Osteopathische Diagnostik und Therapie

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Osteopathische Diagnostik und Therapie
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Osteopathische Diagnostik und Therapie

ERKLÄRUNG

Dieses Buch beruht auf einem historischen Text aus der Gründerzeit der Osteopathie. Die darin enthaltenen medizinischen Aussagen entsprechen dem Wissensstand jener Zeit und ersetzen keinen Besuch eines Arztes, Heilpraktikers oder anderen first-contact-practitioners.

Der Herausgeber übernimmt keinerlei Haftung, für Schäden, die durch Anwendungen auf Basis der Informationen in diesem Buch entstanden sind. Dies weniger, weil die vorgeschlagenen Therapien falsch sein könnten, sondern vielmehr, weil es essenziell ist, die Techniken der klassischen Osteopathie ausschließlich im Rahmen klassischen osteopathischen Philosophie, d. h. ausschließlich im salutogenetischen Kontext auszuüben. Dieser Ansatz wird aber in Ihrem gesamten Umfang gegenwärtig an keiner Ausbildungsstätte der Welt unterrichtet.

OSTEOPATHISCHE DIAGNOSTIK UND THERAPIE

IMPRESSUM

TITEL

Osteopathische Diagnostik und Therapie Deutsche Erstauflage Copyright © 2013 bei JOLANDOS© JOLANDOS©, Am Gasteig 6, 82396 Pähl www.jolandos.de, info@jolandos.de ISBN 978-3-936679-92-8 (Print) ISBN 978-3-941523-13-5 (Ebook / MOBI) ISBN 978-3-941523-35-7 (Ebook / EPUB)

ORIGINAL

Osteopathic Therapeutics: Diagnosis Unveröffentlichtes Unterrichtsskript (ca. 1898–1906) original liegt im Museum for Osteopathic Medicine, Kirksville, MO., USA

HERAUSGEBER

Christian Hartmann

ÜBERSETZUNG

Dr. Martin Pöttner

BEARBEITUNG

Christian Hartmann, Elisabeth Melachroinakes

UMSCHLAGGESTALTUNG UND SATZ

Christian Hartmann

DRUCK / PRINTVERSION

Buchproduktion Thomas Ebertin

www.buchproduktion-ebertin.de

EBOOK-GESTALTUNG

Corinna Rindlisbacher

www.ebokks.de

VERTRIEB ÜBER

HEROLD Auslieferungsservice GmbH

Raiffeisenalle 10

82041 Oberhaching

BESTELLUNG: order@jolandos.de

Jede Verwertung von Auszügen der deutschen Ausgabe ist ohne Zustimmung des JOLANDOS -Verlags unzulässig und strafbar. Dies gilt für Vervielfältigungen und Verbreitung in welcher Form auch immer.



ABB. 1: JOHN MARTIN LITTLEJOHN

(1866–1947)

WIDMUNG DES HERAUSGEBERS

„Den dunklen Mantel streife ich ab und lasse mich fallen in ein goldenes Meer…“

In Andenken an Monika.

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT DES HERAUSGEBERS (2013)

VORWORT DES HERAUSGEBERS (2010)

VORWORT DES ÜBERSETZERS

JOHN MARTIN LITTLEJOHN – KURZBIOGRAFIE

EINFÜHRUNG

Diagnose – Theorie der Behandlung – Klassifikation der Erkrankungen

FIEBER

Allgemeine Bemerkungen – Infektionserkrankungen – Behandlungen von Fieber – Behandlung von Temperatur – Vasomotorische Behandlung – Typhusfieber – Typhus – Pocken – Windpocken – Wechselfieber – Scharlach – Masern – Influenza – Denguefieber – Cholera (1) – Cholera (2) – Pest – Gelbfieber – Maul- und Klauenseuche – Miliäres Fieber – Diphterie – Parotitis – Pertussis – Dysenterie – Meningitis – Erysipel – Tetanus – Tollwut – Pneumonie – Pyämie – Gonorrhö – Syphilis – Skorfulose – Lepra – Maliasmus – Malariafieber – Einfaches Dauerfieber – Hitzschlag – Heufieber – Maltafieber – Bergfieber – Morbus Weil – Aktinomykose – Anthrax

