Buch lesen: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 284»
Impressum
© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
ISBN: 978-3-95439-681-8
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
1.
Der Mann, der neben dem Kutscher auf dem ersten Frachtwagen saß, hatte ein südländisches Aussehen. Im Gegensatz zu dem bretonischen Kutscher mit seinem blonden Kraushaar und den blauen Augen sah er fast aus wie ein Nordafrikaner. Seine schwarzen Jettaugen versuchten, die Dunkelheit vor sich auf dem schmalen Waldweg auf größere Entfernung zu durchdringen, aber mehr als fünfzig Schritte weit konnte er nicht blicken.
Der bretonische Kutscher fluchte, wie seit Stunden, leise vor sich hin. Er hielt es für vollendeten Schwachsinn, bei Nacht über die unsicheren Straßen von Saint Brieuc zu fahren.
Wenn die Schnapphähne und Wegelagerer bisher nicht gewußt hatten, daß sich ein Überfall auf die drei Wagen lohnte, dann mußte ihnen die nächtliche Fahrt und die Tatsache, daß die Wagen auf kaum befahrenen Nebenstrecken nach Rennes gelenkt wurden, deutlich kundtun, daß hier etwas besonders Wertvolles transportiert wurde.
Der Bretone fuhr nicht zum erstenmal Waffen nach Rennes, wo sie den Männern Heinrich von Bourbons übergeben werden sollten, von dem es hieß, er werde der zukünftige König Frankreichs. Der Bretone mochte das zwar nicht glauben, denn Heinrich von Bourbon war Hugenotte, und Papst Clemens VIII. hatte einen Bann über ihn verhängt, aber er verstand auch nichts von der nohen Politik und wollte sich auch nicht einmischen in etwas, das ihm nöchstens ein Loch im Kopf, sonst aber nichts einbringen konnte.
Das rechte Vorderrad des Frachtwagens rumpelte durch ein Loch, daß der dunkelhäutige Beifahrer mit dem Kopf gegen den ersten Spriegel stieß, der den Fahrerbock überschirmte.
Der kleine Mann stieß einen Fluch aus, den der Bretone nicht verstand, und mit hartem Akzent fügte er böse hinzu: „Paß doch auf, du Tölpel!“
Der Bretone nahm die Zügel auf und brachte die sechs schweren Per@herons zum Stehen. Fast gelassen wandte er sich an den dunklen Mann neben sich.
„Hör mal zu, du lausiger Spanier“, sagte er in seiner schwerfälligen und gemächlichen Aussprache. „Erst schickst du uns mitten in der Nacht auf unbekannte Nebenstraßen, und dann hast du noch die Frechheit, mir vorzuwerfen, daß ich im Dunkeln ein Loch in der Straße übersehe. Hier, nimm die Zügel und sieh zu, wie du selbst nach Rennes gelangst. Ich hab die Schnauze voll von deinem Gemeckere.“
Von den beiden hinteren Wagen drangen leise Rufe zu ihm vor. Er kümmerte sich nicht darum. Ohne auf das plötzliche Gejammere des Spaniers zu hören, schwang er sich vom Bock des Wagens und ging an ihm vorbei zu den Männern, die hinter ihm hatten anhalten müssen. Er erklärte ihnen mit kurzen Worten, daß er keine Lust mehr habe, für ein paar Sous seinen Kopf hinzuhalten.
Die beiden anderen Kutscher hoben nur die Schultern. Sie brauchten das Geld, das sie mit der Fahrt verdienten, für ihre Familien.
Der Bretone verschwand in der Nacht.
Der Spanier tauchte bei ihnen auf.
„Wo ist der sture Kerl geblieben?“ fragte er.
Der Kutscher des zweiten Wagens zuckte mit den Schultern und wies mit dem Daumen hinter sich in die Nacht.
„Der ist weg“, sagte er. „Sie müssen den Wagen schon selber lenken.“
Wieder fluchte der Spanier.
„Wie weit ist es noch bis zur Mühle von Frigus?“ fragte er wütend.
