Seewölfe - Piraten der Weltmeere 273

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 273
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Impressum

© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-670-2

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1.

„Eiliger Drache über den Wassern“ pflügte durch die tiefblaue See der Karibik. Thorfin Njal, der Mann, den alle Karibik-Piraten nur den Wikinger nannten und den sie samt seinem Schwarzen Segler fürchteten wie die Pest, thronte auf dem Achterdeck seines Schiffes. „Thronte“ – das war das einzig richtige Wort dafür. Er saß nämlich in dem riesigen Sessel aus pechschwarzen Bohlen, der so stabil gebaut und so fest in den Planken des Achterdecks verankert war, daß keine Macht der Welt, auch kein Taifun oder Orkan, ihn dort gegen den Willen des Wikingers herausreißen konnte.

Thorfin Njal liebte diesen Sessel abgöttisch, und außer ihm durfte niemand es wagen, ohne seine ausdrückliche Erlaubnis dort Platz zu nehmen. Von dort aus ließ sich der Schwarze Segler nämlich ausgezeichnet überblicken, ein Umstand, der sich schon oft als äußerst nützlich erwiesen hatte.

Wie stets war der Wikinger in seine grauen Felle gekleidet. Und wie stets trug er seinen schweren kupfernen Helm auf dem mächtigen Schädel, der am Kinn von einem ebenso gewaltigen, eisgrauen Bart umrahmt wurde. Außerdem steckte das riesige Schwert an seiner Seite in einer dikken Lederscheide. Die Waffe, die seine Feinde fast so sehr fürchteten wie den Wikinger selber und die er selbst liebevoll sein „Messerchen“ zu nennen pflegte.

Sein Kupferhelm leuchtete in der Sonne, und auch seine Felle wiesen jene hellgraue Farbe auf, die sie immer zu haben pflegten, wenn Araua, die vierzehnjährige Tochter der Schlangenpriesterin Arkana, sich ihrer angenommen hatte. Und das hatte sie, sofort, nachdem bekannt geworden war, daß der Wikinger mit seinem Schwarzen Segler und seinen Männern die Schlangeninsel verlassen würde, um im Norden nach dem Seewolf zu suchen.

Thorfin Njal hatte das faule Leben auf der Schlangeninsel satt. Er hatte genug von der Tag für Tag scheinenden Sonne der südlichen Breiten. Den Nordmann zog es gen Norden, in die Kälte, in die brüllenden Stürme des Landes, aus dem seine Vorfahren stammten. Außerdem wälzte er zu dieser Stunde auch noch mancherlei andere Pläne unter dem Kupferhelm.

Wie oft, wurde er umringt von seinen vier Wikingern, dem Stör, der wegen seines langen Gesichts so genannt wurde, von Eike, Olig und Arne. Außerdem befanden sich auf dem Achterdeck des Schwarzen Seglers noch der Boston-Mann, so eine Art Erster Offizier des Schwarzen Seglers, und Bill the Deadhead. Letzterer trug wie immer an einer dicken Kette einen gut handtellergroßen Totenkopf aus purem Gold um den Hals. Beide Männer waren fast so groß wie der Wikinger selber und unerschrockene Kämpfer.

Der Boston-Mann prüfte den Wind. Dann warf er einen Blick in die Takelage, wo die pechschwarzen Segel sich blähten.

„Der Wind hält“, sagte er schließlich. „Im Morgengrauen erreichen wir Tortuga, wenn nichts dazwischenkommt.“

Der Wikinger, der zunächst gar nicht zugehört hatte, wandte dem Boston-Mann das Gesicht zu. Er kannte diesen schweigsamen Burschen zur Genüge. Der sagte nie einen Satz zuviel, falls er den Mund überhaupt aufmachte.

