DIE SIDHE

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Kapitel 2
Gortnasheen


»Wir sind die Sídhe.«

Damit Sie verstehen, was als Nächstes geschah, was ich sah und empfand, muss ich mir einen Moment Zeit nehmen und Ihnen erklären, was ich an einem solchen Ort vorzufinden erwartete.

In weiten Teilen Westeuropas gibt es zahlreiche Megalith-Bauwerke. Errichtet wurden sie in der Steinzeit und bis hinein in die Eisenzeit, also etwa von 4500 bis 1500 v. Chr. Dazu gehören die großen Steinkreise wie Avebury und Stonehenge in Berkshire, Brodgar auf den Orkneys und Callanish auf den Hebriden. Hinzu kommen die großen Hügelfiguren wie der Lange Mann von Wilmington in Sussex und das Weiße Pferd, das in die Kreidelandschaft der Marlborough Downs eingraviert wurde. Auch gibt es zahllose Grabstätten, von denen viele aus der Frühzeit stammen und in späteren Zeitaltern erneut genutzt wurden – manche für Beisetzungen, andere für rituelle Zwecke. Stätten wie Wayland’s Smithy in Wiltshire oder das zurecht berühmte Newgrange in Irland sind, trotz der dort durchgeführten intensiven Ausgrabungen und der zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, noch immer von Geheimnissen umgeben, und vielleicht wird das auch ewig so bleiben.

Viele dieser Stätten sind stumme Zeugen erstaunlicher Ingenieurleistungen. Gewaltige Steinblöcke wurden bewegt und mit äußerster Genauigkeit aufgestellt. Ihre schiere Größe und Massivität kündet von einer Mentalität der Erbauer, die etwas Einschüchterndes, Beängstigendes hat. Und natürlich gibt es eine der mysteriösen Natur der Monumente adäquate Vielzahl an Theorien über ihren Gebrauch und Zweck. Von Landemarkierungen für außerirdische Raumschiffe zu komplexen astronomischen Observatorien wurden in den letzten Jahren alle möglichen Erklärungen präsentiert. Manche dieser Ideen wurden von akademischen Forschern anerkannt, die meisten jedoch nicht. Tatsächlich wissen wir über die wahre Verwendung dieser gewaltigen Baudenkmäler so wenig wie über Sinn und Zweck jenes prozentual sehr großen Teiles unserer Gehirnmasse, den wir nie zu benutzen scheinen.

Diesen Hintergrund hatte ich im Kopf, als ich das Monument von Gortnasheen betrat. Keith hätte es vermutlich als »Ganggrab« bezeichnet, und wir beide hätten Hunderte solcher Grabstätten auflisten können, die verstreut über Irland und Schottland anzutreffen waren. Manche hatte man in völlig intaktem Zustand entdeckt – sie enthielten noch die dort bestatteten Toten, zusammen mit oft kunstvollen Grabbeigaben. Andere – die geheimnisvollsten – waren auf den Innenwänden mit kunstvollen Ritzbildern ausgestattet: Spiralmuster, Zickzackformen, Dreiecke und Kreise von bislang ungeklärter Bedeutung. Dass sie aber für die Menschen, die sie anfertigten, sehr wichtig gewesen sein mussten, galt weithin als unumstritten.

Das vermittelt Ihnen eine Vorstellung, was ich erwartete: eine steinerne Kammer von vielleicht ein Meter achtzig bis zwei Meter vierzig Länge und sechzig bis neunzig Zentimetern Breite, vielleicht ein oder zwei Ritzbilder, und (je nachdem, wie weit Keith mit seiner Arbeit war) ein paar verstreut herumliegende Knochen.

Ich schob mich also durch den engen Gang, halb kriechend, halb gebückt, bis der Boden sich abwärts neigte. Gleichzeitig öffnete sich die Decke steil nach oben, so weit, dass ich mich aufrichten konnte. Ich schwenkte den Lichtkegel der Taschenlampe und erlebte meine erste Überraschung des Tages.


