Sterben in Mexiko

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Der mexikanische politische Karikaturist Antonio Helguera veröffentlichte im März 2010 in La Jornada eine Zeichnung, die diese amtliche Logik des Todes in dem Drogenkrieg Mexikos und der Vereinigten Staaten erfaßt. Der Titel der Karikatur lautet Morir en México, Sterben in Mexiko. Acht unregelmäßig aufgestellte Grabsteine füllen den Rahmen und tragen die Inschriften: »Sie muß an etwas beteiligt gewesen sein; Es war eine Bandenfehde; Sie brachten sich gegenseitig um; Was machte er dort? Was hatte er um diese Zeit dort zu suchen?; Rechnungen wurden beglichen; Sie kleidete sich provozierend; Wer weiß, worin er verwickelt war; Sie war eine Hure.«

Die amtliche Todeslogik versucht die Legitimität der Armee und der Bundespolizei zu sichern und dadurch Calderón und seine Vollstrecker in eine »diskursive Schutzschicht« zu hüllen, an der jede Untersuchung abprallt. In dem Drogenkrieg sind die Toten an ihrer Ermordung selbst schuld. Und wer auch immer es wagt, etwas anderes zu behaupten, der wird wahrscheinlich als letztes in seinem Leben den Lauf einer AK 47 sehen.

Aber die Todesschwadrone des Drogenkriegs machen Fehler. Und die Namen der Toten warten.

Man sollte nicht vergessen, daß die Vereinigten Staaten von Amerika 1846 in Mexiko einmarschierten und die Hälfte des Landes eroberten. Mexikaner haben das nicht vergessen; in den USA wissen es viele nicht einmal. US-Truppen besetzten 1914 während der Mexikanischen Revolution den Hafen von Veracruz, um Venustiano Carranza in seinem Krieg gegen Pancho Villas Nördliche Division und Emiliano Zapatas Befreiungsarmee des Südens zu unterstützen. US-amerikanische Intervention in Mexiko ist aufgrund langer historischer Erfahrung unter der Bevölkerung gefürchtet und gehaßt; alle Sektoren der politischen Klasse benutzen sie, um nationalistische Stimmung zu machen, aber sie ist vor allem ein klares Faktum des mexikanischen Alltagslebens. Beispiele dafür sind das North American Free Trade Agreement (das Freihandelsabkommen NAFTA) und der Drogenkrieg.

Das Blutvergießen und das Chaos, die die Drogenlieferungen von Mexiko in die Vereinigten Staaten begleiten, sind untrennbar verbunden mit der stetigen Nachfrage innerhalb der US-amerikanischen Bevölkerung nach den klassischen illegalen Produkten, die man verwenden kann, um high zu werden oder Vergessen zu finden, und mit dem Beharren US-amerikanischer Politiker auf einer ideologischen Verpflichtung zur Prohibition, das deren Nutzen für soziale Kontrolle zu verschleiern sucht.

Soziale Kontrolle? Klingt das nicht übertrieben oder gar nach Verschwörungstheorie? Die Menschenrechtsanwältin Michelle Alexander veröffentlichte 2010 eine Studie zu den Auswirkungen des Drogenkriegs auf Farbige, besonders Afroamerikaner, unter dem Titel The New Jim Crow: Mass Incarceration in the Age of Colorblindness. Sie zeigt, daß sich die Sklaverei nach dem Bürgerkrieg in ein auf rassischer Diskriminierung gestütztes Kastensystem entwickelte, das wiederum während der Bürgerrechtsbewegung und darüber hinaus zu der Drogenkriegspolitik der Masseninhaftierung von Farbigen führte. »Wir haben das Kastensystem der Rassen in Amerika nicht beendet; wir haben es bloß umgestaltet«, schreibt Alexander. Verurteilungen wegen Kapitalverbrechen, daran erinnert sie uns, öffnen die Tür für alle Arten der Diskriminierung: Aberkennung des Wahlrechts, Verbot, als Geschworener tätig zu sein, keine Zahlung von Erziehungsgeldern oder Benachteiligungen bei der Arbeits- und Wohnungssuche. »Ziemlich spät«, schreibt Alexander, »erkannte ich, daß sich Masseninhaftierung in den USA tatsächlich zu einem erstaunlich umfassenden und wohldurchdachten System der rassifizierten Sozialkontrolle herausgebildet hatte, das in gewisser Weise der Jim-Crow-Ära [die Zeit der offenen Rassendiskriminierung] ähnelt.«