„He, Boston-Mann, was soll das denn heißen: wenn nichts dazwischenkommt? Sag mir doch einen dieser verdammten und verlausten Piraten, der uns daran hindern könnte, nach Tortuga zu segeln. Mann, den würde ich auf der Stelle …“

Eine Handbewegung des Boston-Mannes ließ den Wikinger verstummen. Und auch die anderen vier Nordmänner, genauso gekleidet und bewaffnet wie Thorfin, folgten der Handbewegung des Boston-Mannes, der eben zum Ausguck des Großmastes emporwies. Dort stand Hilo, ein schlanker, hellhäutiger Neger, der sehr scharfe Augen besaß. Und Hilo beugte sich in diesem Moment weit aus dem Mastkorb heraus, so als könne er auf diese Weise besser sehen.

Schon öffnete der Wikinger den Mund, um Hilo mit Donnerstimme zu fragen, was es zu sehen gäbe, da wandte sich der Neger auch schon um.

„Achtung Deck!“ rief er. „Schaluppe voraus. Kreuzt unseren Kurs. Aber mit dem Kahn ist irgendwas los. An Deck bewegt sich ständig was, mehr kann ich nicht erkennen!“

Der Wikinger sprang auf.

„Verdammt, bei allen Meergeistern, was soll das heißen? Sperr deine dämlichen Glotzaugen gefälligst auf oder streng deinen Grips an. Ho, der Kerl auf der Schaluppe will auf sich aufmerksam machen, deswegen wedelt er mit irgend etwas rum, klar?“

Thorfin Njal hatte das mit so gewaltigem Stimmaufwand nach oben in den Mast gebrüllt, daß Hilo sich unwillkürlich zusammenduckte. Und natürlich – der Wikinger hatte recht, das erkannte er beim zweiten Hinsehen jetzt deutlich. Und auch, daß der Mann auf der Schaluppe bereits dabei war, das schwere Lateinersegel zu reffen. Aber er benahm sich merkwürdig schwerfällig dabei. Hilo schien es, als sei der Mann an Bord der Schaluppe verwundet.

Er beeilte sich, auch das dem Wikinger zu melden.

Thorfin Njal reagierte sofort.

„Beidrehen“, befahl er. „Wenn irgendwo auf See so ein armer Teufel herumtreibt, der unsere Hilfe braucht, dann soll mich der Teufel persönlich holen, wenn ich sie ihm verweigere …“

Der Stör, dessen Gesicht in diesem Moment noch länger wirkte, nickte.

„Verweigern, Teufel holen“, wiederholte er in abgekürzter Form die Worte des Wikingers. Eine Eigenschaft des Störs, die Thorfin manchmal zur Raserei brachte. Er schoß dem Stör einen wütenden Blick zu.

„Jawohl, Teufel holen!“ brüllte er. „Merk dir das endlich, oder ich komme eines Tages über dich wie der Satan persönlich, wenn du mit diesen dämlichen Wiederholungen nicht endlich aufhörst!“

„Dämlich, aufhörst, jawohl“, gab der Stör kleinlaut von sich, brachte sich aber schleunigst aus der Reichweite des Wikingers, als der herumfuhr und nach ihm griff.

Unterdessen hatte der Boston-Mann zusammen mit Juan, dem Bootsmann des Schwarzen Seglers, alle notwendigen Kommandos gegeben. Und so bunt und wild zusammengewürfelt, wie die Crew des Schwarzen Seglers im ersten Moment auf einen Uneingeweihten wirkte, so blitzschnell wurden die Kommandos ausgeführt. Sogar der Seewolf oder sein Profos Edwin Carberry hätten ihre helle Freude daran gehabt.

Der Schwarze Segler drehte bei, während der Wikinger bereits mit gewaltigen Schritten das Hauptdeck überquerte, um vom Vorschiff des Schwarzen Seglers aus die Lage zu peilen, drehte das große schwarze Schiff bereits bei. Die schweren Segel begannen zu killen, langsam verlor der Segler, eine fremdartig wirkende Mischung aus Dschunke und Galeone, an Fahrt.