Die Kammer musste ungefähr drei Meter lang sein und mindestens zwei Meter hoch. Durch den abfallenden Boden befand sie sich mindestens zur Hälfte unter der Erdoberfläche. Ich ließ den Lichtkegel wandern und erlebte meine zweite Überraschung – sie war so groß, dass ich laut aufstöhnte.

Wie schon erwähnt, finden sich auf den Wänden dieser Bauwerke oft Ritzbilder, aber normalerweise nur wenige Dutzend. Hier waren die Wände, wohin man schaute, mit Ritzzeichnungen bedeckt – ein scheinbares Gewirr von Spiralen, Zickzackmustern und ineinander verwobenen Formen, manche miteinander verknüpft, andere freistehend.

Ich muss gestehen, dass meine Knie in diesem Moment nicht wenig zu zittern anfingen. Schneller als beabsichtigt, setzte ich mich auf den Boden aus festgestampfter Erde. Von dort sah ich, dass die Ritzbilder sich bis an die Decke fortsetzten, die als Kraggewölbe ausgeführt war, so gekonnt wie die beste Kirchenarchitektur, aber mehrere Jahrtausende älter.

Dann fiel mein Blick auf eine einzelne Glyphe, größer als die anderen Motive. Sie dominierte die Ostwand der Kammer. Für einen Moment glaubte ich, sie würde aus sich heraus leuchten, bis ich entdeckte, dass sie von Kristallen gesäumt war, die den Lichtschein der Lampe reflektierten. (Eine spätere genauere Untersuchung zeigte, dass Hunderte winziger Kristalle auf dem Stein angebracht worden waren, um die Bedeutung der großen Glyphe zu betonen.)

Als ich auf das Ritzbild starrte, überkam mich wieder dieses kribbelnde Gefühl – stärker als je zuvor. Für einen Moment flimmerte es mir vor den Augen, so dass die in den Stein eingravierte Glyphe zitterte. Dann klärte sich mein Blick wieder. Ich saß immer noch auf dem Boden der Kammer, und meine Uhr zeigte an, dass nur wenige Sekunden vergangen waren – doch es fühlte sich an, als wäre ich für eine viel längere Zeit an einem anderen Ort gewesen. Was dieser »andere Ort« war, vermochte ich nicht zu sagen, aber das Gefühl war trotzdem da.

Langsam stand ich auf, um mir die große Glyphe aus der Nähe anzusehen. Ich strich mit den Fingern darüber wie jemand, der Blindenschrift liest. Es war keine besonders komplexe Form: eine Spirale mit fünf Windungen, bei der eine senkrechte Linie ausgehend vom oberen Ende durch das Zentrum nach unten verlief. Dieses Muster kam mir irgendwie bekannt vor. Später fand ich heraus, dass in mehreren prähistorischen Stätten in Irland, England und (sonderbarerweise) den Vereinigten Staaten dieses Spiralmuster entdeckt worden war.

Ich stand noch einen Moment da, versuchte meine durcheinander gewirbelten Gedanken zu ordnen und mir darüber klarzuwerden, welcher Natur dieses sonderbare Erlebnis wenige Momente zuvor wohl gewesen war. Doch so sehr ich mich auch bemühte, es wollte mir nicht gelingen, mich wieder in dieses Gefühl hineinzuversetzen. Außerdem war mir bewusst, dass Keith draußen darauf wartete, dass ich ihm meine Eindrücke schilderte.

Etwas widerstrebend ging ich in die Hocke und kroch durch den engen Gang zurück.


Das Tageslicht blendete mich, trotz der dichten Wolkendecke. Keith erwartete mich sichtlich ungeduldig, sein Gesicht ein Fragezeichen.

»Du hast recht«, sagte ich. »Es ist erstaunlich, sogar einzigartig. Seit Jahren habe ich nichts so Großartiges gesehen.«

Sein Gesicht hellte sich auf, und er fing an zu reden, schneller als ich es je bei ihm erlebt hatte. Ich erinnere mich nicht genau, was er alles sagte – Einzelheiten darüber, wie ein örtlicher Anwohner das Monument entdeckte hatte, seine eigene Aufregung, als sie den Eingang freilegten, und er zum ersten Mal in die Kammer kroch und den Reichtum an Ritzzeichnungen entdeckte. Dann sagte er, ich müsse mir unbedingt die Pläne anschauen, die er bereits von dem Bauwerk angefertigt hatte.