Präsident Ronald Reagan erklärte seinen Krieg gegen Drogen im Februar 1982, zu einer Zeit, da der Drogengebrauch in den USA zurückging, Gefängnisstrafen an Bedeutung zu verlieren schienen, Miami in Kokaingeld und Blut schwamm und Zentralamerika linke Revolutionen um sich griffen. Der Drogenkrieg sollte all das ändern. Zwischen 1980 und 2005 stieg die Zahl der wegen Drogenbesitz Angeklagten in US-Gefängnissen um 1100 Prozent. Ende 2010 waren im ganzen Land über 2 Millionen inhaftiert. Die Vereinigten Staaten haben die höchste Inhaftierungsrate der Welt. 2009 schrieb Marc Mauer von der gemeinnützigen Organisation The Sentencing Project: »Die Zahl der Menschen, die wegen Drogendelikten einsitzen, ist heute größer als die Zahl der wegen aller anderen Delikte Inhaftierten im Jahr 1980.« Und inwiefern ist dies eine rassifizierte Form sozialer Kontrolle? Laut dem Sentencing Project machen Afroamerikaner nur 14 Prozent der regelmäßigen Drogenbenutzer aus, aber 56 Prozent derjenigen, die wegen Drogendelikten in Staatsgefängnissen sind; Afroamerikaner verbüßen wegen Drogendelikte fast so viel Haftzeit in Bundesgefängnissen (58,7 Prozent) wie Weiße wegen Gewaltverbrechen (61,7 Prozent). Inzwischen sitzen mehr Afroamerikaner hinter Gittern, als 1850 versklavt waren. Es gibt nicht nur das »Racial Profiling« (Fahndung nach rassischen Kriterien) auf den Straßen, sondern für lange Zeit stand auf den Besitz von fünf Gramm Crack eine gesetzlich vorgeschriebene fünfjährige Gefängnisstrafe; zwischen der Verurteilung für Crack und Kokainpulver gab es eine Disparität von 100 zu 1, was bedeutete, daß man 100 Gramm Kokain besitzen mußte, um die gleiche Mindeststrafe zu bekommen wie für den Besitz von einem Gramm Crack. (Das Gesetz wurde am 10. August 2010 geändert: Jetzt sind es 28 Gramm Crack, für die das Gesetz fünf Jahre Knast zwingend vorschreibt.)

Die Anwendung von Verboten für eine rassifizierte Sozialkontrolle eröffnete die gegenwärtige Ära der Drogenprohibition. Das erste Drogenverbotsgesetz überhaupt war eine städtische Verordnung von 1875 in San Francisco und betraf Opium; mit dem Verbot kriminalisierte es chinesische Arbeitsmigranten und beeinträchtigte ihre lokale Wirtschaft. Das Gesetz kam nach mehr als zwei Jahrzehnten diskriminierender Erlasse, die in Kalifornien gegen chinesische Arbeiter beschlossen worden waren, und sechs Jahre vor dem Chinese Exclusion Act (Gesetz zum Ausschluß der Chinesen) von 1882. Der Drogenkrieg hat seine Wurzeln im Rassismus.

Um 1900 konnte man in den USA Opium, Morphium, Heroin, Marihuana und Kokain bei Apotheken über den Ladentisch oder direkt von Produzenten über Versandkataloge kaufen. Das sollte sich innerhalb von zwanzig Jahren ändern. Auch wenn Weiße der Oberschicht Opiate, Kokain und Marihuana konsumierten, brachte der prohibitionistische Eifer jede Droge mit Farbigen aus der Arbeiterklasse in Verbindung: Opiate mit Chinesen, Kokain mit Afroamerikanern und Marihuana mit Mexikanern. Der britische Historiker Richard Davenport-Hines schreibt in seinem Buch The Pursuit of Oblivion: A Global History of Narcotics: »Die Vorstellung von kokainisierten Schwarzen von Plantagen und Baustellen, die Jagd auf weiße Frauen machen, löste schon bald eine rassistische Panik aus. Ein Autor in dem Medical Record warnte zum Beispiel davor, ›bislang friedfertige, gesetzestreue Neger‹ würden durch Kokain in eine ›ständige Bedrohung‹ verwandelt, deren ›sexuelle Begierden gesteigert und pervertiert sind‹«.