KONSTITUTIONELLE ERKRANKUNGEN – RHEUMATISMUS

Muskulärer Rheumatismus – Lumbago – Pleurodynie – Gicht – Lithämie – Rachitis – Skorbut – Skorbut Rachitis – Purpura – Diabetes mellitus – Diabetes insipidus – Fettleibigkeit

ERKRANKUNGEN DES BLUTES

Anämie – Chlorosis – Perniziöse Anämie – Leukämie – Hodgkinsche Erkrankung – Morbus Addison – Kropf

ERKRANKUNGEN DES ZIRKULATIONSSYSTEMS

Die physische Diagnose von Herzerkrankungen – Herzerkrankungen – Perikarditis – Endokarditis – Myokarditis – Herzhypertrophie – Herzdilatation – Herzdegeneration – Herzneurose – Angina pectoris – Erkrankungen des Mediastinum – Erkrankungen des arteriellen Systems – Arteriosklerose – Aneurysma – Venöse Erkrankungen – Hämorrhoiden – Varikozele und Hämatozele – Variköse Venen – Wassersucht

 

ERKRANKUNGEN DES ATEMTRAKTES

Bronchitis – Chronische Bronchitis – Fibröser bzw. plastischer Typ – Bronchialasthma – Behinderung der Bronchien – Bronchiektasen – Bronchopulmonale Hämorrhagie – Lungenstauung – Lungenödem – Pulmonale Embolie – Bronchopneumonie – Chronische interstitielle Bronchitis – Lungenabszess – Lungengangrän – Lungensklerose – Lungenkrebs – Zystenlunge – Lungenkollaps – Emphysem – Krampfartiges Emphysem – Pleuritis

DER VERDAUUNGSTRAKT

Chronische Ösophagitis – Akute Gastritis – Magengeschwür – Magenkrebs – Magenblutung – Magendilatation – Magendislozierung – Magenneurosen – Erbrechen – Akute Diarrhöe – Chronische Diarrhöe – Darmverstimmung – Darmkattarh – Cholera – Darmkolik – Gescwhüre, Krebs, Tuberkulose und Enteritis – Darmkrebs – Membranöse Enteritis – Darmkrämpfe – Darmverschluss – Verstopfung – Darmparasiten – Fadenwürmer – Trichinen oder Trichinose – Appendizitis – Peritonitis

ERKRANKUNGEN DES SEKRETORISCHEN SYSTEMS

Milzentzündung – Pankreashämorrhagie – Pankreatitis – Hyperämie der Leber – Hepatitis – Leberzirrhose – Leberkrebs – Leberabszess – Hyperämie der Niere – Urämie – Azetonurie – Amyloidniere – Nephrolithiasis – Fließende Niere – Nierendegeneration – Nierenabszess – Nierenzyste – Nierensarkom – Nierenkarzinom – Nephritis – Nierenbeckenentzündung – Blasenentzündung – Bettnässen – Anurie – Erkrankungen des Rektum

ERKRANKUNGEN DER MUSKULATUR UND DER KNOCHEN

Myositis – Myotonia congenita – Ankylose – Synovitis – Hydro-Arthritis – Pott‘sche Erkrankung – Typhoide Wirbelsäule – Coxalgia – Angeborene Huftluxation – Distorsionen – Luxationen – Wirbelsäulen-Verkrümmungen – Alphabetisches Inhaltsverzeichnis

WEITERFÜHRENDE LITERATUR

AUFZEICHNUNGEN

ÜBER JOLANDOS

VORWORT DES HERAUSGEBERS (2013)

Seit dem Erscheinen der Deutschen Erstauflage ist viel passiert. John Martin Littlejohn, zuvor noch so gut wie gänzlich unbekannt im deutschsprachigen Sprachraum, beginnt hier langsam seinen verdienten Platz in der Geschichte der Osteopathie zu erlangen.

Dementsprechend versiegt das historisch nicht belegbare Gerücht, Littlejohn hätte Stills Philosophie der Osteopathie ‚zerstört‘ zusehends – und das ist auch gut so. Warum? Es war v. a. Littlejohn zu verdanken, dass Stills Annahmen und empirische Beobachtungen auch wissenschaftlich bestätigt wurden und damit für das 20. Jahrhundert überlebensfähig blieben. Und dass Littlejohn bis heute einer der ganz wenigen ist, die Stills salutogenetische Philosophie tatsächlich durchdrungen und gelebt haben, zeigen v. a. seine einleitenden Gedanken in diesem Buch.