Wir gingen zu seinem Wagen und fuhren die paar Kilometer zurück nach Dungarrow. Ich glaube, ich schwieg auf dem Rückweg fast die ganze Zeit. Was ich gesehen hatte, ging mir nicht mehr aus dem Kopf, vor allem die große Spiralzeichnung, die mich angefunkelt hatte, als würde ein eigenes Feuer in ihr leuchten.

Ich erinnere mich, dass ich mir Keith’ detailreiche Zeichnungen anschaute, dabei voll des zu erwartenden höflichen Lobes war und ihm alle richtigen Fragen stellte. Doch in Wahrheit wollte ich am liebsten allein sein, um ungestört über das nachzudenken, was ich gesehen hatte. Schließlich entschuldigte ich mich damit, dass ich mir Notizen für den Artikel machen wollte, den zu schreiben ja der Grund für meine Einladung gewesen war.

Als ich mich nach oben auf mein Zimmer zurückgezogen hatte, schloss mit einem erleichterten Seufzen die Tür hinter mir.


Ich nahm meinen Laptop und setzte mich an den ziemlich wackligen Tisch vor dem Fenster. Aber obwohl ich dort sicherlich eine Stunde oder länger saß, während sich draußen die Abenddämmerung herabsenkte, schrieb ich nicht mehr als zwei oder drei Sätze. Ich war mit den Gedanken woanders, rief mir alles ins Gedächtnis, was ich je über solche uralten Stätten gelesen hatte, und vor allem über die Glyphen, von denen diese eine, besonders große, einen so tiefen Eindruck bei mir hinterlassen hatte.

Schließlich ging ich zu Bett, konnte aber nicht einschlafen. Ich lag ewig, wie mir schien, in der Dunkelheit und starrte an die Decke. Schließlich dämmerte ich doch weg, und hatte kurze Zeit später den machtvollsten und verstörendsten Traum meines Lebens.

Wenn ich jetzt darüber schreibe, erscheint er mir bizarr, und es würde mich nicht überraschen, wenn die meisten Leute, die diesen Bericht lesen, den Autor für verrückt erklärten. Und doch ist dieser Traum, so seltsam er war, noch gar nichts im Vergleich zu dem, was mich danach erwartete.

Ich träumte, ich befände mich wieder in der Kammer des Grabhügels von Gortnasheen, die nun offenbar von flackerndem Kerzenlicht erleuchtet war. Ich stand vor der Glyphe, die wie von innen leuchtete, und war unfähig, den Blick von dem Spiralmuster zu lösen. Dann wurde ich mir allmählich einer Person bewusst, die seitlich davon stand.

 

Zuerst nahm ich sie nur verschwommen und schemenhaft war, doch nach und nach wurde der Anblick klarer und konturierter – ein hochgewachsener Mann in archaischer, brauner und grüner Kleidung. Er hatte langes Haar, das locker von einem silbernen Diadem zusammengehalten wurde. Seine Gesichtszüge waren fein und anmutig. Sie hätten feminin gewirkt, wären da nicht das ausgeprägte Kinn und die intensiven schwarzen Augen gewesen, deren Blick unter hohen Brauen mich fixierte. Es war das in jeder Hinsicht schönste Gesicht, das ich je gesehen hatte.

»Wer bist du?«, hörte ich mich fragen.

»Mein Name tut nichts zur Sache«, antwortete er. »Ich komme als Vertreter meines Volkes zu dir.«

»Wer ist dein Volk?«

»Wir sind die Sídhe.«

Und er sprach es aus wie schi.

»Die Sídhe?«

»Ein Volk, das schon seit uralter Zeit in diesem Land lebt. Es ist viele Jahrhunderte her, dass ich auf Erden wandelte.«

»Warum bist du gekommen?«, fragte ich.