Der Harrison Act von 1914 schrieb Registrierung, Besteuerung und eine ärztliche Verordnung für die meisten Drogen vor. Der Volstead Act von 1919 leitete die Ära der Prohibition ein, die auch Alkohol einschloß, und bestand bis 1933. Harry Anslinger war der erste »Drogenzar« und leitete die Drogenbekämpfungsbehörde Federal Bureau of Narcotics von 1930 bis 1962. Er setzte ab 1937 die Kriminalisierung von Marihuana mittels Desinformation, Lügen und Einschüchterungen durch. Er verleumdete Medizinwissenschaftler, die einen Report veröffentlicht hatten, der besagte, daß der Gebrauch von Marihuana »nicht zu irgendeiner physischen, mentalen oder moralischen Degeneration führt«, als »widerwärtige Personen, die im illegalen Marihuana-Handel verwickelt sind« (zitiert in The Pursuit of Oblivion). Anslingers Vorhaben fiel mit der vielleicht ersten Operation der CIA zusammen, da sie bewußt Drogenhändler, in diesem Fall korsische Gangs, finanzierte und bewaffnete, damit sie Gewerkschaftler und Kommunisten, die in Marseille Hafenarbeiter organisierten, angriffen.

In den fünfziger und sechziger Jahren experimentierten Millionen Amerikaner mit Drogen. Pulsierende Gegenkulturen entstanden innerhalb einer breiteren Bewegung, die die Normen und Konventionen einer rigiden, rassistischen und repressiven Gesellschaft verwarf. Die Vertreter der herrschenden Kulturen reagierten darauf, indem sie weiterhin den Drogenkonsum verteufelten, alle Formen des Protests gegen Rassismus und den Vietnamkrieg mit Kriminalität – Drogenkonsum – vermischten und den sogenannten »War on Drugs« begannen.

Zwei Monate nach seinem Amtsantritt setzte Richard Nixon die »Special Presidential Task Force Relating to Narcotics, Marijuana and Dangerous Drugs« ein. Diese Arbeitsgruppe teilte in einem Bericht vom 6. Juni 1969 die Ansicht mit, daß Mexikaner »für das Problem des Marihuana- und Drogenmißbrauchs verantwortlich« seien. Sie empfahl, Mexiko »in ein Programm der Entlaubung von Marihuanapflanzen zu zwingen«. Wie sollte man das hinkriegen? Kate Doyle vom National Security Archive drückte es intern so aus: »Das beste Mittel, um Mexiko gefügig zu machen, ist ein Überraschungsangriff an der mexikanischen Grenze durch ein massives Polizeiaufgebot. Wir haben auch schon einen Deckname: ›Operation Intercept‹.«

Nixon startete das Unternehmen am 21. September 1969. Der Plan war einfach: Jede Person, jedes Auto und Flugzeug, die aus Mexiko im Süden der USA eintrafen, sollte streng kontrolliert werden. Damit war der Verkehr an der 3200 Kilometer langen Grenze praktisch stillgelegt. Nixon informierte den mexikanischen Präsidenten Gustavo Díaz Ordaz – der das Armeemassaker an Hunderten von Studenten am 2. Oktober 1968 auf dem Tlatelolco-Platz anordnete – nicht über seine Pläne. Die einseitige Entscheidung empörte die Mexikaner, aber die Staus an der Grenze und die drohenden Nachteile für einheimische Exporteure brachten die mexikanische Regierung schnell dazu, sich auf ungleiche und nachteilige Verhandlungen einzulassen. Man entsandte eine Delegation nach Washington, und am 10. Oktober hatte die Regierung Díaz Ordaz die Regierung Nixon »überzeugt«, die Operation Intercept abzubrechen, während die Regierung Nixon ihr mexikanisches Gegenüber »überzeugte«, der Operation Cooperation und dadurch dem »Krieg gegen Drogen« beizutreten – ein Ausdruck, den Nixon zum erstenmal öffentlich am 17. Juni 1971 verwendete.

 

Sieben Jahre nach der Operation Intercept, im September 1976, begann die mexikanische Regierung ein militärisches Entlaubungsprogramm mit dem Namen Operation Condor. Fünftausend Soldaten und 350 Bundespolizisten arbeiteten zusammen mit dreißig in Mexiko stationierten Agenten der amerikanischen Drogenbekämpfungsbehörde DEA; mit vierzig Flugzeugen – einige davon aus den USA – attackierten und zerstörten sie Zehntausende Hektar Hanffelder in Sinaloa, Chihuahua und Guerrero.