Der Wikinger beugte sich über das Schanzkleid, aber dann rannte er weiter zum Vorschiff, denn er hatte etwas gesehen, was ihn zutiefst beunruhigte, was er kaum glauben konnte.

In der Schaluppe, die nunmehr auf den Schwarzen Segler zutrieb, saß Diego, der dicke Wirt der Felsenkneipe auf Tortuga, die jedermann dort einfach nur die Schildkröte nannte und in der schon viele Schlachten geschlagen worden waren. Zusammen mit dem Seewolf, Carberry und all den anderen Seewölfen, zusammen mit Siri-Tong, der Roten Korsarin, oder auch Jean Ribault, dem Franzosen. Oder auch ganz allein, wenn der Wikinger den Hafen von Tortuga angelaufen hatte, um Versorgungsgüter für die Schlangeninsel oder für sein Schiff zu übernehmen, die Diego ihm vom Festland besorgt hatte.

Der Wikinger hatte das Vorschiff erreicht. Er stand da wie ein Baum und starrte aus zusammengekniffenen Augen auf die Schaluppe und auf den Mann, der sich an Deck der Schaluppe befand. Dann stieß er einen ellenlangen Fluch aus. Denn es handelte sich tatsächlich um den dikken Schildkrötenwirt, der zu seinen engen Freunden zählte. Aber Herr des Himmels, des Donners und der Blitze – wie, zum Teufel, sah Diego aus!

Die Schaluppe trieb jetzt unter dem Bug von „Eiliger Drache über den Wassern“ vorbei. Thorfin Njal sprang. Das Deck der Schaluppe ächzte unter dem Aufprall des schweren, hünenhaften Mannes, aber Thorfin Njal kam gerade noch rechtzeitig, um den wankenden, blutüberströmten Diego aufzufangen, bevor er bewußtlos auf die Planken sank.

Thorfin hielt den schweren Diego mit einer Leichtigkeit, als hätte er lediglich das Gewicht einer Feder. Dann aber wandte er sich um und brüllte die Männer an Deck des Schwarzen Seglers an.

„Ho, ihr verdammten und verlausten Affenärsche, steht nicht rum und haltet Maulaffen feil, sondern werft mir einen Tampen zu. Beeilt euch, oder ich werde euch Beine machen!“

Es war völlig unnötig, daß der Wikinger seine Männer anbrüllte, denn er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da sauste bereits ein Tampen vom Hauptdeck herab, da zog man die schwere Schaluppe Diegos bereits längsseits und machte sie fest.

Der Wikinger schlang den Tampen unter den Armen des Bewußtlosen hindurch um den Brustkasten Diegos, und gleich darauf hievten ein paar Männer seiner Crew den Schildkrötenwirt an Deck.

 

„Rum!“ brüllte Thorfin Njal, während er selber an Deck enterte. „Gebt dem armen Teufel eine gehörige Portion Rum, damit er wieder zu sich kommt. Er wird mir sagen müssen, wer ihn so zugerichtet hat, und den holt dann der Teufel. Der Kerl wird sich wünschen, nie geboren worden zu sein!“

Sooft die Männer des Schwarzen Seglers auch manchmal heimlich und hinter dem Rücken des Wikingers über seine Schrullen lachten – aber das, was er in diesem Moment sagte, das nahm an Bord jeder ernst, weil jeder wußte, wie ernst der Wikinger das meinte.

Thorfin kniete neben Diego, den man auf die Decksplanken gebettet hatte. Dann begann er vorsichtig, dem Bewußtlosen Rum einzuflößen, der ihm in einem großen Becher gereicht wurde.

Erst in diesem Augenblick sah der Wikinger richtig, wie übel man Diego mitgespielt haben mußte.