Stets geht es Littlejohn bei den Behandlungen immer wieder um zwei Hauptaspekte: Die fließenden Körperflüssigkeiten (1) und die Lebenskraft des Patienten (2). Alle anatomisch umgesetzten manuellen Techniken dienen letztlich dazu, das ungehinderte Fließen der Körperflüssigkeiten zu ermöglichen, damit sich darüber die inherenten Selbstorganisationskräfte des Körpers optimal entfalten und wirken können. Und dies erklärt auch, warum Osteopathie keine Methode oder ein Verfahren vorrangig auf den muskuloskelettalen Bereich des Körpers bezogen ist, sondern eine im allgemeinmedizinisch-salutogenetischen Kontext angewandte biologische Wissenschaft repräsentiert. Einfach ausgedrückt: Es geht um die ehrfürchtige Anpassung des Leibes und nicht um das Korrigieren des Körpers:

„Wenn du deine Hände auf einen Kranken legst, lege sie ehrfurchtsvoll auf, denn du hast es mit dem Meistermechanismus von Erde und Himmel zu tun: dem menschlichen Körper. Kein vollkommenerer ist uns jemals begegnet.” 1

Dies aber erfordert die Überwindung des tief in uns verankerten pathogenetischen Denkens und der damit verbundenen Identität des therapeutischen Egos als ‚helfender Held‘. Nur die Kraft der Natur kann heilen; wir sind lediglich Erfüllungsgehilfen. Wie unerhört und gefährlich dieses neue Paradigma zu sein scheint, beweist die noch sehr junge und bewegte Geschichte der Osteopathie: Abwertungen und Anfeindungen sind steter Begleiter. Und wenn das alles nicht hilft, greift man zur mächtigsten Waffe: Die Umdeutung der salutogenetischen Osteopathie Stills und Littlejohns in eine berufspolitisch und abrechnungstechnisch konforme rein pathogenetisch verwobene Zwangsjacke, und die damit verbundene Reduktion auf simple manuelle Techniken zur Behandlung muskuloskelettaler Beschwerden. Dies geschah bereits ab der 1920ern im Ursprungsland der Osteopathie auf betreiben der American Osteopathic Association, es wiederholte sich außerhalb der Vereinigten Staaten in den 1950ern durch die Britisch School of Osteopathy, und wer die aktuellen berufspolitischen Bemühungen insbesondere der Deutschen Gesellschaft für Manuelle Medizin (DGMM) und des Interessensverbandes Selbstständiger Physiotherapeuten (IFK) verfolgt, kann sich Eindrucks nicht erwehren, dass hier ein langsam aussterbendes medizinisches Denken verzweifelt um sein Überleben kämpft. also n vollem Gang und wie alle wissenschaftlichen Revolutionen gelten auch hier zwei Grundregeln: (1) Eine gute Idee setzt sich früher oder später entgegen aller Abwehrversucher im ursprünglichen Sinn durch und (2) die Paradigmen neuer Generationen ersetzen jene der alten Generation. Auch hier spiegelt sich das Bestreben der Natur zur Selbstordnung wieder... Gut, dass der Mensch auch bei diesem Prozess nur sehr begrenzte Macht besitzt!

Ich bin mit sicher, dass Littlejohns wissenschaftliche Ausdeutung von Stills Philosophie der Osteopathie bei diesem Prozess eine gewichtige Rolle spielen wird, denn wie kein anderer versteht er es, Stills kryptische Beschreibungen in auch heute noch leicht zugängliche Sprache zu fassen:

„Leben besteht aus bestimmten objektiven Manifestationen von Vitalität. Es gibt eine bestimmte Lebenskraft, die sich in den vielen vitalen Prozesse ausdrückt. Wird diese Lebenskraft in ihrem Prozess der Verteilung und Manifestation nicht behindert und kooperieren die vitalen Prozesse und die organischen Aktivitäten perfekt, ist das Physische vollständig angepasst.“

Kein ‚Gesund machen‘, kein ‚Heilen‘, keine Angriffsfläche für übersteigerte Behandler-Egos oder Helfer-Syndrome. Der halbgöttische und übermächtige Behandler bekommt seinen angestammten Platz wieder: als Erfüllungsgehilfe der Natur. Dort, und nur dort, kann er sein ganzes Potenzial zum Wohl der Menschheit entfalten. Ist das nicht ein mächtiger und im Grunde sehr befreiender Gedanke? Lesen Sie jede Zeile von Littlejohn in der Bewusstheit, dass er in dieser Gedankenwelt Osteopathie gedacht, gelebt und verteidigt hat. Ich bin mir sicher, Sie werden danach besser verstehen, warum dieses in einem Archiv verstaubende Manuskript es mehr als wert ist, in die gegenwärtige Osteopathie zu wirken.

