Die Politik Jesu

Text
Aus der Reihe: Edition Bienenberg #4
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Die Politik Jesu
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Aus dem Englischen von Wolfgang Krauß, Bammental

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel

The Politics of Jesus bei Wm. B. Eerdmans Publishing Co., Michigan/USA, www.eerdmans.com

© 1972, 1994 Wm. B. Eerdmans Publishing Co.

Die Edition Bienenberg erscheint in Zusammenarbeit mit dem Theologischen Seminar Bienenberg, Liestal/Schweiz

www.bienenberg.ch

Dieses Buch als E-Book: ISBN 978-3-86256-701-0

Dieses Buch in gedruckter Form:

ISBN 978-3-937896-09-0, Bestell-Nummer 588 609

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar

Überarbeitete Neuausgabe mit den umfangreichen Ergänzungen der

zweiten Auflage von 1994. Eine erste deutsche Ausgabe dieses Buches

erschien 1981 auf Grundlage der Originalausgabe von 1972 unter dem

Titel Die Politik Jesu – Der Weg des Kreuzes im Agape Verlag, Maxdorf

Bibelzitate, sofern nicht anders angegeben, wurden der

Zürcher Bibelübersetzung von 1942 entnommen © Verlag der Zürcher Bibel beim Theologischen Verlag Zürich

Umschlaggestaltung: spoon design, Olaf Johannson Umschlagbild: Clive Watts/ShutterStock.com® Satz: Neufeld Verlag

© 2012 Neufeld Verlag Schwarzenfeld

Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise,

nur mit Genehmigung des Verlages

www.neufeld-verlag.de / www.neufeld-verlag.ch

Folgen Sie dem Neufeld Verlag auch auf Facebook® und in unserem Blog: www.neufeld-verlag.de/blog

John Howard Yoder

Die Politik Jesu

Vicit Agnus Noster

(Unser Lamm hat gesiegt)

Inhalt

Vorwort von Tobias Faix

Vorwort von Fernando Enns

Vorwort von Jürgen Moltmann

Vorwort des Autors zur ersten Auflage

Vorwort des Autors zur zweiten Auflage

1. Die Möglichkeit einer messianischen Ethik

Das Problem

Die herrschende Ethik: Jesus ist nicht die Norm

Gibt es eine andere Norm?

Kommentar zu Kapitel 1

Die Grundthese

Warum nicht Jesus?

Wenn nicht Jesus, was dann?

2. Das kommende Königreich

Die Ankündigung: Lukas 1,46ff, 68ff; vgl. 3,7ff

Berufung und Versuchung: Lukas 3,21–4,14

Das öffentliche Wirken: Lukas 4,14ff

Eine neue Stufe der Öffentlichkeit: Lukas 6,12ff

Das Brot in der Wüste: Lukas 9,1–22

Der Preis der Nachfolge: Lukas 12,49–13,9; 14,25–36

Die Erscheinung im Tempel: Lukas 19,36–46

Der letzte Verzicht: Lukas 22,24–53

Hinrichtung und Erhöhung: Lukas 23–24

Kommentar zu Kapitel 2

Die Voreingenommenheiten des Lukas

Historische Skepsis und der historische Jesus

Von der Erzählung zum Dogma

War Jesus ein Rebell?

Weitere Unterstützung

3. Die Bedeutung des Jubeljahres

Die Brache

Schuldenerlass und Sklavenbefreiung

Die vierte Vorschrift des Jubeljahres: die Rückerstattung des Kapitals

Kommentar zu Kapitel 3

Allzu einfache Relevanz

Weitere Forschungen

Pastorale Anwendung

4. Gott wird für uns kämpfen

Der Exodus

Die Königreiche

Nach dem Exil

Kommentar zu Kapitel 4

5. Die Möglichkeit gewaltfreien Widerstands

6. Zwischenbilanz

Von Lukas zu Paulus

Zurück zur Gegenwart

Kommentar zu Kapitel 6

7. Jünger Jesu und der Weg Christi

I. Jünger und die Liebe Gottes

II. Jünger und das Leben Christi

III. Jünger und der Tod Christi

Zusammenfassung

Das „Kreuz“ in der protestantischen Seelsorge

Nachahmung und Entsagung

Kommentar zu Kapitel 7

8. Christus und Macht

Ein- und Mehrdeutigkeit des Machtbegriffs

Christus und die Mächte in der zeitgenössischen Theologie

Der Ursprung der Mächte im Schöpfungsplan Gottes

Die gefallenen Mächte in der Vorsehung Gottes

 