„Man hat ihn gefoltert, weil man irgend etwas aus ihm herausholen wollte. Und Diego befand sich auf dem Weg zur Schlangeninsel, denn wohin sollte er wohl sonst mit seiner Schaluppe segeln …“

Der Wikinger sprach nicht aus, was er in diesem Moment dachte, aber die Gesichter der Männer, die ihn und Diego in diesem Moment umstanden, sagten ihm überdeutlich, daß sie genau wußten, woran er dachte. Und plötzlich spürte der Wikinger, wie sich in seinem sonst so robusten Magen ein dicker Knoten zu bilden begann. Für ihn stets ein Zeichen nahenden Unheils.

Es dauerte eine ganze Weile, bevor Diego sich wieder zu rühren begann. Aber dann öffnete er seine Augen, blickte um sich und erkannte den Wikinger, der sich besorgt über ihn beugte.

Diego schloß die Augen wieder.

„Also doch!“ murmelte er. „Ich habe also doch noch richtig gesehen. Es war der Schwarze Segler …“

Natürlich hatte der Wikinger diese Worte auch vernommen. Er beugte sich zu Diego noch weiter herab, schob ihm seine gewaltige Rechte unter den Rükken und richtete ihn behutsam auf.

„Klar hast du richtig gesehen, Diego!“ sagte er, und seine Stimme klang dabei wie ferner Donner, der ein bevorstehendes schweres Gewitter ankündigt. „Ich glaube, wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen. Wer, bei allen Teufeln der Hölle, hat dich so zugerichtet?“

Das half. Ein energischer Ruck ging durch den schweren Körper des Schildkrötenwirts. Er setzte sich auf und stemmte beide Hände gegen die Planken des Hauptdecks. Dann stand er auf. Ächzend zwar, aber doch.

Er blickte den Wikinger an, und plötzlich lief ein Grinsen über sein zerschundenes Gesicht.

„Ho“, sagte er und verfiel dabei in den Ton des Wikingers. „Und ob ihr rechtzeitig gekommen seid. Los, gib mir noch einen Schluck Rum, Wikinger, dann werde ich euch berichten, was auf dieser dreimal verfluchten Schildkröteninsel geschah.“

Der Wikinger reichte ihm den gewaltigen Becher, und Diego setzte ihn an die Lippen. Er nahm einen langen Zug, bevor er den Becher wieder absetzte.

„Ah, das tut gut!“ sagte er und wischte sich den Rum von den Lippen. Dann blickte er den Wikinger und die Männer des Schwarzen Seglers an, die einen Kreis um ihn gebildet hatten und ihn voller Erwartung ansahen.

„Nein, nicht hier, Diego. Wir gehen aufs Achterdeck, und alle kommen mit!“

Er nahm den dicken Schildkrötenwirt beim Arm und zog ihn mit sich fort. Dann dirigierte er ihn die Stufen zum Achterdeck hinauf und schob den Widerstrebenden schließlich in den riesigen Sessel, auf dem er normalerweise selber zu sitzen pflegte.

„So ist’s besser, Diego. Du wirst eine Menge zu berichten haben, und nach Stehen ist dir bestimmt noch nicht zumute. Hölle und Teufel, du siehst aus, als habe man dich gekielholt oder etwas verdammt Ähnliches mit dir angestellt!“

Er ließ sich abermals den mit Rum gefüllten Becher reichen und bot ihn Diego dar. Und der nahm wiederum einen gewaltigen Schluck.

„So, und jetzt erzähle“, forderte ihn der Wikinger auf, nachdem er sich vergewissert hatte, daß die meisten Männer des Schwarzen Seglers sich um den Sessel auf dem Achterdeck versammelt hatten.

Diego nickte.