Zu der Zeit gab es keine bekannten transnationalen Drogenkartelle in Mexiko. Die relativ kleinen Marihuanapflanzer und -händler flohen jedoch vor der Operation Condor aus den zerklüfteten und einsamen Bergen von Sinaloa und gingen in Städte wie Guadalajara, Tijuana und Ciudad Juárez. Sobald die Soldaten wieder verschwunden waren, bepflanzten die Dagebliebenen die abgebrannten Hanffelder neu.

Vor der Operation Condor bauten Sinaloaner in ihrer Region Marihuana an und schmuggelten es in die USA. Nach der Geheimdienstoperation bauten Sinaloaner Marihuana in Sinaloa, Sonora, Chihuahua, Guerrero, Michoacán, Jalisco, Durango, Zacateas und Baja California an und schmuggelten es in die USA. Sinaloaner kontrollierten während der achtziger Jahre jede größere Drogenorganisation im Lande. Sie leiteten das Guadalajara-Kartell, das Tijuana-Kartell, das Juárez-Kartell und natürlich das Sinaloa-Kartell. Zu Beginn der neunziger Jahre erschien mit dem Aufstieg von Carlos Salinas und der Verabschiedung des Freihandelsabkommens NAFTA das Golf-Kartell auf der Bühne. Das Kartell La Familia Michoacana erklärte 2006 seine Unabhängigkeit, war aber Anfang 2010 2011 so gut wie zerschlagen.

Kokaingeld erschuf das Miami der siebziger Jahre, aber dann wurde das Blutvergießen in den Straßen zu heftig – die Zahl der Morde stieg von 104 im Jahr 1976 auf 621 1981 –, so daß die US-Regierung entschied, diese Art Spielerei mit Waffen nicht länger zu dulden. Auftritt Reagan und seine Kriegserklärung gegen Drogen. Die Reagan-Administration unterbrach mit einem massiven Aufgebot an Bundesagenten die direkten Handelsrouten von Kolumbien und der Karibik nach Florida. Die Drogen kamen trotzdem. Kein Club in Miami war ohne Koks. Die kolumbianischen Kokainschmuggler schauten nach Mexiko und seiner langen, menschenleeren Grenze mit den Vereinigten Staaten. Dank der Operation Condor hatten die Marihuanahändler aus Sinaloa längs der Grenze Netzwerke für den Schmuggel aufgebaut. Pot wurde mehr denn je geliefert und nun zusammen mit Kokain aus Kolumbien.

Reagans Drogenkrieg, so Michelle Alexander, konsolidierte die rassistische Untermauerung der Prohibition zu einem neuen rassischen Kastensystem. Er weitete auch die »Sicherheitspolitik« – Aufstandsbekämpfung als Stellvertreterkriege – und ihr zynisches Verhältnis zum Drogenhandel auf Mittel- und Südamerika aus. Es ist sehr gut dokumentiert in Büchern wie Alfred McCoys The Politics of Heroin: CIA Complicity in the Global Drug Trade, daß der US-Geheimdienst während der fünfziger und sechziger Jahre in Südostasien und in den siebziger und achtziger Jahren in Afghanistan und Zentralamerika Handel mit Rauschgift betrieb, um antikommunistische Todesschwadrone zu finanzieren. In den achtziger Jahren unterstützte die CIA auch die Aufstandsbekämpfung in Nicaragua, die aus dem Kokainschmuggel bezahlt wurde. Robert Parry und Brian Barger waren die ersten Reporter, die 1985 für die Associated Press über diese Geschichte berichteten. Beamte der Regierung Reagan starteten eine Verleumdungskampagne gegen beide Reporter und sorgten für ihre Entlassung aus der Presseagentur. Von April 1986 bis April 1989 hielt der Unterausschuß des US-Senats zu Rauschgift und Terrorismus Anhörungen ab und untersuchte die Anschuldigungen, die CIA hätten Truppen zur Bekämpfung von Aufständen in Nicaragua unterstützt, die in Kokainschmuggel in die USA involviert waren.