Das Werk Christi und die Mächte

Das Werk der Kirche und die Mächte

Die Kirche hat Vorrang in der christlichen Sozialstrategie

Das „pietistische“ Missverständnis

Christus und die Mächte heute

Kommentar zu Kapitel 8

9. Revolutionäre Unterordnung

Bedenken

Der Blick weitet sich

Eine neue Schöpfung

Kommentar zu Kapitel 9

10. Jedermann sei untertan: Römer 13 und die Autorität des Staates

1) Das Neue Testament spricht auf vielfältige Weise über den Staat; Römer 13 steht nicht im Mittelpunkt der neutestamentlichen Staatslehre

2) Die Kapitel 12 und 13 bilden eine literarische Einheit. Römer 13,1–7 kann daher nicht isoliert betrachtet werden

3) Die geforderte Unterordnung erkennt jede existierende Gewalt an, akzeptiert jegliche Herrschaftsstruktur. Der Text bestätigt nicht, wie die Tradition behauptet, eine bestimmte Regierung als göttlich eingesetzt

4) Die Römer sollten einer Obrigkeit untertan sein, in der sie keine Stimme hatten. Der Text bedeutet nicht, dass Christen zum Militär- oder Polizeidienst berufen sind

5) Die Christen sollen sich dem Schwert des Staates unterwerfen, d. h. sie sollen seine Richter- und Polizeigewalt anerkennen. Das Schwert bezieht sich nicht auf die Todesstrafe oder den Krieg

6) Christen, die sich der Obrigkeit unterordnen, behalten ihre moralische Unabhängigkeit und ihr Urteilsvermögen. Die Autorität der Obrigkeit rechtfertigt sich nicht selbst. Jede bestehende Obrigkeit ist Gott untergeordnet; der Text behauptet jedoch nicht, alles, was die Regierung tut oder von ihren Bürgern verlangt, sei gut

Zusammenfassung

Kommentar zu Kapitel 10

11. Rechtfertigung aus Gnade durch Glauben

Paulus und der moderne Mensch

Der neue Mensch

Die neue Rechtfertigung

Die „neue Kreatur“

Zuerst für die Juden, doch auch für die Griechen

Kommentar zu Kapitel 11

12. Der Krieg des Lammes

Der Krieg des Lammes

Ohnmacht annehmen

Zusammenfassung

Kommentar zu Kapitel 12

Anhang

Zum Autor

Literatur

Verwendete Abkürzungen

Verwendete Literatur

Weitere wichtige Werke von John Howard Yoder (Auswahl)

Sekundärliteratur zu John Howard Yoder (Auswahl)

Register

Personen- und Autorenregister

Bibelstellenregister

Weitere Bücher der Edition Bienenberg

Vorwort von Tobias Faix

Dieses Buch ist ohne Zweifel ein Ärgernis. Und dies schon seit 40 Jahren. Aber das war von John Howard Yoder durchaus beabsichtigt. Es soll „anregende Verwirrung“ stiften, wie Yoder selbst formuliert, und das trifft es ganz gut. Seine Gedanken sind quer und gehören nicht zu dem theologischen „Fast food“, das heutzutage oft angeboten wird. Seine interdisziplinären Querverweise machen dieses Buch zwar nicht immer einfach zu lesen, aber sie geben der Thematik die nötige Tiefe und Weisheit. Yoder hat ein kluges Buch geschrieben. Ein Buch voller prophetischer Kraft, das dem Zeitgeist in die Parade fährt und schon in den 1970er Jahren vieles kritisch vorhersah, mit dem wir uns heute als Christinnen und Christen auseinandersetzen.

