht rechtzeitig entdeckt hatten.

Der Seewolf wußte, daß es jetzt ganz allein an ihm hing, ob die Niederlage vernichtend werden würde oder noch in einen Sieg umgewandelt werden konnte.

Die „Marygold“ und die „Santa Cruz“ waren manövrierunfähig. Den Mannschaften der beiden Galeonen blieb nichts weiter übrig, als ihre Kanonen auf einen unsichtbaren Feind zu richten.

Ferris Tucker brauchte die Mannschaft der „Isabella“ nicht mehr anzufeuern. Inzwischen wußten alle, daß es auf Leben und Tod ging. Sie mußten schnell seeklar sein, sonst war es nur noch eine Frage der Zeit, wann auch sie von einer Kugel der Spanier getroffen wurden.

Matt Davies, der Mann, der statt der fehlenden Hand am rechten Arm eine Ledermanschette mit einem spitzgeschliffenen Haken trug, war auf die Pier gesprungen und warf die Vorleinen los.

Der Seewolf schrie ein paar Befehle zu den Männern hinunter, die die Segel trimmten. Sein Blick glitt hinüber zur „Marygold“. Carberry, der Profos, war an den Steuerbordwanten des Großmastes hinaufgeklettert.

„Was hast du vor, Hasard?“ schrie er. „Wir kommen hier nicht weg!“

„Aber ich!“ rief der Seewolf zurück. „Ich werde die Dons mit meinen Kugeln in Stücke sägen!“

„Verdammt, Junge!“ brüllte Carberry. „Und wir sitzen hier wie die Mäuse in der Falle! Kannst du nicht noch ein paar Kerle gebrauchen, die gern ein paar Dons zum Frühstück verspeisen?“

„Wenn ihr keine Angst vor ein bißchen Kanonendonner habt, dann seid ihr willkommen!“ rief Hasard grinsend. „Aber beeilt euch, sonst müßt ihr hinter uns herschwimmen!“

Philip Hasard Killigrew hatte keine Zeit mehr, sich um Carberry und seine Männer zu kümmern. Aus den Augenwinkeln sah er nur noch, wie sich der Profos über das Schanzkleid auf die Pier schwang, ein paar Befehle brüllte und dann auf die „Isabella“ zurannte.

Matt Davies war dabei, die Achterleinen loszuwerfen. Die beiden Focksegel und die beiden Großsegel standen bereits. Al Conroy und seine Crew zogen die Stückpforten hoch, und dann grollte Ferris Tuckers Baß über das Deck.

„An die Geschütze, Männer! Ich will verdammt sein, wenn ich euch nicht alle an die Bordwand nagele, wenn die Geschütze nicht innerhalb der nächsten Wende feuerbereit sind!“

Die Galeone neigte sich nach Backbord, als der ablandige Wind die Segel füllte. Carberry brüllte. Er hing an einem Bergholz an Steuerbord, und nur die zupackenden Hände von Al Conroy und Matt Davies bewahrten ihn davor, ein Bad zu nehmen. Die anderen Männer der „Marygold“ schafften es ohne Zwischenfall, die „Isabella“ zu entern.

Der Seewolf steuerte seine Galeone an den beiden havarierten Schiffen vorbei auf die Öffnung der Mill Bay zu, die hinaus in den Plymouth Sound führte.

Im Osten über der Zitadelle und dem Cattewatter ging blutrot die Sonne auf. In der Stadt zuckten Flammen hoch. Irgendwo in der Mill Bay Road brannte es.

Wenn es eine Gerechtigkeit gibt, dachte Hasard, dann ist es die „Bloody Mary“ des dicken Plymson, die dort in Flammen aufgeht.

Die Geschütze der Küstenforts donnerten jetzt unaufhörlich, doch sie konnten die Angreifer nicht entscheidend zurückschlagen. Immer noch heulten Kugeln über das Fort Eastern King hinweg und landeten berstend zwischen den dicht bebauten Straßen der Hafenstadt.

Der Seewolf biß die Zähne zusammen. Er war entschlossen, die Angreifer das Fürchten zu lehren. Sie sollten spüren, was es hieß, in die Höhle des Löwen zu segeln. Der Rachen würde zuschnappen, und die scharfen Zähne der „Isabella“ würden den Feind zermalmen.

Im Hafenviertel von Plymouth war die Hölle los. Schreiende Männer schleppten Wassereimer die Straße entlang, um die Flammen in einem Wohnhaus zu ersticken. Frauen kreischten und brachten ihre Kinder in Sicherheit. Eine Kugel der Spanier hatte das Dach eines Hauses zum Einsturz gebracht. Zerfetzte Balken lagen mitten auf der Straße. Der eiserne Wetterhahn eines Schornsteins hatte das Fensterkreuz der „Bloody Mary“ glatt durchschlagen und war mit den gebogenen Schwanzfedern im Holz der Theke steckengeblieben.