»Weil die Zeit dafür reif ist. Weil ich etwas zu sagen habe, das dein Volk hören sollte. Bevor es zu spät ist.«

»Ich verstehe nicht«, sagte ich.

»Du wirst verstehen«, entgegnete er. »Geh wieder in die Kammer. Schau dir das Spiralbild an. Dort werde ich zu dir kommen.«

Dann war er verschwunden, und im selben Moment erwachte ich, setzte mich im Bett auf und starrte auf das verblassende Bild der Glyphe, das sich regelrecht in meinen Geist eingebrannt hatte.


Ich schaltete die Nachttischlampe ein und schaute auf die Uhr. Es war noch keine halb drei, und ich hatte nicht mehr als zwei Stunden geschlafen. Der Traum schien so real und ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Schließlich nahm ich mein Notizbuch und schrieb alles auf, woran ich mich erinnerte. Die letzten Worte meines seltsamen Besuchers, seine Aufforderung, ich möge in die Kammer gehen und mir die Glyphe anschauen, erzeugten in mir ein unbehagliches Gefühl, ohne dass ich hätte sagen können warum. Der Name, mit dem er sein Volk bezeichnet hatte, die Sídhe, kam mir bekannt vor, aber ich konnte mich nicht erinnern, wo ich ihn schon einmal gehört hatte. Die ganze Traumepisode schien verrückt zu sein. Das empfinde ich auch heute noch so, wenn ich lese, was ich hier aufgeschrieben habe. Doch mein Traum in dieser Nacht, nach dem ersten Besuch in Gortnasheen, war der Auftakt zu allem, was dann folgte.

Das arg ramponierte alte Notizbuch liegt jetzt vor mir. Darin beschreibe ich, mit zittriger Handschrift, den Traum. Ich hinterfrage ihn noch immer, so oft wie all das, was darauf folgte. Aber der Drang, es aufzuschreiben, ist stärker, und die Botschaft erscheint mir heute genauso dringlich wie damals, als ich sie zum ersten Mal hörte. Ich legte mich wieder hin und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Am Morgen las ich mir meine Notizen über den Traum noch einmal durch und versuchte, das Ganze als unwichtig abzutun. Aber in Wahrheit schien alles in Zusammenhang zu stehen: das Gefühl, das mich sofort überkommen hatte, als Keith Harris mich wegen der Sache angerufen hatte, der Besuch im Grabhügel von Gortnasheen, und dann der Traum. Je mehr ich über die ganze Angelegenheit nachdachte, desto sicherer war ich mir, dass mehr dahintersteckte, etwas, dem ich unbedingt auf den Grund gehen musste.

Ich wusch mich, zog mich an und ging zum Frühstück nach unten. Keith saß bereits vor einem Teller mit Speck, Eiern und Tomaten. Ich bestellte das Gleiche, und nach ein paar Höflichkeiten und nachdem das Thema Wetter ausgeschöpft war, saßen wir eine Weile schweigend da.

Schließlich hielt Keith es nicht länger aus. »Und?«, fragte er. »Was denkst du?«

»Es ist auf jeden Fall eine sehr interessante Fundstätte«, sagte ich vorsichtig.

»Und …?«

»Na ja, ich werde noch etwas lesen und recherchieren müssen, ehe ich darüber einen fundierten Artikel schreiben kann.«

»Aber du wirst etwas schreiben?« Er wirkte seltsam enttäuscht, als hätte er etwas anderes erwartet.