Der am 13. April 1989 veröffentlichte Ausschußbericht fand unter anderem »die Beteiligung am Drogengeschäft von Individuen, die mit der Contra-Bewegung in Verbindung standen«. Außerdem »Zahlungen des US-Außenministeriums an Drogenhändler, Gelder, die der Kongress für humanitäre Hilfe an die Contras bewilligt hatte, in einigen Fällen sogar, nachdem die Drogenhändler von Strafverfolgungsbehörden wegen Drogendelikten angeklagt worden waren, in anderen Fällen, als noch Ermittlungsverfahren derselben Behörden gegen die Händler liefen.« Die drei wichtigsten Tageszeitungen in den Vereinigten Staaten brachten kurze Artikel auf den hinteren Seiten: Washington Post, Seite A20; Los Angeles Times, Seite A11; New York Times, Seite A8. Peter Kornbluth vom National Security Archive schrieb im Columbia Journalism Review, daß »der Bericht des Kerry Komitees in den Schubladen verschwunden war. So wurde die Gelegenheit verpaßt, Hinweisen nachzugehen und die Behinderungen durch die CIA und das Justizministerium, von denen die Ausschußmitglieder bei ihren Ermittlungen erfuhren, zur Sprache zu bringen.« Beamte der Reagan-Administration verspotteten den Vorsitzenden des Unterausschusses, Senator John Kerry, öffentlich, und die Medien zogen nach; so nannte etwa Newsweek Kerry einen »verschwörungsgeilen Narren«.

Im Juli 1995, nachdem er im Jahr zuvor eine preisgekrönte Enthüllungsstory zu den kalifornischen Gesetzen zur Beschlagnahme von Drogenvermögen unter dem Titel »The Forfeiture Racket« (Der Beschlagnahmeschwindel) veröffentlicht hatte, entdeckte der Reporter Gary Webb, der damals für die Tageszeitung San Jose Mercury News arbeitete, Hinweise auf die CIA, die Contras und Kokaintransporte nach Los Angeles, und ging der Geschichte nach. In seinen Artikeln war nicht nur zu lesen, daß die CIA bekannte Drogenhändler in Nicaragua unterstützt hatte, sondern zum erstenmal konnte Webb auch die Ankunft dieser Drogen in Form von Crack-Kokain in afroamerikanischen Stadtvierteln in Central South Los Angeles zurückverfolgen. Er veröffentlichte seine Artikelserie »The Dark Alliance« im August 1996 und sah sich plötzlich den mächtigen Komplizen des Schweigens gegenüber.

Dieselben drei Zeitungen, die 1989 den Report des Kerry Komitees ignoriert hatten (Washington Post, Los Angeles Times, New York Times), beauftragten ganze Teams erfahrener Journalisten und veröffentlichten zusammen mehr als 30000 Worte – nicht um die Story zu verfolgen, die Gary Webb aufgedeckt hatte, sondern um ihn zu fertigzumachen. Einer der Reporter der Washington Post, der die Fakten in »The Dark Alliance« als falsch entlarven sollte, war Walter Pincus, der in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren für die CIA Jugendgruppen bespitzelt hatte.

Nick Schou beschreibt in seinem Buch Kill the Messenger: How the CIA’s Crack-Cocaine Controversy Destroyed Journalist Gary Webb, wie die Washington Post, Los Angeles Times und New York Times Artikel brachten, die sich an Widersprüchen in Aussagen von verurteilten Drogenverbrechern festbissen, um die Glaubwürdigkeit von Webb und der San Jose Mercury News zu erschüttern. Die Zeitung sollte gezwungen werden, einen Rückzieher zu machen und Webb zu degradieren; die Herausgeber gaben dem Druck nach und versetzten Webb als Lokalreporter in die Kleinstadt Cupertino. Bald danach kündigte er. Diskreditiert und außerstande, einen Job bei einer Zeitung zu bekommen, arbeitete Webb für den Kalifornischen Senat, dann kurzzeitig für die Sacramento News and Review, bevor er sich am 10. Dezember 2004 mit einem Revolver Kaliber 38 in den Kopf schoß.

1998, nur Tage nachdem die San Jose Mercury News Webbs Kündigung bekanntgegeben hatte, veröffentlichte die CIA ein Statement, das ihre Zusammenarbeit mit Drogendealern rechtfertigte. Einen Monat später erschien der erste Band eines CIA-Reports, der diese Aussage stützte. Einige Monate später kam der zweite Band heraus, der dem widersprach, was Agenten zuvor gesagt und geschrieben hatten, und zugab, daß Geheimdienstagenten zwischen 1982 und 1995 mit bekannten Drogenhändlern zusammenarbeiteten, die die Contras unterstützten, und daß die CIA eine Vereinbarung mit dem Justizministerium getroffen hatte, keine Drogendeals ihrer »assets« (Agenten) angeben zu müssen. Es gab keinen Skandal, keinen Aufschrei der Öffentlichkeit. Die größeren Tageszeitungen beschäftigten keine Teams investigativer Journalisten, um weitere Nachforschungen zu den vorausgegangenen zwölf Jahren der Lügen und Komplizenschaft der CIA bei Drogengeschäften anzustellen. Schweigen.