„Etwa zwei Stunden, wenn wir das bisherige Tempo durchhalten.“
Der Spanier nickte.
„Ich werde den ersten Wagen fahren“, sagte er. „Paßt auf, die Straße ist voller Löcher. Die zwei Stunden müssen wir noch hinter uns bringen, dann werden wir von einem Trupp Soldaten begleitet.“
Der Kutscher nickte. Er wartete, bis der Spanier den ersten Wagen wieder in Bewegung gesetzt hatte, dann schwang er die Peitsche über die Rücken der Zugpferde und gab ihnen die Zügel frei.
Polternd setzten sich die drei Wagen wieder in Bewegung und übertönten alle anderen Nachtgeräusche des Waldes.
Zwei Stunden noch, dachte der Kutscher. Beljac ist ganz schön blöd, daß er auf seinen Lohn verzichtet, nur weil der Spanier ihn angemekkert hat.
Er hörte neben sich aus dem Wald scharrende Geräusche und dann ein helles, metallisches Klirren. Als er sich umdrehte, die dunklen Gestalten erkannte, die zwischen den Bäumen auf die Wagen zuhuschten, und einen Schrei ausstoßen wollte, traf ihn ein Pfeil im Hals und tötete ihn auf der Stelle. Mit einem Röcheln ließ er die Zügel fahren und kippte zur Seite. Reglos blieb er mit dem linken Arm am Bremshebel hängen.
Er hörte nicht mehr das Brüllen der Angreifer, die sich auf die Wagen stürzten und auch den Spanier und den Fahrer des letzten Wagens von den Böcken zerrten.
Der Spanier schrie wie am Spieß. Er löste bei den wüsten Gestalten, die ihn umringten, nur grölendes Gelächter aus. Zwei bärenstarke Halunken hatten ihn an den Armen gepackt.
Er hörte auf zu schreien und starrte auf die beiden Männer, die zum ersten Wagen traten und zuschauten, wie ein paar andere die Wagenplanen aufschlitzten. Behende wie Affen kletterten sie hinauf, rissen die Kisten und Säkke auf und schwenkten triumphierend Musketen, Pistolen und Säbel über den Köpfen.
Der Spanier hatte einen der beiden Männer erkannt. Er preßte die Lippen aufeinander, daß sie nur noch schmale Striche waren. Seine schwarzen Augen sogen sich an dem länglichen Gesicht mit dem schmalen Oberlippenbärtchen fest. Die Augen wurden von der breiten Krempe eines dunkelroten Hutes beschattet, nur ab und zu erhellten die zuckenden Flammen der Fackeln, die von den Wegelagerern entzündet worden waren, sein Gesicht bis zur Stirn hinauf.
Das war Gustave Le Testu.
Der Spanier sprach den Namen lautlos aus wie einen bösen Fluch. Er hatte gewußt, daß sich der gottlose Hugenotte in dieser Gegend herumtrieb, deshalb hatte er ja auch Begleitschutz angefordert.
Aber der Schnapphahn mußte eine goldene Nase haben. Nur ein paar Meilen weiter wäre er den Soldaten Heinrich von Bourbons in die Hände gefallen, und dann wäre es ein für allemal um ihn geschehen gewesen.
Der Haß auf den Hugenottenteufel fraß den Spanier fast auf. Er sah, wie die Kerle den toten Kutscher vom Bock des zweiten Wagens zerrten und ihn in den Wald schleiften. Den Mann vom dritten Wagen hatten sie gepackt, und obwohl er um Gnade flehte, wurde er eiskalt mit einem Messer umgebracht.
Der Spanier tat, als verließen ihn die Kräfte. Seine Muskeln erschlafften. Er wehrte sich nicht mehr gegen die harten Griffe der beiden Kerle, die ihn in der Zange hatten. Unter halb geschlossenen Lidern hervor sah er, wie der hochgewachsene, schwarzhaarige Mann neben Le Testu auf ihn aufmerksam wurde. Gleichzeitig spürte er, wie sich die Griffe an seinen Armen lockerten.