»Ich denke schon. Sag mal …«, fügte ich nur hinzu, um das Gespräch in Gang zu halten, »… weißt du eigentlich, was der Name bedeutet?«

»Gortnasheen? Ort der Feen

»Feen?«

»Ja. Weißt du, nicht diese kitschigen kleinen, geflügelten Wesen aus den Kinderbüchern – nein, das echte Feenvolk, die Nachfahren der keltischen Götter. Die Sídhe.«

Das Wort traf mich bis ins Mark und löste bei mir eine Flut von Bildern und Gedanken aus. Wie hatte ich das vergessen können? Ich hatte genug Bände mit keltischen Sagen und Legenden gelesen, um zu wissen, dass Irland voller Geschichten über die Feenrasse war, und diese Wesen hatten nichts gemeinsam mit den üblichen Bildern, die uns in den Sinn kommen, wenn wir das Wort Feen hören. Die irischen Feen waren groß, strahlend und mächtig – Göttern nicht unähnlich –, und ihr alter gälischer Name lautete Sídhe. Welten trennten sie von den schelmischen Reigentänzern, die im viktorianischen Zeitalter so populär gewesen waren. Sie waren keine Tinkerbells, sondern besaßen mächtige Zauberkräfte, und ihr Äußeres war unvergleichlich edel und schön. Ich erinnerte mich, dass von ihnen erzählt wurde, sie trügen Schuhe aus Bronze und ihre Schatzkammern seien reich gefüllt mit Gold und Juwelen. Manchmal stolperten umherziehende Leute zufällig in eines der Häuser dieses Volkes. Ihre Behausungen sahen äußerlich wie Erdhügel aus, aber im Inneren waren sie riesig und voller Wunder. Für die menschlichen Besucher verging die Zeit bei den Feen anders. Oft waren, wenn sie in ihre Welt zurückkehrten, Jahre oder gar Jahrhunderte vergangen, während sie selbst den Eindruck hatten, nur wenige Tage oder Wochen bei den Sídhe zu Gast gewesen zu sein.

Plötzlich ergab mein Traum einen Sinn – oder machte zumindest auf verrückte Art Sinn.

Offenbar hatte mir der Mund eine Weile offen gestanden, oder vielleicht beunruhigte Keith mein Schweigen, denn er unterbrach meinen Gedankenfluss, indem er fragte, ob alles in Ordnung sei.

»Oh, ja«, sagte ich ein wenig zögerlich, »ich habe nur nachgedacht.« Ich zwang mich zur Konzentration. »Ich würde mir das Monument gerne noch einmal anschauen. Vielleicht etwas Zeit allein dort verbringen. Ist das okay?«

»Natürlich«, entgegnete Keith. Er schien erleichtert zu sein. »Ich muss heute Morgen nach Dublin. Ich kann dich in Gortnasheen absetzen und später wieder abholen. Dann kannst du dort ein paar Stunden ungestört verbringen.«

Ich war einverstanden und holte mein Notizbuch. Schweigend fuhren wir zu dem geheimnisvollen künstlichen Hügel, und Keith winkte fröhlich zum Abschied, ehe er den Wagen wendete und in einer Wolke aus Auspuffqualm davonfuhr.

Ich schaute ihm nach und wandte mich dann dem Hügel zu.


Was, um alles in der Welt, wollte ich hier? Dann erinnerte ich mich an den Traum, und an die sonderbare Aufforderung meines nächtlichen Besuchers, hierher zurückzukehren. Also gut, hier war ich, hatte aber keine Ahnung, was als Nächstes geschehen würde. Ich wusste nur, dass ich, um es herauszufinden, in die Kammer gehen musste.

Ich kroch durch den engen Eingang und fand an der schon bekannten Stelle die Taschenlampe. Außerdem lagen dort zwei Kerzen und eine Schachtel Streichhölzer, die ich ebenfalls mitnahm. Rückblickend erkenne ich, dass ein Teil von mir die Szene aus meinem Traum nachbilden wollte, einschließlich des flackernden Kerzenlichts.

In der Kammer zündete ich die Kerzen an und stellte sie zu beiden Seiten der (wie ich sie inzwischen gedanklich bezeichnete) Großen Glyphe auf den Boden. Dann schaltete ich die Taschenlampe aus und setzte mich vor das Spiralsymbol. Dabei kam ich mir ein wenig lächerlich vor.

Ich bin mir bis heute nicht sicher, was dann geschah, auch wenn es im Rückblick ziemlich offensichtlich erscheint. Vielleicht schlief ich ein. Vielleicht träumte ich. Aber was sich auch abgespielt haben mag (und letztlich ist das sowieso unwichtig) … ich sah eine schemenhafte Gestalt, die allmählich klarer hervortrat, bis ich wieder in die Augen des Mannes aus meinem Traum schaute.