Das war vor einigen Minuten gewesen, und seitdem lag der dicke Nathaniel Plymson hinter seiner Theke auf dem schmutzigen Bretterboden und zitterte, daß seine rosigen Hamsterbacken und sein dreifaches Hängekinn in einem atemberaubenden Tempo wackelten. Seine flinken hellen Augen, die sonst die kleinste Kleinigkeit erfaßten, hatte er vorsichtshalber geschlossen. Wenn er den Weltuntergang schon miterleben mußte, so wollte er das grauenhafte Geschehen wenigstens nicht mit ansehen.

Nach den ersten berstenden Einschlägen der spanischen Eisenkugeln hatte sich die „Bloody Mary“ in Sekundenschnelle geleert. Nur zwei Gäste waren an ihrem Tisch sitzen geblieben, als hätten sie von dem Höllenspektakel nichts bemerkt.

„Einse lausige Kneipe in einer lausigen Gegend ist das hier“, sagte der eine von ihnen mit schwerer Zunge. „Erst der Höllenlärm da draußen auf der Straße, und jetzt ist auch noch der fette Plymson verschwunden.“ Er rülpste laut, hob den Zinnkrug hoch und schleuderte ihn hinter die Theke.

„He, Plymson, du fette Bisamratte!“ brüllte er. „Hast du nicht gehört? Unser Wein ist alle!“ Er drehte sich zu seinem Kumpan um, der mit glasigen Augen auf die mit Weinlachen übersäte Tischplatte starrte. „Du trinkst doch noch einen mit mir, Blacky, oder?“

Der bärenstarke schwarzhaarige Kerl öffnete den Mund, um zu antworten. Er brachte keinen Ton hervor.

„Du siehst aus wie ein Hering, den man an Land geworfen hat“, sagte Ben Brighton kichernd. „Und du bist auch einer, wenn du nicht einmal ein bißchen gepanschten Wein vertragen kannst. Ich hab gedacht, in könnte mit dir einen schönen Zug durch die Gemeinde ...“

Ben stockte. Sein Kopf hob sich schwerfällig. Er kniff die Augen ein paarmal zusammen, um den Nebel zu verscheuchen, der sich im Raum ausgebreitet hatte. Er hörte die helle Stimme eines Mädchens. Verdammt, wo kam bloß der Nebel her? Ben wischte sich über die Augen. Und dann sah er verschwommen, wie sich die mollige Rose an einen jungen Burschen klammerte.

„Du kannst mich jetzt nicht allein lassen, Dan!“ rief sie. „Ich habe Angst. Die nächste Kugel kann unser Haus treffen!“

„Verkriech dich bei Plymson hinter der Theke“, sagte Donegal Daniel O’Flynn wütend. Fast fünf Minuten waren bereits vergangen, seit die ersten Kugeln der Spanier in die Stadt geflogen waren. Er war sofort aus dem warmen Bett der weichen und liebebedürftigen Rose gesprungen, aber das verrückte Weib hatte sich an ihn gehängt und wollte ihn nicht gehen lassen.

Dan O’Flynn hatte sofort erfaßt, was der Angriff auf Plymouth zu bedeuten hatte. Er wußte, daß sein Platz jetzt auf der „Isabella“ war. Er riß sich endgültig von Rose los, deren Stimme in ein keifendes Gezeter überging.

„Ben! Blacky!“ schrie Dan. „Wir müssen zur Mill Bay! Hasard wartet bestimmt schon auf uns!“

Blacky saß plötzlich stocksteif auf seinem Stuhl.

„Bi – bist du verrückt?“ lallte er. „Wir haben Freiwache, und der Klabautermann soll mich mit seiner Gro – großmutter verkuppeln, wenn ich jetzt zu – zurück an Bord gehe!“

Ben Brighton grinste Dan an.

„Besorg uns noch eine Kanne Wein, Junge“, sagte er mit schwerer Zunge. „Und dann trink einen mit mir. Dieser besoffene Hering hier neben mir kann nichts mehr vertragen.“

Dan O’Flynn sah, daß die beiden im Augenblick nicht ansprechbar waren. Er mußte zu härteren Mitteln greifen, um ihnen klarzumachen, wie ernst die Situation war.

Er sah den verbeulten Ledereimer neben der Theke stehen, nahm ihn und tauchte ihn in die Zinkwanne, in der Plymson seine Weinkannen ausspülte.