Er dachte an das Messer, das in seinem Stiefelschaft steckte, aber noch konnte er sich nicht befreien. Er mußte den Ohnmächtigen, der sich selbst aufgegeben hat, weiterspielen, wenn er noch eine Chance haben wollte.
Der Schwarzhaarige trat näher auf ihn zu.
„Wen habt ihr denn da?“ fragte er die beiden Kerle, die den Spanier gepackt hatten.
„Er hat den ersten Wagen gelenkt“, erwiderte der eine der bärenstarken Burschen.
Der Schwarzhaarige grinste wie der Teufel persönlich.
„Der sieht mir nicht wie ein Franzose aus“, sagte er. Mit einer herrischen Handbewegung befahl er den beiden, den Mann loszulassen.
Sie gehorchten und traten einen Schritt zurück.
Auf diesen Augenblick hatte der Spanier gewartet.
Seine Hand zuckte hinunter zum Stiefel, und nur Sekundenbruchteile später glitzerte die schmale, lange Klinge im Licht der blakenden Fakkeln.
Der Schwarzhaarige sprang zurück, und die kreisende Klinge verfehlte ihn knapp. Ehe die beiden Kerle, die seitlich hinter dem Spanier standen, wieder zupacken konnten, hatte der Spanier einem von ihnen das lange Messer in die Seite gestoßen. Der Mann klappte zusammen, als hätte ihn ein Pferd getreten.
Der andere begann zu brüllen. Mit einem mächtigen Satz versuchte er, sich aus der Reichweite der langen Klinge zu bringen, aber er schaffte es nicht ganz. Die Spitze erwischte sein Hemd an der Brust. Er schrie auf und starrte an sich hinunter. Ein blutiger Streifen zog sich quer über seine Brust.
Der Spanier nutzte die Verwirrung. Er warf sich herum, duckte sich und hetzte ein Stück den dunklen Weg entlang, den sie zur Mühle von Frigus hatten fahren wollen. Dann verschwand er seitlich zwischen den Bäumen.
In seinen Ohren dröhnte es vom Geschrei der Männer. Ein fürchterliches Krachen ließ ihn zusammenzucken. Hinter ihm wurde die Nacht von einem Blitz erhellt, und dann schlug ein Stück Blei dicht neben ihm im Stamm einer Eiche ein.
Panik ergriff ihn. Wie ein Wilder bahnte er sich einen Weg durch das Unterholz, stolperte, fiel der Länge zach hin, rappelte sich wieder hoch and hetzte weiter.
Er wußte, daß es um mehr als sein Leben ging. Er mußte die Soldaten m der Mühle von Frigus erreichen, sie warnen und auf Gustave Le Testu hetzen, der einer der ärgsten Feinde Heinrichs von Bourbon war.
Erst nachdem er mehrere hundert Schritte weit in den Wald gelaufen war, wagte er, stehenzubleiben und zu lauschen. Noch immer waren aus weiter Entfernung die Geräusche der Männer bei den Wagen zu vernehmen. Aber noch deutlicher hörte er das Rascheln von Sträuchern und das leise Brechen von Zweigen.
Sie hatten jemanden hinter ihm hergeschickt, um ihn zu töten!
Die Brust des Spaniers hob und senkte sich unter heftigen Atemzügen. Das Stechen in seinen Lungen hatte sich bis zur Unerträglichkeit gesteigert. Er wußte, daß er nicht mehr lange würde laufen können. Er konnte die Mühle von Frigus nur erreichen, wenn er die Verfolger ausschaltete und langsam seinen Weg fortsetzte.
Er verfluchte die Tatsache, daß er seine Pistolen nicht bei sich trug. Als er die Zügel des Gespanns übernommen hatte, waren sie ihm hinderlich gewesen, und er hatte sie hinter sich auf die Bank gelegt. Der Überfall der Schnapphähne war zu schnell erfolgt, als daß er Zeit dazu gehabt hätte, danach zu greifen. Vielleicht war gerade das sein Glück gewesen. Auch wenn er einen oder zwei von ihnen getötet hätte, wäre er selbst wahrscheinlich auch längst tot gewesen.