Yoders theologische Überlegungen haben das Ziel, das vorherrschende theologische Korsett zu sprengen und neu zu fragen, was Jesus für uns heute bedeutet. Er konfrontiert den Jesus der Evangelien mit der Gegenwart, ohne in die naiv-theologische Falle des Simplizismus zu geraten, der Nachfolge mit einfacher Nachahmung des Weges Jesu verwechselt. Nein, Yoder ist sich der historischen Situation um die Person Jesu bewusst und möchte die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart überwinden, indem er mit exegetischen und hermeneutischen Mitteln einen eigenen sozialethischen Ansatz zu entwickeln, der Christinnen und Christen hilft mitten in der Welt als Kontrastgesellschaft zu leben. Dies zeigt sich vor allem durch die präsentische Betonung in seiner Reich-Gottes-Theologie. Yoder ermutigt, sich den Macht- und Strukturproblemen unserer Zeit aktiv zu stellen und das Evangelium nicht auf eine individualistisch verengte Auslegung zu reduzieren. Seine These, dass Jesus als Urheber eines radikalen sozialen Wandels betrachtet werden müsse und tatsächlich zu Lebzeiten ein Jubeljahr ausgerufen hat (Lk 4,16–30), beeinflusste viele Theologen weltweit. So schreibt Yoder (S. 80 in dem vorliegenden Buch):

Jesus proklamierte im Jahr 26 tatsächlich ein Jubeljahr nach den mosaischen Sabbatvorschriften: ein Jubeljahr, das in der Lage gewesen wäre, die sozialen Probleme Israels durch Schuldenerlass und durch die Befreiung von Schuldnern, deren Zahlungsunfähigkeit sie zur Sklaverei erniedrigt hatte, zu lösen.

Diese Gedanken haben eine ganze Generation von Christen weltweit beeinflusst, wie beispielsweise Ronald J. Sider, David Bosch, Samuel Escobar, Brian McLaren, Jim Wallis oder Shane Claiborne. Gerade Letzterer hat Yoders Gedanken aufgenommen und in seiner Lebensgemeinschaft in einem Armenviertel von Philadelphia (The Simple Way) praktisch umgesetzt und in seinen Bestsellern Ich muss verrückt sein, so zu leben: Kompromisslose Experimente in Sachen Nächstenliebe und Jesus for President reflektiert, verarbeitet und weiterentwickelt und ist so ein Vorbild für viele geworden.

Yoders Kombination aus Klarheit und Radikalität macht Die Politik Jesu zu einem der wichtigsten Bücher der letzten Jahrzehnte. Die Neuauflage kommt deshalb gerade richtig, mitten in eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs und des diakonischen Aufbruchs. Viele Kirchen und Gemeinden entdecken ihren gesellschaftlichen Auftrag wieder neu und versuchen, die Liebe Christi in ihre Nachbarschaft zu tragen. Dabei stoßen sie auf sozialethische Fragen, wie wir Christen mit Konsum, Umweltzerstörung oder Konflikten umzugehen haben. Yoder zeigt, dass die Bibel diese Fragen auf und ernst nimmt und sie in eine ganzheitliche Nachfolge Christi führen. Yoders Sprache ist dabei immer so scharf und pointiert wie sein Inhalt und wer sich mit „dem Krieg des Lammes“ oder „der revolutionären Unterordnung“ auseinandersetzt, lernt einen großen intellektuellen und doch demütigen Nachfolger Christi kennen, der in Schlichtheit und Kraft ein Buch geschrieben hat, das auch die nächsten 40 Jahren noch gelesen werden wird, dessen bin ich mir sicher.

Tobias Faix

Vorwort von Fernando Enns

Nur wenigen Büchern ist es vergönnt, noch zu Lebzeiten des Autors zum „Klassiker“ zu werden. John Howard Yoder gelang dies – freilich ohne Absicht – mit diesem Buch bereits in der ersten Auflage (1972). Ganze Generationen von Theologinnen und Theologen – bei weitem nicht nur aus der friedenskirchlichen Tradition – behaupten inzwischen, dies sei in ihrer gesamten theologischen Bildung zur bahnbrechenden Lektüre geworden. Die Zeitschrift Christianity Today zählte im Jahr 2000 Die Politik Jesu gar zu den zehn wichtigsten theologischen Büchern des 20. Jahrhunderts überhaupt.

Das liegt sicherlich nicht zuletzt darin begründet, dass Yoder in unvergleichlicher Einfachheit die These vertritt, dass das Leben und die Lehre Jesu relevant sind für die sozialpolitische Gestaltung der Gesellschaft. Wer Christus bekennt und die Wahrheit des Hereinbrechens seines Reiches glaubt, findet in den Zeugnissen des Neuen Testaments einen deutlich vorgezeichneten Aufruf zum Leben einer entsprechenden „messianischen Ethik“.