Ben Brighton und Blacky ahnten nicht, was ihnen blühte. Sie grinsten das Bürschchen an, das da vor ihnen stand und sein grimmigstes Gesicht aufgesetzt hatte.

Dann platschte das Wasser in ihre Gesichter.

Fast zehn Sekunden sagte keiner von ihnen ein Wort. Sie hatten die Münder offenstehen und schnappten nach Luft. Blacky fing sich als erster, obwohl es ausgesehen hatte, als sei er schon hinüber. Aber seine fast schon krankhafte Abneigung gegen Wasser ließ ihn auf einen Schlag wieder nüchtern werden.

Ein Brüllen drang aus seiner Kehle. Mit einem Ruck erhob er sich und stieß den Holztisch um.

„Du kleiner Dreckskerl!“ schrie er wutentbrannt. „Das wirst du mir bü ...“

Dan hatte den Ledereimer bereits zum zweitenmal mit der rötlichen Jauche gefüllt, die nach abgestandenem Wein stank. Blacky hob die Hände und wollte dem Wasserstrahl ausweichen, aber seine Reaktion war viel zu langsam. Die volle Ladung klatschte in sein Gesicht. Er prustete wie ein Walroß. Seine mächtigen Pranken schossen nach vorn, doch Dan hatte sich bereits außer Reichweite gebracht.

Mit ein paar Schritten war das Bürschchen bei Ben Brighton, der immer noch wie ein begossener Hund auf seinem Stuhl hockte, und rüttelte ihn an der Schulter.

„Verdammt, Ben!“ rief er. „Die Spanier greifen Plymouth an! Begreifst du denn nicht? Sie werden unsere schöne ‚Isabella‘ in Klump schießen!“

Dan spürte eine Faust in seinem Nacken. Er wollte sich aus dem Griff winden, es gelang ihm nicht mehr. Was Blacky gepackt hatte, hielt er auch fest. Dan sah die andere Faust Blackys auf sich zusausen und schloß die Augen. Er hätte vor Wut zerplatzen können. Warum mußten sich diese verfluchten Kerle immer besinnungslos besaufen, wenn man sie mal an Land ließ?“

Er wartete auf den Schlag, doch der kam nicht.

Erstaunt öffnete er die Augen. Er sah die mächtige Faust Blackys dicht vor seiner Nase. Blacky hatte die Stirn in Falten gezogen. Er schien angestrengt nachzudenken.

„Was hast du gesagt?“ fragte er schließlich.

„Die Dons greifen unsere ‚Isabella‘ an!“ rief Dan hastig. „Der Seewolf braucht uns! Er kann doch nicht allein gegen die Tintenfischfresser kämpfen!“

Der harte Griff in Dans Nacken löste sich, und das Bürschchen fiel auf den harten Bretterboden. Blacky kümmerte sich nicht mehr um den fluchenden Jungen. Er packte Ben Brighton, um dessen Lippen bereits wieder ein seliges Grinsen spielte, am Kragen und riß ihn vom Stuhl hoch. Als Ben sich wehren wollte, mußte er eine saftige Ohrfeige von Blakky einstecken, die ihn wütend und ein bißchen nüchterner werden ließ.

Blacky zerrte ihn aus der „Bloody Mary“. Er achtete nicht auf das Gezeter von Nathaniel Plymson, dessen Glatzkopf hinter der Theke aufgetaucht war und der lauthals nach der ausstehenden Bezahlung schrie.

Fluchend rappelte sich Dan O’Flynn auf und folgte den beiden.

Alle Einwohner von Plymouth schienen sich zu dieser frühen Morgenstunde auf den Straßen um die Mill Bay aufzuhalten. Sie hatten das Feuer unter Kontrolle gebracht. Zwei blutende Männer wurden am Straßenrand von Frauen behandelt.

Das Donnern der Kanonen hatte sich verstärkt. Die Menschen blickten ängstlich zum Sound hinunter, um die Kugeln rechtzeitig erkennen zu können, die von den Spaniern in die Stadt geschossen wurden.

Ben Brighton war die feuchtkalte Morgenluft wie ein nasser Lappen ins Gesicht geschlagen. In seinem Kopf begann es sich zu drehen, doch er begriff auf einmal, was der Höllenlärm zu bedeuten hatte. Sein nächster Gedanke galt dem Schiff, auf dem jetzt sein Platz war.

Fast verwundert betrachtete er Blacky, der ihn immer noch stützte. Unwillig schüttelte er die Arme des bärenstarken Mannes ab.