Sein Atem beruhigte sich nur langsam. Er starrte auf das lange Messer in seiner rechten Hand. Es mußte genügen, um mit den Verfolgern fertig zu werden.
Fackelschein zuckte in fünfzig Schritten Entfernung durch den Wald. Er hörte die Stimmen der drei Männer, die sich keine Mühe gaben, leise zu sein.
Auf einmal blieben sie stehen und lauschten.
Der Spanier hörte, wie einer von ihnen sagte: „Der Bursche muß sich irgendwo in der Nähe versteckt haben. Er kann nicht so weit weg sein, daß wir ihn nicht mehr hören.“
„Seid vorsichtig!“ warnte ein anderer. „Er hat Sorlin mit einem Stich getötet und Marbiche die Brust aufgeschlitzt!“
Sie begannen zu flüstern, und mit weit vorgereckten Fackeln setzten sie ihren Weg langsamer fort. Sie hatten sich verteilt und blieben hin und wieder stehen, um zu lauschen.
Der Spanier wagte nicht, sich zu rühren. Er kauerte sich hinter einem dichten Gebüsch nieder. An den Lichtpunkten der Fackeln erkannte er, wie dicht die drei Männer bereits waren.
Sie bewegten sich zum Glück nicht genau auf ihn zu. Vielleicht übersahen sie ihn, und er konnte eine andere Richtung einschlagen, wenn sie an ihm vorbei waren.
Im nächsten Augenblick erkannte er, daß seine Hoffnung vergebens war. Der Straßenräuber, der den linken Flügel bildete, würde dicht an seinem Versteck vorbeigehen. Im Licht seiner Fackel mußte er den dunkel gekleideten Mann erkennen.
Der Spanier begann zu zittern. Er wußte, daß seine Chancen, einen Kampf mit den drei Wegelagerern, für die das Morden ein alltägliches Geschäft war, zu überleben, äußerst klein waren. Dennoch war er bereit, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen.
Der Mann war schon fast an ihm vorbei, als er den dunklen Schatten hinter dem Gebüsch erkannte. Er schlug mit der Fackel, die er in der linken Hand hielt, blitzschnell zu, aber der Spanier hatte bereits reagiert. Sein Messer drang in den Körper des Wegelagerers ein.
Der Mann brüllte seinen Schmerz hinaus. Er ließ Fackel und die Pistole, die er in der rechten Hand gehalten hatte, fallen und preßte beide Hände auf die tödliche Wunde, die ihm der Spanier beigebracht hatte.
Der Spanier griff hastig nach der Pistole. Bevor der zweite Mann, der auf ihn zustürzte, die Gefahr erkannte, krachte die Waffe in der Hand des Spaniers, und das Blei schleuderte den Wegelagerer zur Seite.
Die Fackel beschrieb einen zischenden grellen Kreis, dann fiel sie zur Erde, und kleine Flammen leckten an einem Busch hoch. Sie erloschen jedoch bald, da das Laub von dem vorhergegangenen Regen noch ziemlich feucht war.
Der dritte Straßenräuber war stehengeblieben und starrte dorthin, wo die beiden Fackeln seiner Kumpane langsam erloschen. Er konnte sich nicht erklären, was vorgefallen war, da er zu weit von den anderen entfernt gestanden hatte.
„Briand!“ rief er. „Hast du den Burschen erwischt?“
Der Spanier kroch hastig auf den Wegelagerer zu, den er niedergeschossen hatte. Hoffentlich hatte der Kerl ebenfalls eine Pistole bei sich. Er hörte die Stimme des dritten, und aus seinen Worten entnahm er, daß er nicht wußte, daß er den Schuß abgegeben hatte. Offensichtlich hatte er nicht mitgekriegt, daß er dem ersten Mann die Waffe hatte abnehmen können.