Yoder lässt sich nicht zuerst auf eine durch Jahrhunderte dogmengeschichtlich geprägte Christologie ein, noch vertraut er einer individualisierten, nach innen gerichteten Christusfrömmigkeit. Er behauptet schlicht: Das Evangelium von Jesus Christus ist eine Einladung zur Teilhabe am Reich Gottes. Die Annahme dieser Einladung verwirklicht sich in der konkreten Nachfolge Christi, die sich in jedem gegebenen und vorfindlichen politischen Kontext zuerst von dieser Größe ausgerichtet weiß. Das findet seine Entfaltung in der aktiven (!) Gewaltfreiheit, der Relativierung aller politischen Kräfte und Mächte sowie einer stets kritischen Solidarität gegenüber jeder Form von Regierung. Ein Hang zur Werkgerechtigkeit oder die Gefahr der Gesetzlichkeit kann einer solchen Ethik kaum vorgeworfen werden, denn sie weiß sich erst durch die Rechtfertigung allein aus Gnade durch den Glauben hierzu befreit. Die Botschaft von Jesus Christus (von der Inkarnation über das Leben und Sterben am Kreuz, bis hin zur Auferstehung) zielt – so Yoder – auf die Gestaltung dieser Welt und will als realistische Option inmitten der politischen Debatte verstanden werden.

In den internationalen wie innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu Beginn der 1970er Jahre musste eine solche „Provokation“ auf fruchtbaren Boden fallen. Im Grunde konnte es sich niemand leisten, dieser Herausforderung zum radikalen Ernstnehmen des Lebens Jesu auszuweichen: die Vertreter einer christlichen (nicht unbedingt jesuanischen) Ethik, die stets um die angepasste Übersetzung in die scheinbaren „Realitäten“ der politischen Umstände bemüht waren, ebenso wenig wie jene, die solch konsequente Lebensführung allein im Rückzug aus der Gesellschaft für lebbar hielten. Und für alle, die sich in ihrem christlichen Glauben längst bequem eingerichtet und mit den jeweiligen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten arrangiert hatten, musste diese schlichte These ohnehin zum Ärgernis werden.

 

Entsprechend umfangreich und zum Teil höchst kritisch fielen die Reaktionen denn auch aus. Die Vorwürfe reichten von mangelndem exegetischen Sachverstand über „schlechte“ – weil die vielen wichtigen theologischen Schulen kaum berücksichtigende – Theologie, bis hin zu naivem Schwärmertum oder auch einer viel zu politisch-konkreten Auslegung des Evangeliums. – Im Grunde hatte Yoder damit erreicht, was einem Theologen wichtig sein muss: nicht zuerst die Auseinandersetzung mit irgend einer neuen Variation von Thesen. Vielmehr sahen sich alle Lager, ob konservativ oder progressiv, ob hochkirchlich oder kongregationalistisch ausgerichtet, ob eher ökumenisch-weltoffen oder evangelikal-innergemeindlich orientiert, anhand dieses Buches erneut der Provokation ausgesetzt, die sich in der Begegnung mit dem Leben Jesu selbst stellt. – Und eben das fasziniert letztlich.

Es dauerte mehr als zwanzig Jahre, bis John H. Yoder sich zu einer erweiterten Neuauflage überreden ließ, auf einige der Vorwürfe und Diskussionen eingehend, aber der ursprünglichen Aussage treu bleibend. In der englischsprachigen Welt gehört The Politics of Jesus längst in die Kern-Curricula der größten theologischen Schulen. Theologen aus nicht-mennonitischem Hintergrund haben Yoder neu entdeckt und interpretiert, vor allem Stanley Hauerwas, und so zu einer regelrechten Renaissance des Werkes im 21. Jahrhundert beigetragen. Unzählige Dissertationen sind zur Theologie Yoders verfasst worden, viele weitere sind in Arbeit, ein Ende ist nicht abzusehen. Keine davon lässt dieses Schlüsselwerk des Autors aus, auch wenn die dort zugrunde gelegten exegetischen Erkenntnisse längst durch neuere Forschungsergebnisse zu ergänzen wären. Der schlichten, manchmal aufregenden, manchmal ärgerlichen Provokation an sich tut das keinen Abbruch.