„Also, das war so“, begann er. „Seit der letzten Schlacht auf der Schlangeninsel herrschte Ruhe auf Tortuga. Natürlich war die Insel wie immer Treffpunkt und Zufluchtsstätte von allerlei Piratengesindel und Schnapphähnen, die wer weiß woher auf die Insel kamen und sich dort niederließen, aber einen Burschen mit den Qualitäten eines Caligu oder Don Bosco oder wie diese Kerle alle hießen, die hat es seitdem nicht mehr gegeben. Es ließ sich also leben, besser denn je zuvor. Meine Geschäfte liefen gut, die Piraten machten hin und wieder Beute, wurden ihrer zu viele, so regulierten sie das selber, indem sie sich gegenseitig die Schädel einschlugen oder einander die Hälse abschnitten. Es ist so mancher gegen Morgen die Totenrutsche zur Haibucht hinabgesaust, der am Abend noch soff wie drei Mann zusammen und das große Maul hatte. Normale Zustände für Tortuga, wie ihr alle wißt.“

Der Wikinger und die anderen Männer nickten. Nur der Stör konnte es wieder nicht lassen.

„Zustände“, echote er in das allgemeine und erwartungsvolle Schweigen hinein, und damit traf er zweifelsohne den Nagel auf den Kopf.

„Weiter, Diego. Was geschah dann?“ drängte Arne, der unmittelbar neben dem Schildkrötenwirt stand. Aber Diego ließ sich abermals den Becher reichen, der inzwischen seine Runde durch die Männer gemacht hatte und wie von Geisterhänden immer wieder aufgefüllt worden war. Erst nachdem er abermals einen langen Schluck genommen und sich mit dem Arm über die Lippen gefahren war, fuhr er fort:

„Das alles änderte sich schlagartig heute vor genau vier Tagen, und zwar eine Stunde vor Sonnenaufgang. Ich sah die verdammten Kerle schon, als sich ihre Mastspitzen gerade erst über die Kimm schoben. Und, verflucht, ich hatte dabei ein ganz lausiges Gefühl in der Magengrube. Das könnt ihr mir glauben. Kurz und gut – eine Stunde nach Sonnenaufgang liefen sie in den Hafen von Tortuga ein. Insgesamt sechs spanische Galeonen, zwei davon stark armiert und ganz offensichtlich dazu ausersehen, die anderen Schiffe vor eventuellen Angreifern zu schützen.“

Wieder machte der Schildkrötenwirt eine Pause.

„Spanier? Sagtest du Spanier, Diego?“ fragte der Wikinger dazwischen, und seine Brauen schoben sich drohend zusammen.

„Ja, Spanier“, bekräftigte der Schildkrötenwirt. „Und jedermann auf Tortuga weiß aus Erfahrung, daß ein Besuch dieser Kerle nie etwas Gutes bedeutet. Und so war es auch. Kaum hatten die zwei Kriegsgaleonen ihre Anker geworfen und die anderen vier Schiffe an den Holzpiers festgemacht, da ging das Theater auch schon los. Die Kriegsgaleonen, von denen die größere ‚Santa Anna‘ heißt, setzten Boote aus. Seesoldaten, bis an die Zähne bewaffnet, kamen an Land. Gleichzeitig öffneten sich die Geschützpforten der beiden Kriegsgaleonen, und die Geschütze, mindestens Zwanzigpfünder, wurden ausgerannt. Eine Situation, die den Bewohnern Tortugas noch verdammt gut in Erinnerung war.“

Der Wikinger und die anderen Männer grinsten. Sie dachten an das schwere Bombardement, mit dem sie den Hafen und die gesamte umliegende Gegend dem Erdboden nahezu gleichgemacht hatten als Vergeltung für den heimtükkischen Angriff Don Boscos auf die Schlangeninsel.

„Den Kerlen saß die Angst noch im Nacken, und sie wußten, daß es auf der Westseite der Insel, am Hafen, nur eine sichere Stelle gibt, die kein Bombardement der Welt erschüttern kann – nämlich das Gewölbe meiner Kneipe. Und was glaubt ihr, was diese dreimal verdammten Dummköpfe taten? Sie stürmten zur Schildkröte hinauf und verschafften sich Einlaß. So schnell, wie das ging, vermochte ich die eben geöffneten Flügel der schweren Bohlentür gar nicht wieder zu schließen. Und damit begann auch für mich der Ärger.“

Diego lehnte sich im schweren Bohlensessel zurück. Für einen Moment schloß er die Augen, die lange Erzählung hatte ihn sichtlich angestrengt. Aber dann gab er sich einen Ruck und setzte sich bolzengerade auf.