Der vorliegende Titel wurde inzwischen neu gesetzt. Dabei wurde die im Original nur rudimentär vorhandene und erst in der Übersetzung vervollständigte Nummerierung der zahllosen Aufzählungen und Auflistungen einzelner Aspekte überarbeitet, um eine bessere Übersicht zu gewährleisten und hoffe, dass die Lektüre dadurch noch übersichtlicher wird.

 

Viele Vergnügen bei der Lektüre.

Christian Hartmann

Pähl, Oktober 2013

VORWORT DES HERAUSGEBERS (2010)

„Gesundheit zu finden ist Aufgabe des Arztes.2 Krankheit kann jeder finden.“ (A. T. Still)

VORGESCHICHTE

Dieser berühmte Ausspruch des Entdeckers der Osteopathie bezog sich nicht nur auf das therapeutische Wirken, sondern drückt eine grundsätzliche anthropophile Lebenseinstellung aus, die man als ethische Grundlage der Osteopathie bezeichnen kann. Es geht darum, den Fokus nicht auf Pathologie, Krankheit, Kaputtes, Schlechtes oder ‚Böses‘ etc. zu richten, sondern stets auf das Gesunde, das Potential bzw. das Gute. Kein anderer hat sich dies mehr zu Herzen genommen als Stills berühmtester europäischer Schüler, John Martin Littlejohn. Als er seine Heimat Schottland verließ3, um in sich den Vereinigten Staaten niederzulassen, war er noch keine 30 Jahre alt, unendlich wissensdurstig, akademisch hochdekoriert und bereits Leiter eines angesehenen Colleges. Dann kam es zur schicksalhaften Begegnung mit Still, und Littlejohn entschloss sich, seine glänzenden Karriereaussichten aufzugeben, um in Kirksville an Stills Schule Osteopathie zu erlernen und zugleich Physiologie bzw. Psychophysiologie zu lehren. Es darf spekuliert werden, welche Gründe ihn zu dieser Entscheidung bewegt haben mögen, fest steht jedenfalls, dass Littlejohn den Rest seines Lebens der Osteopathie widmete – insofern muss Stills Philosophie den jungen schottischen Gelehrten zutiefst bewegt haben. Seine Entscheidung sollte sich als eine der größten Glücksfälle für die Zukunft der Osteopathie erweisen. Warum?

Still war kein hochgebildeter Mann. In der unwirtlichen Wildnis des Mittleren Westens um die Mitte des 19. Jahrhundert konnte er sich glücklich schätzen, gerade einmal Lesen und Schreiben erlernt zu haben. Dem gegenüber standen seine unendliche Neugier, seine außerordentliche Fähigkeit wertfrei zu beobachten, enorm schnell komplexe Zusammenhänge systemübergreifend zu verstehen und diese mit einfachen Worten auszudrücken. Jeder Mensch sollte Osteopathie verstehen können. Dementsprechend einfach, metaphorisch und unterhaltsam – heutzutage würde man dazu wohl ‚populärwissenschaftlich‘ sagen – versuchte er in seinem Reden, Handeln und Schreiben die Osteopathie zu leben. Die Sympathie der Bevölkerung war ihm damit ebenso sicher wie die Verweigerung der Akzeptanz auf medizinischer Ebene.

Als pragmatischer, sachlicher und vorurteilsfreier Mensch mit allerhöchsten ethischen Ansprüchen erkannte Littlejohn sofort die enorme Bedeutung von Still Entdeckung für das Wohlergehen und die Gesundheit der Menschen. Als gebildetem Akademiker war ihm allerdings auch klar, dass die Osteopathie langfristig ein Mauerblümchendasein fristen würde, wenn sie sich einerseits wissenschaftlich nicht bewähren konnte und wenn die Ausbildung andererseits im Niveau nicht deutlich angehoben werden würde. Da ihm als überzeugten Presbyterianer das Wohl der Menschheit mehr bedeutete als die eigenen Karrieremöglichkeiten, entschloss er sich 1898 nach Kirksville zu ziehen, um die Osteopathie akribisch so aufzuarbeiten, damit sie auch auf wissenschaftlicher und akademischer Ebene der klassischen Medizin auf Augenhöhe begegnen konnte. In den folgenden Jahrzehnten unermüdlicher Arbeit schuf er die erste solide Basis für die klassische Osteopathie.