Ich habe es in den vielen Begegnungen innerhalb des deutschsprachigen Raumes stets bedauert, dass die Neuauflage gerade dieses so wirkmächtigen Buches nicht ins Deutsche übersetzt worden ist: in ökumenischen Begegnungen, in denen die mennonitisch-friedenskirchliche Position verdeutlicht werden sollte, in theologischen Auseinandersetzungen mit Mainstream-Ansätzen zur Christologie, in polarisierten Debatten zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethikern – gerade hinsichtlich der Möglichkeit zur Gewaltfreiheit, in der Lehre mit Studierenden, auch in der Darstellung einer dezidierten Position christlicher Ethik im interreligiösen Dialog. – Diese Lücke ist mit der hier vorliegenden Übersetzung geschlossen. Dafür bin ich dem Verlag sehr dankbar.

Fernando Enns

Vorwort von Jürgen Moltmann

Mit der längst fälligen deutschen Übersetzung dieses Buches von John Yoder kommt endlich die mennonitische, „täuferische“ und friedenskirchliche Stimme in unseren gegenwärtigen theologischen und politischen Diskussionen zu Gehör. Das ist in mehrfacher Hinsicht von großer Bedeutung:

1. Es ist höchste Zeit, dass die evangelische Theologie und die evangelischen Landeskirchen in Deutschland ihre vierhundert Jahre alten Vorurteile gegenüber dem „linken Flügel“ der Reformation revidieren und die Verurteilung der angeblichen „Schwärmer“ und „Rottengeister“ aufheben. Auch diese radikalen Gruppen der Reformation gehören zur Reformation und sind Zeugen des Evangeliums Christi. Wie mächtig jedoch uralte Vorurteile sind und wie schwer es ist, sie aufzuheben, zeigte sich 1980 bei der 450. Jahrfeier der Confessio Augustana in Augsburg: ökumenisch war nur das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche im Blick, die „Täufer“ wurden sowohl historisch wie gegenwärtig vergessen. Es war den Veranstaltern viel daran gelegen, die römische Verurteilung der Reformationskirchen aufzuheben. Sie dachten aber nicht daran, die in ihrem eigenen Bekenntnis ausgesprochenen Verdammungen der „Täufer“ aufzuheben oder auch nur zur Diskussion zu stellen. Verdammen kann man nur, wenn man seines Urteils ganz gewiss ist. In der Frage der Kindertaufe (Confessio Augustana Art. IX), der Bewahrung bis ans Ende (Art. XII), der Todesstrafe und des gerechten Krieges (Art. XVI) sowie der Allversöhnung und des Chiliasmus (Art. XVII) ist die Diskussion sowohl exegetisch wie systematisch weiter gegangen. Die Verdammungsurteile der Confessio Augustana lassen sich nicht mehr aufrecht erhalten. Die Schwerfälligkeit der Landeskirchen, sich für das Zeugnis der täuferischen Gemeinden zu öffnen, ist auch in historischer Schuld begründet, wurden diese doch in der Reformationszeit von evangelischen und katholischen Kirchen und Obrigkeiten gemeinsam verfolgt, unterdrückt und ausgerottet!

In John Yoders Buch kommt das mennonitische Zeugnis des Evangeliums so klar zum Ausdruck, dass wir im Blick auf diese Verurteilungen und Verfolgungen beschämt und zugleich von dieser Last der Vergangenheit befreit werden.