„Der Rest ist rasch erzählt. Und erspart mir bitte die Einzelheiten, denn sie sind scheußlich.“

Er fuhr sich abermals mit der Hand über die Stirn, auf der der Schweiß in dicken Perlen stand.

„Also, die Spanier hatten das natürlich beobachtet. Und so rückten sie ebenfalls, bewaffnet bis an die Zähne, zur Schildkröte hinauf. Allen voran ein großer, hagerer Kerl mit einer wahren Geiernase im Gesicht und harten stechenden Augen. Admiral Cortejo, wie ich zu meinem Leidwesen schon verdammt bald erfahren sollte. Was wollte ich tun? Die Kerle erschienen vor der Schildkröte und donnerten mit den Kolben ihrer Musketen gegen die Bohlentür. Ob ich nun wollte oder nicht, ich mußte öffnen, denn gegen diese verfluchten Spanier hatten wir ja nicht die geringste Chance.“

Diego starrte vor sich hin. Erinnerungen tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Und sie schienen verdammt übel zu sein, das sahen sie an seinen Zügen, die sich verzerrten. Der Wikinger legte ihm seine Pranke auf die Schulter.

„Du bist in Sicherheit, Diego“, sagte er. „Der Kerl wird seine Drecksfinger nie wieder nach dir ausstrecken, das schwöre ich dir!“ Und wieder klang die Stimme des Wikingers wie fernes, unheilvolles Donnergrollen.

Diego nickte.

„Was dieser Kerl eigentlich auf Tortuga will oder wollte, weiß ich bis jetzt noch nicht. Aber als ich die Bohlentür zusammen mit meinem Schankknecht öffnete, drangen die Spanier sofort wie eine wilde Horde in die Felsgrotte ein. Sie stürzten sich auf die Schnapphähne und Beutelscheider und warfen sie kurzerhand aus der Felsgrotte heraus. Wer nicht sofort verschwand, den schossen sie über den Haufen oder hieben ihm einen Säbel über den Kopf. Nur drei der Schnapphähne hielten sie fest und schleppten sie zu dem Kerl mit der Geiernase. Und dann ging alles verdammt schnell. Der Admiral stellte ihnen ein paar Fragen, die ich zunächst jedoch nicht verstand, denn ich hatte mich bis hinter den Tresen zurückgezogen. Aber dann schnappte ich doch ein paar Brocken auf. Der Admiral wollte wissen, wer über die auf Tortuga versteckten Piratenschätze Bescheid wisse. Und als einer der spanischen Seesoldaten dem Befragten in unmißverständlicher Weise sein Messer an den Hals setzte, deutete der Kerl in seiner bodenlosen Angst auf mich und sagte dabei etwas, was ich wiederum nicht verstand.“

Diego atmete schwer.

„Es war zu spät. Die Kerle fielen über mich her wie eine Horde reißender Bestien, und dann schleppten sie mich vor den Admiral. Der sah mich nur an. Du also bist dieser verdammte Kerl, sagte er dann, der das Versteck des Seewolfs kennt und auch weiß, wo seine ungeheuren Schätze lagern. Du bist der Kerl, der dem Seewolf immer alle Informationen über spanische Geleitzüge liefert. Warte, Mann, das sollst du uns büßen. Aber bevor du stirbst, wirst du reden, das schwöre ich bei der Mutter Gottes.“

Wieder unterbrach Diego seinen Bericht, und wieder atmete er schwer.

„Die Kerle schafften mich zum Hafen hinab. Dort zimmerten sie ein hölzernes Gestell, auf das sie mich schnallten. Ich konnte kein Glied mehr rühren. Danach ging’s los. Der Admiral fragte, und als ich nicht antwortete, ließ er mit der Folter beginnen. Es war höllisch, sage ich euch, und ich verlor schon bald das Bewußtsein.“

Diego streifte seine Oberbekleidung ab, und die Männer, die ihn umstanden, sahen die furchtbaren Wundmale, die seinen Körper bedeckten.