Er erreichte den zweiten Kerl und sah sofort, daß die Kugel tödlich getroffen hatte. Der Mann hatte beide Arme weit von sich gestreckt. In den letzten zukkenden Flammen seiner Fackel sah der Spanier die leblosen Augen des Straßenräubers.
Und er sah die Pistole, die der Mann immer noch in der Hand hielt.
Er kroch auf ihn zu und faßte nach der Waffe. Er zerrte an der Hand des Toten, aber der gab die Pistole nicht frei. Keuchend bog der Spanier die Finger auf. Entsetzen breitete sich in ihm aus, als die Geräusche des dritten Mannes, der durch die Büsche brach, immer lauter wurden.
Dann hatte er es endlich geschafft. Er warf sich herum, sah den langen, grellen Blitz, der auf ihn zuraste, hörte das Krachen und spürte, wie ihm Dreck gegen die linke Gesichtshälfte gespritzt wurde. Instinktiv richtete er die Pistole des Toten auf den riesigen Schatten, der vor ihm auftauchte. Mit dem Daumen zog er während der Bewegung den Hahn zurück.
Innerhalb von Sekundenbruchteilen schossen ihm die verschiedensten Gedanken durch den Kopf. Was war, wenn das Pulver nicht trocken war? Hatte der Mann die Pistole überhaupt schußfertig gehabt? Aber sonst hätte er sie doch nicht in der Hand gehalten!
In seine Gedanken hinein krachte der Schuß. Seine Hand wurde vom Rückstoß geprellt, und der Schmerz zuckte bis in sein Schultergelenk.
Im Schein der Fackel, die der Mann in der erhobenen Linken hielt, sah er, wie sich die Augen des Mannes weiteten. Auf seinem derben Leinenhemd bildete sich schnell ein dunkler Fleck. Er wankte, aber er fiel nicht. Die Finger seiner rechten Hand öffneten sich. Die abgeschossene Pistole fiel zu Boden.
Die Augen des Spaniers füllten sich mit Angst, als die rechte Hand des Mannes zu der zweiten Pistole griff, die er im Gürtel stecken hatte. Wie gebannt starrte er auf die langsame, fast bedächtig wirkende Bewegung. Er wollte nach seinem Messer greifen, doch zu seinem Entsetzen dachte er daran, daß das Messer bei dem ersten Straßenräuber, dem er die Pistole abgenommen hatte, liegengeblieben war.
Die Hand des Wegelagerers schloß sich um den Knauf der Pistole und zerrte sie hervor. Der Lauf schwenkte auf den Spanier zu, und dann wies die daumengroße Mündung genau auf seinen Kopf.
Schweiß lief dem Spanier durch die Augenbrauen in die Augen. Es brannte, aber er konnte den Blick nicht von dem Riesen wenden, der ihn töten wollte. Er sah, wie sich dessen Finger am Abzug krümmte, und erwartete die Mündungsflamme.
Aber nichts geschah. Dann erkannte er, daß der Mann den Hahn nicht gespannt hatte. Mit einem Schrei wollte er aufspringen, doch in diesem Moment begann die schwere Gestalt vor ihm zu schwanken. Ohne die Fackel oder die Pistole loszulassen, krachte der Mann der Länge nach ins Gebüsch.
Erstarrt verharrte der Spanier fast eine Minute lang. Er konnte nicht begreifen, daß es ihm gelungen war, seine drei Gegner zu überwältigen. Dann blickte er sich gehetzt um. Doch nirgends war etwas zu sehen. Als er angestrengt lauschte, vernahm er nicht das geringste Geräusch. Der in seiner Ruhe gestörte nächtliche Wald hüllte sich in Schweigen. Nicht einmal die Bäume schienen sich im stärker werdenden Wind zu bewegen.
Der Spanier warf sich herum und begann zu laufen. Er schlug die Richtung zur Straße ein, die zur Mühle von Frigus führte. Ein Glücksgefühl stieg in ihm auf.