ZU DIESEM WERK

Als wissenschaftlicher Insider wusste Littlejohn, dass die akademische Welt lieber falsche Thesen verteidigt, als sich neuen wirklich zu öffnen. Das war damals nicht anders als heute. Deshalb konzentrierte er sich von Beginn an ganz auf die junge Generation der Osteopathen, was die Herausgabe mehrerer osteopathischer Fachzeitschriften und seine umfangreichen Unterrichtsskripte im Vergleich zu den eher spärlichen Veröffentlichungen von Monografien erklärt. Sein Einfluss auf die frühe Osteopathie kann daher gar nicht genug gewürdigt werden, die wenigen Veröffentlichungen sollten aber auch dazu führen, dass sein enormes Vermächtnis nach seinem Tod eigentlich nur von dem englischen Osteopathen John Wernham in seiner ganzen Tragweite verstanden und am Leben gehalten wurde.

Der wohl größte bisher ungehobene Schatz der Osteopathie liegt in Littlejohns bisher unveröffentlichten umfangreichen Unterrichtsskripten. Aus seiner Zeit in Amerika sind das Principles, Physiology exhausted, Osteopathic Therapeutics: Diagnosis, Psychiatry, Psychophysiology und Osteopathy for lay people), aus seiner englischen Zeit die lecture notes.4

Da es zu den lecture notes bis heute keinen Zugang gibt, sind die drei großen amerikanischen Skripte die umfangreichste und beste Quelle, um Littlejohns Wissenschaft der Osteopathie wirklich studieren zu können. Und obwohl eine Veröffentlichung von Principles und Physiology exhausted vor dem zwischen 1898–1906 entstandenen Osteopathic Therapeutics: Diagnosis sinnvoll erscheint, habe ich Letzteres vorgezogen. Nach fast einem Jahrzehnt der Vorarbeit in Bezug auf die Veröffentlichung deutscher Texte, die den theoretischen, d. h. den philosophischen Unterbau der klassischen Osteopathie darlegen, war es nun einfach an der Zeit, auch den Vorhang in Bezug auf die klinische Arbeit in den Gründerjahren zu lüften. Und hierzu eignet sich meiner Meinung nach keine andere Abhandlung so hervorragend wie das Ihnen vorliegende Werk.

Wer Stills Bücher studiert hat erkennt bei Littlejohn sofort dessen Fähigkeit, die zwischen den Zeilen versteckten Ideen seines Lehrers minutiös freizupräparieren, sie wissenschaftlich zu durchleuchten und entsprechend so aufzubereiten, dass auch Fachleute sich ein kritisches Urteil darüber bilden konnten und auch noch immer können.5

Die Kernaussage dabei: Osteopathie ist keine alternative oder komplementäre Form der Medizin, sondern die höchste und modernste Weiterentwicklung der (funktionellen) Medizin jener Zeit. Und anders als Still, der seine Philosophie in einer Sprache für das einfache Volk verklausulierte, belegte Littlejohn dies mit unzähligen unwiderlegbaren anatomisch-physiologisch Argumentsketten. Die Brillanz seiner logischen Überlegungen, gepaart mit dem enormen akademischen Wissen seiner Zeit sind dabei bis heute einfach nur faszinierend. Abgesehen davon, dass Osteopathie historisch eindeutig nachweisbar die Grundlage der Chiropraktik und Chirotherapie ist, bilden die Arbeiten von Littlejohn und einigen Schülern wie H. H. Fryette und C. P. McConnell den Ausgangspunkt für zahlreiche weitere Entwicklungen innerhalb der Medizin. Und Sie bietet klassischen Medizinern ebenso viel Stoff zur Inspiration und Diskussion wie ‚modernen‘ Osteopathen. Hier nur eine Auswahl, was Ihnen in diesem Buch begegnen wird:

Die Salutogenese steht im Zentrum allen Denkens und Handelns. Symptome sind niemals pathologisch, sondern stets ein physiologischer Ausdruck des lebendigen Körpers. Daher geht es niemals um das Behandeln einer Krankheit, sondern um das Optimieren physiologischer Prozesse durch Anpassung (nicht: Korrektur!) der anatomischen Rahmenbedingungen.