Der Wikinger stieß einen Fluch aus, der sogar den Boston-Mann erblassen ließ.

„Verdammt, Diego“, brüllte er dann, „was hat dieser Hundsfott von einem Schnapphahn denn dem Admiral erzählt?“

„Ich weiß es nicht genau, aber er muß behauptet haben, daß ich das Versteck eurer Schätze und das Geheimnis der Schlangeninsel kenne. Er hat wohl auch von Don Bosco und den damaligen Ereignissen was rausgelassen und mich als euren Vertrauten hingestellt, der ich ja in gewisser Weise auch bin. Und jetzt glaube ich, daß dieser Admiral sein Glück mit der Schlangeninsel versuchen will, wie schon andere vor ihm. Aber unterschätzt den Kerl nicht, der hat eine Menge Soldaten an Bord seiner Schiffe, und die beiden Kriegsgaleonen sind verdammt gut bewaffnet.“

Der Wikinger nickte grimmig, und durch die Männer, die Diego umstanden, ging ein Raunen.

„Er soll nur kommen, dieser Admiral. Wir sind schon mit ganz anderen Burschen fertig geworden!“ stieß Eike, einer der Wikinger, grimmig hervor. „Er wird sich eine blutige Nase holen wie alle anderen vor ihm!“

Der Wikinger sah Eike an.

„Stimmt, aber nur wenn wir Arkana, Ribault und Siri-Tong auf der Schlangeninsel warnen. Nur wenn wir herausfinden, was dieser Admiral im Schilde führt. Und vergiß nicht, Ribault und von Hutten haben außer der nur schwach armierten Galeone Arkanas noch immer kein Schiff. Ihre ‚Le Vengeur zwei‘ hat dieser verfluchte Don Bosco zu den Fischen geschickt. Bleiben Siri-Tong und wir, denn der Seewolf mit seinen Männern ist weit weg. Wir werden uns verdammt noch mal etwas einfallen lassen müssen!“

 

Der Wikinger versank ins Grübeln, aber dann sah er Diego plötzlich an.

„Wie bist du diesem Kerl entwischt, Diego?“ fragte er.

„Ich habe die Folter nicht ausgehalten, Wikinger. Ich verlor das Bewußtsein, und die Kerle begossen mich zwar mit Wasser, um mich wieder wach zu kriegen, aber das half nichts. So ließen sie mich auf dem Holzgestell hängen und nahmen sich ein paar andere vor. Darüber wurde es Abend, dann Nacht. Ob sie mich für tot gehalten haben oder nicht, ich weiß es nicht. Jedenfalls erwachte ich erst irgendwann nachts. Und ich spürte, wie sich jemand an meinen Fesseln zu schaffen machte. Ich sah gerade noch, daß der Soldat, der mich bewachen sollte, verschwunden war.

Der Mann, der sich an mir zu schaffen machte, löste meine Fesseln, dann griffen ein paar derbe Fäuste zu und schafften mich weg. Die Spanier grölten in der Schildkröte herum, das hörte ich noch. Dann verlor ich abermals das Bewußtsein.“

Diego sah die Wikinger an.

„Ich weiß nicht, wer die Männer waren, die mich losgebunden und auf diese Weise gerettet haben. Ich weiß aber, daß ich eine ganze Menge Freunde auf der Insel habe. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in meiner Schaluppe, die ich in der geheimen Bucht im Süden der Insel für alle Fälle liegen habe. Die Burschen, die mich retteten, wußten also auch darüber Bescheid. Sie müssen auch den Eingang zu jener Grotte gekannt haben, in der ich meine Schaluppe verborgen hielt. So gut es ging, hatten sie meine Wunden versorgt, dann schoben sie mich ins offene Wasser hinaus, richteten den Mast auf und setzten das Lateinersegel.