Er hatte überlebt! Er konnte die Soldaten warnen, und dann würde eine Jagd auf die Schnapphähne beginnen, daß ihnen Hören und Sehen verging. Er lachte laut auf.
In diesem Moment traf es ihn wie ein Hufschlag in der rechten Schulter. Im Unterbewußtsein hörte er das Krachen einer Pistole, und als er nach vorn aufs Gesicht fiel, dachte er voller Panik: Ich habe ihm die Pistole nicht abgenommen!
Schmerzen rasten durch seinen Körper und schienen ihn zu verbrennen. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, daß die Kugel ihn nicht getötet hatte. Mit dem linken Arm stemmte er sich vom weichen Waldboden hoch und schaffte es, auf die Knie zu gelangen.
Er blickte sich um. Die Fackel des Mannes, der ihm die Kugel in die Schulter gejagt hatte, verlöschte gerade zuckend. Von dem Mann war nichts mehr zu sehen. Dunkelheit herrschte zwischen den Stämmen der Bäume.
Es dauerte eine Weile, bis er sich am Stamm einer Fichte hochgezogen hatte. Der Schmerz in der rechten Schulter brachte ihn fast um. Er spürte ihn bis hinunter ins Bein, Wellen von Übelkeit überschwemmten sein Bewußtsein.
Er wußte nicht, wie es ihm gelungen war, bis auf die Straße zu gelangen. Jetzt fanden seine Füße sichereren Halt, und er taumelte vorwärts.
Es schien ihm, als sei er stundenlang gelaufen, als er endlich ein Licht durch die Bäume schimmern sah. Er hörte das Klirren von Zaumzeug. Stimmen wehten ihm entgegen.
Er versuchte, seinen Schritt zu beschleunigen, aber er merkte, daß seine Füße ihm nicht mehr gehorchen wollten. Er geriet ins Straucheln und stürzte. Mühsam hob er den Kopf und spuckte Sand aus. Er wollte schreien. Mehr als ein leises Krächzen brachte er nicht zustande.
Nein, dachte er. Nicht so kurz vor dem Ziel! Ich muß es schaffen! Jetzt darf ich nicht aufgeben!
Er spürte, wie das Blut aus der Schulterwunde wieder zu rinnen begann, und er wußte, daß immer mehr Leben aus ihm wich. Mit zusammengepreßten Zähnen schaffte er es, sich wieder auf die Beine zu stellen. Es dauerte eine Weile, bis er wieder gehen konnte. Vorsichtig setzte er Fuß vor Fuß. Er wußte, daß ihn Eile nur dem Tod näherbringen würde.
Dann hatten ihn die Soldaten entdeckt. Uniformierte Männer mit Waffen in den Händen eilten ihm entgegen, und als sie sahen, wie schwer er verwundet war, trugen sie ihn bis vor die Mühle, wo ein Offizier stand und ihn anblickte, als sei er der Hölle entsprungen.
„Die Waffen …“ stieß er heiser hervor. „Le Testu – er hat die Wagen …“
Der Offizier war mit zwei Schritten bei ihm.
„Wo?“ fragte er knapp.
„Fast zwei Stunden von hier …“ Die Stimme des Spaniers verwehte. Sein Kopf sackte zusammen, und die beiden Soldaten, die bemerkten, daß sie einen Toten in den Armen hielten, ließen ihn sanft zu Boden gleiten.
„Auf die Pferde!“ erklang die schneidende Stimme des Offiziers. Er wandte sich an den beleibten Mann, der in der Tür der Mühle stand. „Sie kümmern sich um den Toten, Mann!“
Dann schwang er sich in den Sattel des Schweißfuchses, den einer der Soldaten herangebracht hatte, stieß den rechten Arm mit dem Säbel in die Luft und preschte los.
Mit lautem Klirren und dem Schlagen von Hufen folgten ihm die zwei Dutzend Soldaten, die den Wagenzug von der Mühle von Frigus aus bis nach Rennes hatten eskortieren sollen.
Der kostenlose Auszug ist beendet.