„Los, zur ‚Isabella‘!“ Wir müssen an Bord!“ sagte er keuchend.

„Meinst du, ich bin auf dem Wege nach London, um mich bei Lissy über den Krach zu beschweren?“ fragte Blacky knurrend.

Ben gab keine Antwort. Er rannte los. Er erkannte neben sich Dan O’Flynn. Das erinnerte ihn an die kalte Dusche, die er in der „Bloody Mary“ hatte hinnehmen müssen, und er sagte sich, daß es bald mal an der Zeit war, dem Bürschchen beizubringen, wie sich ein junger Schnösel einem Bootsmann gegenüber zu benehmen hatte.

Sie wollten in die Hoe Road einbiegen, als Dan das Heulen der Kugel vernahm. Er riß Ben Brighton zurück und schrie Blacky etwas zu. Im selben Moment krachte es auch schon. Eine glühendheiße Kugel fraß sich durch die Mauer eines Hauses und brachte die ganze Wand zum Einsturz. Steine und Holzsplitter flogen durch die Luft. Männer schrien sich die Kehlen heiser. Dichter Qualm quoll aus den Trümmern, und Sekunden später schlugen die ersten Flammen aus dem Haus.

Blacky hatte den Einschlag der Kugel nicht bemerkt. Er war weitergelaufen und stand jetzt an der Ecke der Hoe Road.

Ben Brighton wischte sich das Blut aus den Augen, das aus einer Schramme auf der Stirn sickerte. Er fluchte unterdrückt. Er drehte sich nach Dan um, der sich gerade erhob und den Steinstaub aus den Haaren schüttelte.

Sie liefen weiter. Als sie Blacky mit hängenden Schultern an der Ecke der Hoe Road stehen sahen, wußten sie, daß sie zu spät gekommen waren.

Die „Isabella“ stand unter vollen Segeln und lief auf die schmale Einfahrt der Mill Bay zu.

Ben Brighton preßte die Zähne aufeinander. Er hatte Carberry erkannt, den Profos der „Marygold“. Der Mann nahm jetzt seinen Posten ein!

Dan O’Flynn starrte mit brennenden Augen der Galeone nach. Die Enttäuschung stand ihm im Gesicht geschrieben. Er verfluchte Plymson mit seiner „Bloody Mary“ und mit seiner molligen Kellnerin Rose, die es so gut verstand, einen Jungen wie Dan in die Geheimnisse der Liebe einzuweihen.

Dan hätte heulen können vor Wut Er holte mit dem rechten Fuß aus und trat Blacky mit voller Wucht in den Hintern.

Der große Mann wirbelte herum.

„He!“ schrie er. „Bist du übergeschnappt?“

„Warum besäufst du dich, du krummer Hund?“ rief Dan, und die Tränen stiegen ihm in die Augen. „Wenn du deinen Verstand beieinander gehabt hättest, wären wir jetzt auf der ‚Isabella‘!“

„Das mußt du gerade sagen, du kleiner Hurenbock!“ gab Blacky grollend zurück. „Wenn du nicht dein ungewaschenes Maul hältst, hau ich dich zusammen, daß du nie in deinem Leben wieder an ein Mädchen denken wirst!“

„Versuch’s doch, Walroß!“ schrie Dan.

Ben Brighton schob sich zwischen die beiden Kampfhähne.

„Hört auf!“ sagte er scharf. „Wir laufen zum Hoe Pier hinüber. Vielleicht erwischen wir dort ein Boot. Irgendwie müssen wir es schaffen, an Bord der ‚Isabella‘ zu gelangen.“

Der Streit war vergessen. Sie stürmten los. Immer wieder schwenkte ihr Blick hinüber zur Mill Bay, deren Wasser von der Morgensonne blutrot gefärbt war. Sie sahen, wie ihre Kameraden wie die Teufel arbeiteten, um die „Isabella“ gefechtsklar zu machen.

Ben Brighton stockte der Atem, als er zur Cattewater-Bucht hinüberblickte. Eine schnittige Karavelle schoß auf die Einfahrt der Mill Bay zu. Die Mündungen ihrer Kanonen ragten wie scharfe Zähne aus ihrer Bordwand. Die drei Lateinersegel blähten sich im Wind.

Nur wenige Augenblicke noch, dann befanden sich das schnelle spanische Schiff und die „Isabella“ auf gleicher Höhe, und dann kam es darauf an, welcher Schiffsführer am schnellsten reagierte.

Ben Brighton konnte nur hoffen, daß es der Seewolf war.

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Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
140 S. 1 Illustration
ISBN:
9783954391950
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Bookwire
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