Nun wirkte er irgendwie solider und realer, als sorgte meine Vertrautheit mit seinem Anblick für eine klarere Sicht. Ich erkannte, dass sein Haar silbern schimmerte – obwohl sein Gesicht völlig faltenlos war. Doch ist es ohnehin nicht sinnvoll, das Alter eines solchen Wesens in Jahren zu messen. Er war alt und jung zugleich, alterslos und zeitlos, so wie es derartige Boten wohl sein müssen.

Weder zu diesem Zeitpunkt noch später verspürte ich in seiner Gegenwart Angst. Das mag sonderbar erscheinen, da die meisten von uns (mich eingeschlossen) nicht daran gewöhnt sind, mit Wesen aus einer anderen Welt zu sprechen. Aber von Anfang an erschienen mir die Anwesenheit meines Besuchers und die Gespräche, die ich mit ihm führte, vollkommen natürlich. Nie fühlte ich mich auf irgendeine Weise in Gefahr. Ganz im Gegenteil ging von ihm ein starkes Gefühl der Freundschaft und Verbundenheit aus. Das ist meine Antwort an alle, die fragen: Woher wusstest du, dass du diesem Wesen trauen konntest? Ich wusste es einfach, gleich von Anfang an. Und dieses Gefühl blieb während all unserer Begegnungen bestehen.

»Ich freue mich, dass du gekommen bist«, sagte er. Seine Stimme war leise, hallte aber etwas, als gäbe es dort, von wo er zu mir sprach, eine Art Echo.

»Ich muss einfach mehr erfahren«, entgegnete ich. Das schien mir der beste Einstieg in ein Gespräch zu sein.

Ein Lächeln erschien auf seinem ernsten Gesicht. »Das war unsere Hoffnung«, sagte er.

»Wer seid ihr?«, fragte ich.

»Ich bin einer der Sídhe. Das sind jene, die ihr das Feenvolk nennt.«

»Bist du real?«

»Das hängt davon ab, was du mit real meinst.«

»Darf ich dich berühren?«

»Wenn es dir dann leichter fällt, mir zu glauben.«

Ich streckte meine zugegebenermaßen etwas zittrigen Finger aus und berührte seine schlanke Hand dort, wo sie auf seiner Taille ruhte. Was spürte ich? Mir fällt heute noch schwer, es zu beschreiben. Es war, als hätte ich etwas berührt, das zugleich vorhanden und nicht vorhanden war, fest und nicht fest. Sein »Fleisch« – wenn es Fleisch war – fühlte sich kühl an, und irgendwie unwirklich.

Und doch war es ohne Zweifel real, jedenfalls für meine Ansprüche. Ich begriff, was er mit der Formulierung meinte: »Was du mit real meinst.« Es war eine völlig neue Erfahrung für mich, für die ich noch keine Maßstäbe hatte.

Ich zog meine Hand zurück, äußerst bemüht, es nicht zu hastig zu tun. Ich rang mit meinen Gedanken und Eindrücken. Ich dachte: Wenn du zweifelst, stelle Fragen.

»Warum hast du beschlossen, mit mir zu sprechen?«

»Weil die Zeit dafür reif ist. Weil du mir zuhören wirst. Weil wir eurem Volk viel zu erzählen haben, solange ihr uns noch hören könnt.«

»Dazu sind heute nur noch wenige von uns in der Lage«, sagte ich.

»Das ist wahr, und um so dringlicher ist unsere Botschaft an euch.«

»Wie soll ich dich nennen?«, fragte ich.

»Namen sind zu mächtig, um sie leichthin mitzuteilen. Ich würde dich auch nicht mit deinem Namen anreden, und doch unterhalten wir uns. Ist es nicht so?«

Ich nickte.