Man muß nicht von Verschwörungstheorien oder gar Verschwörungen ausgehen; die anerkannten Tatsachen sind erschütternd genug. Man muß nicht über die möglichen Pläne oder Absichten von Ronald Reagan und seinen Regierungsbeamten bei der Kriegserklärung 1982 grübeln. Dreißig Jahre später sind Masseninhaftierungen durch Drogengesetze das neue Kastensystem rassischer Diskriminierung in den USA geworden, und das Chaos, das das illegale Drogengeschäft immer begleitet, ist längst nach Mexiko übergeschwappt. Sollte es wirklich einen Krieg gegen Drogen geben, würden die Drogen gewinnen: Der U.S. National Survey on Drug Use and Health (Nationale Erhebung zu Drogenkonsum und Gesundheit) von 2009 schätzte, daß 21,8 Millionen Menschen ab dem Alter von 12 in dem Monat vor der Veröffentlichung des Reports zumindest eine illegale Droge konsumiert hatten. The United Nations Office on Drugs and Crime (Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung) äußerte in seinem World Drug Report 2009 die Vermutung, daß weltweit etwa 170 bis 250 Millionen Menschen illegale Drogen benutzen. Die USA sind die größten Konsumenten der Welt von jeder auf dem Markt verfügbaren Droge. 2009 waren mehr Leute in den USA high als in irgendeinem Jahr jemals zuvor, und das Jahr war auch das bis dahin blutigste in Mexikos Drogenkrieg. Die direkte Beziehung zwischen dem Drogenkonsum in den USA, staatlichen Verboten und dem in Mexiko wütenden Mord und Terror läßt sich nicht leugnen. Manche Drogen können Schaden zufügen, aber die Prohibition tötet.

Mit voller Unterstützung vom US Kongress haben fast alle Regierungen Drogenkriegsstrategien wie Auslieferungen und die jährliche Zentrifizierung, die dezentrifizierten Ländern mit dem Verlust der Auslandshilfe und Sanktionen drohen, als Mittel benutzt, um weniger mächtige Nationen zur Unterstützung von Verboten und US-Interventionen zu zwingen. Richard Davenport-Hines schreibt dazu in The Pursuit of Oblivion: »Die Verbotspolitik hat legale, wenn auch gefährliche Pharmaka zum lukrativsten und am straffsten organisierten Schwarzmarkt der Welt gemacht. Im wesentlichen hat sich das Drogenverbot als eine Methode informeller amerikanischer kultureller Kolonisierung erwiesen.«

Der Tod ist lebenswichtig in Mexiko. Repräsentationen des Todes sind ein untrennbares Kennzeichen des mexikanischen Alltagslebens, der Populärkultur und nationalen Identität.

Da ist etwa der Tag der Toten am 2. November, wenn die Seelen der Toten zurückkehren und Familien und Freunde sie mit ihrem Lieblingsessen und von Kerzen erleuchteten Altären ehren. In den Gemeinden einiger Regionen ist der »Día de los Muertos« der wichtigste religiöse Tag des Jahres. Die Feierlichkeiten sind nationale Ereignisse, an denen Millionen Menschen teilnehmen. Die Rituale sind als unverwechselbar mexikanisches Erlebnis auch zu Hauptattraktionen für Touristen aus aller Welt geworden. Mexikaner und Chicanos in den Vereinigten Staaten feiern den Tag der Toten zur Bekräftigung ihres mexikanischen Nationalstolzes und ihrer kulturellen Identität. Das beherrschende Bild auf Skulpturen, Opfergaben und Kunstwerken zum Tag der Toten ist der Schädel; besonders beliebt sind eßbare, in den grellsten Farben kunstvoll dekorierte Zuckerschädel.