• Dies ist Grundlage für das freie Fließen der Körperflüssigkeiten als Medium der ‚Widerstandskraft‘. Eine künstliche Unterstützung (z. B. Medikation) ist nur in absoluten Ausnahme- und Notfällen vonnöten.

• Jede Form der Anwendung, die in diesem Sinne verfährt, repräsentiert Osteopathische Medizin in Reinform.6

• Osteopathie versteht sich daher nicht als Konkurrenz oder Ergänzung zur Medizin, sondern in der funktionell-klinischen Anwendung, d. h. also vorrangig im Bereich der Allgemeinmedizin als deren Weiterentwicklung.

• Zur Grundausstattung eines Osteopathen gehören Stethoskop, Blutdruckmessgerät und Mikroskop.

• Nicht nur Funktion und Struktur, sondern auch die Umwelt sind im Menschen aufeinander bezogen.7 Patientenzentrierte Überlegungen zur Ernährung, Psychosomatik, Sozialisation etc. sind Bestandteil jeder osteopathischen Behandlung.

• Osteopathie beschäftigt sich mit allgemeinen Erkrankungen. Muskuloskelettale Beschwerden fallen dabei oftmals unter die Rubrik ‚Symptome‘. Daher widmet sich das vorliegende Skript auch nicht einmal zu 5 Prozent dem Bewegungsapparat als Ursache für Erkrankungen.

• Stills und Littlejohns Zugang zur Osteopathie war rein anatomisch-physiologisch. Für Sie galt die Prämisse: Physiologisch denken, anatomisch (be)handeln!

• Bei den Anwendungen erfolgt niemals eine Korrektur, sondern stets eine Anpassung der Strukturen an sich selbst. Damit wird nie konzept- sondern stets prozessorientiert gehandelt.

• Still und Littlejohn haben Techniken demonstriert, aber niemals unterrichtet. Sie waren davon überzeugt, dass mit exzellenter Kenntnis der Anatomie und Physiologie sowie einem gesunden Menschenverstand die Techniken leicht antizipiert werden können. Die Überzeugung, dass Osteopathie ausschließlich hands-on vermittelt werden kann, ist demnach falsch.

• Für Still und Littlejohn drücken sich alle Aspekte des Menschen, d. h. auch seine nicht-physischen Anteile, im Körper aus, weshalb der Behandler auch nur darüber wirken kann. Eine direkte metaphysische Wirkung, so wie etwa in der energetischen Osteopathie, ist in der klinisch-osteopathischen Arbeit nicht möglich.

• Die Nervensysteme (ZNS und Vegetativ) spielen eine zentrale Rolle. Alle Techniken der anatomischen Anpassung, v. a. die Techniken zum Ausbalancieren der Nervensysteme zielen alle darauf ab, Behinderungen im freien Fließen der Körperflüssigkeiten zu beseitigen. Den vaso- und viszeromotorischen Funktionen des Vegetativen Nervensystems kommt dabei die überragende Bedeutung zu.

• Folgende Behandlungselemente werden in Ansätzen oder ausführlich beschrieben: Physiotherapeutische Übungen, Kraniale Behandlung, Viszerale Behandlungen, Lymphdrainage, Thermodiagnostik, Elektrotherapie, Atlas-Therapie, Rhythmische Arbeit (wie etwa bei Maitland), Farblicht-Therapie, Muskeltriggerpunkte, METs, Orthopathische Therapie, Ernährungsberatung, Augenhintergrunddiagnostik, Übertreibungstechniken, HVLA-Techniken, etc. etc. Und alles in einem System integriert, namentlich Osteopathie.

Diese Liste ließe sich noch beliebig erweitern, und interessierte Leser werden sicherlich noch einige Stellen finden, die gerade die moderne Osteopathie v. a. in ihrer Stellung zur Medizin zu unbequemen Fragen zwingt. Gleichermaßen finden sich einige Überlegungen, deren Grundsätze sich v. a. die moderne Chiropraktik und Chirotherapie auf die Fahne schreiben, die aber historisch nachweislich von Still und Littlejohn stammen. Auch hier fordert das Buch indirekt zur Korrektur in der Außendarstellung auf.