»Gut. Sagen wir einfach, dass ich einer vom Volk der Sídhe bin und du ein Mensch. Das genügt für den Zweck unseres Gesprächs, nicht wahr?«

»Selbstverständlich«, sagte ich. »Aber – wie stellst du dir dieses Gespräch vor?«

»Ich schlage vor, dass ich spreche und du zuhörst«, sagte mein Besucher mit der leichten Andeutung eines Lächelns.

»Darf ich mir Notizen machen?«

»Wenn du es wünschst.«

Und so begann das erste unserer vielen Gespräche – oder, besser gesagt, Monologe, da ich kaum redete, außer wenn ich hin und wieder eine Verständnisfrage stellte. Ich machte mir auch nur selten Notizen, da ich meistens wie gebannt an den Lippen meines Gesprächspartners hing. Ich vergaß es einfach, weil ich so sehr von der Botschaft aus der Welt der Feen fasziniert war.

 

Doch ich vergaß nur selten, was er sagte, ja, es fiel mir leicht, mich an alle seine Worte mit einer Klarheit zu erinnern, die neu für mich war. Auch erschien es unangemessen, seine Mitteilungen elektronisch aufzuzeichnen. Zwar versuchte ich es einmal, aber es gelang nicht. Obwohl ich seine Worte in ein Mikrofon flüsterte, fast wie ein Simultandolmetscher, war auf dem Tonband hinterher nichts zu hören. Das Gerät hatte nicht aufgezeichnet.

Am Ende unseres ersten Treffens in der Kammer unter dem Hügel fragte ich ihn, ob es weitere Gespräche geben würde, und wenn ja, wie und wo. Ich konnte nicht immer wieder nach Gortnasheen kommen, zumal dessen Zukunft, wie bei allen diesen Ausgrabungsstätten, ungewiss war. Mein Besucher antwortete, ich möge die Glyphe durchpausen und eine sorgfältige Kopie anfertigen. Es genüge dann, diese bei mir zu Hause an die Wand zu hängen, mich davor hinzusetzen und zu meditieren. Das würde es ihm ermöglichen, mit mir in Kontakt zu treten.

Als die Zeit kam, dieses Buch zu schreiben, und sich die Möglichkeit abzeichnete, es herauszubringen, war ich eine Weile unsicher, was die Veröffentlichung der Glyphe anging. Doch mein Gesprächspartner versicherte mir, dass es gut ist, wenn die Glyphe möglichst vielen Leuten zugänglich gemacht wird. Umso mehr Menschen würden dadurch in die Lage versetzt, die Macht der Sídhe persönlich zu erleben.

Zu diesem Zweck habe ich am Ende des Buches eine kurze Anleitung hinzugefügt, um denen zu helfen, die den Wunsch verspüren, selbst in diesen sonderbaren und wundervollen Dialog mit den Sídhe einzusteigen.


In den folgenden Wochen stand ich fast täglich in Kontakt mit dem Botschafter der Sídhe. Die folgenden Kapitel sind eine Niederschrift, die größtenteils auf meinen am Ende jedes Gesprächs sehr schnell angefertigten Notizen beruht, beginnend mit unserem ersten Treffen in Gortnasheen. Ich bin überzeugt, dass sie weitgehend unverfälscht sind, auch wenn ich manchmal vermutlich andere Worte benutzte als mein Besucher. Jedenfalls bin ich mir sicher, dass die Essenz dieser Niederschrift so genau wie möglich wiedergibt, was er sagte oder meinte. Gelegentlich gibt es Wiederholungen, wie es in jedem Gespräch vorkommt, wenn man von einem Thema vorübergehend abweicht und dann wieder zu ihm zurückkehrt. Ich habe der Versuchung widerstanden, sie herauszukürzen, sondern zog es vor, seine Sätze in ihrem natürlichen Fluss wiederzugeben, so wie ich sie hörte.

Das Resultat erscheint mir auch heute noch sehr erstaunlich. Ich hoffe, dass andere Menschen es ebenso erhellend und inspirierend finden wie ich, auch wenn ihnen vielleicht nie die Gnade zuteil wird, die weisen Worte der Sídhe direkt aus dem Mund eines Angehörigen ihres Volkes zu hören.

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