Dann ist da la nota roja (Die Rote Notiz), Zeitungen mit Polizeiseiten oder blutigen Nachrichten, eine eigene Industrie, die von der täglichen Veröffentlichung grausiger Titelfotos der neuen Toten lebt: Autounfälle, Messerstechereien, Schlägereien und immer häufiger Exekutionen. In Mexiko City und anderen Städten hängen Verkäufer diese Zeitungen an Kreuzungen auf, wo Passanten den ganzen Tag über vorbeikommen, zusammenstehen und gucken. In manchen Kleinstädten wird die Verteilung auf den Straßen durch VW-Käfer gesichert, auf deren Dächer Megaphone montiert sind. Mit der einstudierten Aufregung eines Zeitungsverkäufers werden die Schlagzeilen ausgerufen wie etwa diese, die ich einmal in Tlapa im Bundestaat Guerrero hörte: »¡Mira la sangriente muerte que tuvo!« (»Seht, wie blutig ihr Tod war!«)

 

Eine der sofort erkennbaren Ikonen der mexikanischen Populärkunst ist das Skelett. Der Kupferstecher Jose Guadalupe Posada (1854-1913) verwendete Totenschädel und Skelette, um während der Diktatur von Porfirio Díaz die mexikanische Elite zu verspotten und volkstümliche Traditionen wie den Fandago zu feiern. Posada beeinflußte Mexikos berühmte Muralisten Diego Rivera und José Clemente Orozco, die auch in ihre ansonsten sozialrealistischen Wandbilder Skelette einfügten. In Posadas Werk wie bei den Zuckerschädeln für den Tag der Toten sind die Bilder des Todes manchmal festlich, manchmal ironisch, aber nie schaurig.

Mexikos berühmtester Roman, Juan Ruolfos Pedro Páramo, spielt in einem Dorf der Toten. Der Protagonist, Juan Preciado, verspricht seiner sterbenden Mutter, daß er seinen Vater, Pedro Páramo, in dem Ort namens Comala ausfindig machen wird. Sein Vater ist seit Jahren tot, ermordet von einem nicht wiedererkannten Sohn, dem er das Geld für die Beerdigung seiner Frau verweigert hatte. Preciado selbst stirbt, als er die Wahrheit begreift: Jeder dort, den er getroffen und mit dem gesprochen hat, diejenigen, von denen er die Geschichte des Lebens und Todes seines Vaters erfahren hat, sind tot.

Tausende von Menschen in ganz Mexiko verehren La Santa Muerte (die Heilige Frau Tod). Die einen bitten sie, Verwandten zu beizustehen, die die Wüste von Arizona durchqueren, um Arbeit zu finden oder zu ihren alten Jobs zurückzukehren. Andere bitten um Schutz für Angehörige in Gefängnisse oder gegen Gefahren und Gewalt im Alltag. Manche bitten um Hilfe bei Aufnahmeprüfungen, um Arbeit, Glück oder Liebe. Viele tätowieren das Bild der Heiligen auf die Brust, Schulter oder den Rücken. Das große, ausgemergelte Skelett, gekleidet in Schwarz oder Weiß oder Rot, hält meist eine Weltkugel in der einen und eine Sense in der anderen Hand.

La Santa Muerte ist berühmt als die Schutzheilige der Killer, Drogenbosse und Diebe, aber ein Besuch bei einem ihrer Hauptaltäre in Mexiko gibt einen anderen Eindruck. An einem Julitag 2010 sprach ich mit Enriqueta Romero Romero, die sich um La Santa Muertes Altar in dem armen Arbeiterviertel Tepito in Mexiko Stadt kümmert. Romero spricht vom Tod und La Santa Muerte mit Ehrfurcht und Zärtlichkeit. »Den Tod hat es immer gegeben«, sagte sie, »und das ist etwas Schönes am Leben, daß wir geboren werden und sterben.« Sie nennt La Santa Muerte mi doña flaquita (etwa »meine liebe dünne dürre Herrin«) und lächelt breit, wenn ihre Besucher denselben Namen benutzen. Während unseres Gesprächs schaute eine ihrer Töchter mit ihrem Neugeborenen herein, und Romero nahm das Baby in die Arme und hielt es hoch, küßte es und hielt es wieder hoch, wobei sie ausrief: »Meine kleine Prinzessin, mein kleiner Schatz.« Man konnte sich wohlfühlen bei Romeros Altar für La Santa Muerte in Tepito.