2. Evangelische Theologie versteht sich als Theologie, die allein und ganz dem Evangelium verpflichtet ist, wie es in der Heiligen Schrift bezeugt ist. Der Stachel im Evangelium aber ist Jesu Bergpredigt. Wie kommt es, dass nach Kreuzigung und Auferstehung Jesu und nach der Verkündigung vom darin offenbaren Heil durch die Urgemeinde und durch Paulus die synoptischen Evangelien noch einmal auf den irdischen Jesus zurückkommen, sein Evangelium vom Reich für die Armen erzählen, seinen Weg in die Passion für die Glaubenden und ihre Nachfolge verbindlich machen und also die Glaubenden in die Gemeinschaft mit dem Volk Jesu bringen? Die Bergpredigt ist mit ihrer bedingungslosen Seligpreisung der Armen, Hungrigen und Weinenden und mit ihrem rücksichtslosen Anspruch auf Feindesliebe und Gewaltlosigkeit immer ein Ärgernis in der Geschichte von Theologie und Kirche gewesen. Im Mittelalter half man sich mit der Verteilung der Nachfolgeethik für die Orden und einer allgemeinen Naturrechtsethik für die Weltchristenheit. Die reformatorische Theologie verinnerlichte die Seligpreisungen und verdrängte die Forderungen auf das private Leben im Rahmen der jeweiligen politischen Ordnung. Auch die neue Begründung der christlichen Ethik auf die Herrschaft Christi über das ganze Leben (Karl Barth) lassen den irdischen Jesus und die Nachfolge zurücktreten. Selbst Dietrich Bonhoeffer wandte sich von der Nachfolgeethik, die er 1938 wiederentdeckt hatte, ab, als er in den aktiven Widerstand gegen die Hitlerdiktatur ging. Mit John Yoders Buch über die „Politik Jesu“ gewinnen wir einen neuen Zugang zum irdischen Jesus, zum Weg Jesu und zu einer Christopraxis, ohne die der auferstandene Herr und die Christologie nicht verstanden werden können. Yoder zählt sich selbst zur exegetischen Schule des „biblischen Realismus“. Manche seiner neutestamentlichen Thesen mögen heute umstritten sein, wie zum Beispiel die historische These vom Jubeljahr, das Jesus in Nazareth ausgerufen hat, oder die „Theologie der Mächte“, die Yoder bei Paulus findet. Aber unumstritten ist sein Gedanke von der „messianischen Ethik“ Jesu und weiterführend ist seine Auslegung der Bergpredigt von der Praxis damals zur Praxis heute. Denn durch die Bergpredigt wird unsere Wirklichkeit nicht nur anders interpretiert, sondern vielmehr verändert. Sie wird verändert, weil sie im Anbruch des Reiches Gottes erfahren wird.

3. Der Friedensdienst der Kirche Christi ist heute aktueller denn je. Nachdem die europäische Entspannungspolitik der Großmachtpolitik der Supermächte zu weichen beginnt, werden die alten Fronten wieder aufgerichtet. Was dient dem Frieden: „Ohne Rüstung leben“ und also Abrüsten oder „den Frieden sichern“ und also Nachrüsten zwecks Abschreckung potenzieller Feinde? Unter den Bedingungen atomarer Weltvernichtung können die alten Traditionen des „gerechten Krieges“ oder der optimistische Pazifismus nichts mehr sagen. Keiner kann sicher sein, dass seine Entscheidung dem Frieden und nicht dem Krieg dient. Die Risiken sind auf beiden Seiten unübersehbar geworden. Darum wird von Theologen und Kirchen auch nicht eine bessere Kalkulation der Gefahren erwartet, als die Regierenden leisten können, sondern moralische Vollmacht und eine Hoffnung, die gewiss macht. Doch wo ist der Ansatzpunkt dafür?

John Yoder fordert uns mit diesem Buch auf, in der Nachfolge Jesu zu handeln und im Horizont des anbrechenden Reiches Gottes zu urteilen. Auf diesem Weg erschließt sich die „Politik Jesu“. Die Nachfolge Jesu kann nur mit ganzer Seele, ganzem Herzen und allen Kräften angetreten werden. Sie ist ungeteilt und unteilbar. Die Nachfolge Jesu ist teure Gnade (Bonhoeffer): Sie schließt Verachtung, Verfolgung, Folter und Hinrichtung nicht aus, sondern ein. Wehrlosigkeit und Leidensbereitschaft gehören zusammen. Das haben die Täufer immer gewusst. Sie sind aber nur die Kehrseite des schöpferischen Lebens für den Frieden im Anbruch des Reiches Gottes. Das Nein zu Rüstung, Abschreckung und Kriegführung ist immer nur die Kehrseite eines größeren und umfassenderen Ja zum Leben. Christen aus allen kirchlichen, theologischen und politischen Lagern können von den Mennoniten lernen, was aktiver Friedensdienst in unserer Weltsituation heißt.

Tübingen, 7. März 1981 Jürgen Moltmann