Als Emily Rodríguez, eine 28jährige Angestellte bei der Bezirksstaatsanwaltschaft von Mexiko Stadt, vorbeikam, um eine Kerze kaufen, trug sie Bluejeans und ein schwarzes SANTA MUERTE T-Shirt. Sie kommt jedes Jahr am Tag der Toten hierher und hinterläßt eine Flasche Brandy für La Santa Muerte. Zu Hause hat sie auch einen kleinen Altar, vor dem sie täglich betet. Ich fragte sie, warum sie an La Santa Muerte glaubt. »Wenn man in ihre Augen schaut, na ja, sie hat ja nicht wirklich Augen, aber wenn man in ihre Augenhöhlen schaut, erweckt sie Vertrauen«, antwortete Emily. »In unserer prähispanischen Kultur hatten wir unsere Todesgötter. Wir glauben, daß der Tod ein Teil des Lebens ist, es gibt keinen Grund, ihn zu dämonisieren.« Ich fragte sie auch nach der Kultur der Drogengangs und Killer, die behaupten, an La Santa Muerte zu glauben. »Wenn du La Santísima Muerte für schlimme DingeTaten gebrauchstmissbrauchst, werden ihre Geisterdiese zurückkommen und dich verfolgen«, sagte sie. Für sie verkörpere La Santa Muerte Vertrauen, nicht Mord. »Sie gibt mir Selbstvertrauen, und deshalb glaube ich an La Santísima Muerte. Ich persönlich glaube nicht an Menschen, die Heilige werden; daran glaube ich nicht. Aber der Tod ist gewiß.«

Ein Besuch des Altars von La Santa Muerte gewährt Einblicke in die den Mexikanern eigenen Ansichten über den Tod, aber nichts hier kann einem die boshafte Grausamkeit der Drogenkriegsmorde erklären.

»Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts«, schreibt der Anthropologe Claudio Lomitz in seinem Buch Death and the Idea of Mexico, »wurde eine heitere Vertrautheit mit dem Tod ein Eckstein der nationalen Identität Mexikos.«

»Die Nationalisierung einer ironischen Intimität mit dem Tod ist eine einzigartig mexikanische Strategie«, bemerkt Lomitz, und ihre Wurzeln in der mexikanischen Gesellschaftsgeschichte sind tief: »Der Todeskult ist vermutlich das älteste, einflußreichste und authentischste Element der Volkskultur Mexikos.«

Die mexikanische Todessymbolik reflektiert, so Lomitz, Differenzen zwischen starken und schwachen Staaten, imperialen und postkolonialen Staaten und die Tatsache, daß Mexikos Platz zwischen diesen verschiedenen staatlichen Gebilden einzig ist: »Als die größte und reichste der spanischen Kolonien in der Neuen Welt hatte Mexiko nach seiner Unabhängigkeit echte imperiale Ambitionen. Aber als direkter Nachbar der USA wurde das Land als erstes Beute dieser Republik.«

Lomnitz fährt fort: »Wenn der Tod im mexikanischen politischen Diskurs eine drohende Präsenz geworden ist, dann deshalb, weil die politische Kontrolle über das Sterben und Repräsentationen der Toten und des Nachlebens ein Schlüssel zur Formierung des modernen Staates und einer entsprechend modernen Nationalität gewesen ist.«

Wenn »die politische Kontrolle über das Sterben … ein Schlüssel zur Formierung des modernen Staates … gewesen ist«, was sagt dann die Explosion grauenhafter, unkontrollierter Gewalt über den gegenwärtigen mexikanischen Staat aus? Was besagt die inoffizielle Urheberschaft des Staates für so viele dieser Morde? Wenn das bedeutet, daß der Staat schwach ist, wo verläuft dann die Bruchlinie? Oder was ist, könnten wir auch fragen, die Art der Verletzung oder Krankheit, die diese Schwäche verursacht?

Doch trotz aller kulturellen Tiefe und Einzigartigkeit der Einstellungen, Repräsentationen und Todesritualen in Mexiko wäre es ein Fehler, ausschließlich mexikanische Geschichte und Kultur zu untersuchen, um die besonders grausame und grausige Art oder die wachsende Häufigkeit der Drogenmorde in Mexiko zu erklären.

»Jeder Versuch, das, was seit Jahren in Mexiko geschieht, aus der einzigartigen Geschichte des Landes statt als Teil von etwas Horizontalem, Globalem zu verstehen, ist im Irrtum«, sagte mir Claudio Lomnitz in einem Gespräch in Mexiko Stadt. »Bei der Analyse der Formen der Narco-Gewalt ist die mexikanische Geschichte nicht irrelevant, aber es ist notwendig zu wissen, wo sie relevant ist. Narco-Gewalt steht in Zusammenhang mit anderen Formen der Gewalt und beeinflußt sie auch; die Narcos importieren, aber sie exportieren auch. Es gibt eine Dimension in diesem Geschehen, die in Dialog mit einer globalisierten Kultur steht.«

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