Hole Hilfe, Diego, sagten sie. Du weißt, wo. Diese Spanier hausen wie die Bestien auf Tortuga. Wenn sie sich hier einnisten, sind wir alle verloren, und auch deine Schildkröte wird es nicht mehr geben. Dieser Cortejo ist ein wahrer Teufel. Er macht sich mit seinen Soldaten einen Spaß daraus, Kerle zu foltern und dann ans Kreuz zu schlagen. Du kannst es von hier nicht sehen – aber oben, vor der Schildkröte, brennen die Kreuze und die Toten noch immer. Die Flammen werfen ihren Schein über die ganze Hafenbucht. Wir haben Caligu, Bombarde und sogar Don Bosco überlebt, aber diesen Kerl überleben wir nicht. Du mußt alleine segeln, denn deine Freunde von der Schlangeninsel lassen keinen von uns durch den Felsendom. Viel Glück, Diego. Du hast Freunde hier und die Schlangeninsel auch.“

Diego entging das Staunen in den Zügen des Wikingers nicht.

„Ja, Wikinger, so sagten sie. Ich weiß nicht, was das für Leute sind, aber ich werde es herausfinden, sobald ich wieder auf Tortuga bin. Den Rest“, fügte er hinzu, „kennt ihr alle. Ihr kamt gerade rechtzeitig, denn meine Kräfte hätten nicht viel länger gereicht …“

Diego schloß die Augen. Und erst jetzt bemerkte der Wikinger, daß Blut unter seiner Kleidung hervorrann und über die Bohlen des Sessels lief. Diego sah den Wikinger noch einmal an, dann verlor er erneut das Bewußtsein.

„Bringt ihn in meine Kammer!“ brüllte der Wikinger, und sofort packten harte Fäuste zu. „Er muß sich mit geradezu unmenschlicher Kraft bei Bewußtsein gehalten haben, um uns diesen Bericht zu erstatten. Olig, du kümmerst dich um ihn, und der Teufel wird dich lotweise holen, wenn Diego die Schlangeninsel nicht lebend erreicht!“

Olig, einer der vier Wikinger, die es außer Thorfin Njal an Bord des Schwarzen Seglers gab, nickte. Er verstand sich darauf, Verwundungen und Blessuren jeder Art zu kurieren.

„Der Teufel wird nicht mich, sondern diesen Cortejo holen, Thorfin“, erwiderte er. „Dafür werden wir sorgen.“

Thorfin Njal nickte grimmig, dann wandte er sich an den Boston-Mann.

„Zurück zur Schlangeninsel. Wir wollen die Lage mit Siri-Tong, Ribault, von Hutten und Arkana beraten. Wir müssen genau überlegen, was jetzt zu geschehen hat. Und Diego übergeben wir Arkana, sie wird ihn in kürzester Zeit wieder auf die Beine bringen.“

„Schlangeninsel, das war die einzig richtige Entscheidung, Wikinger“, erwiderte der sonst so wortkarge Boston-Mann. „Allein richten wir da nichts aus, ohne erheblich Federn zu lassen. Und wenn du mich fragst, dann sollten wir diesen Spanier auch nicht offen angreifen. Der weiß, daß es uns gibt, daß Diego geflohen ist, hat er inzwischen bestimmt bemerkt, er wird also auf der Hut sein.“

Der Boston-Mann hatte alles gesagt, und Muddi, ein kleiner, schmieriger Kerl, der sich aber sehr wohl aufs Kämpfen verstand, klappte den Mund auf und starrte den Boston-Mann an. Eine so lange Rede hatte er aus seinem Mund noch nie vernommen, und deshalb begann er zu ahnen, daß die Lage verdammt ernst sein mußte.

Der Schwarze Segler nahm Fahrt auf. Dann fuhr er eine Halse und begann, gegen den aus Nordost blasenden Wind zur Schlangeninsel zurückzukreuzen. Eine mühsame, schweißtreibende Arbeit für die Männer an Bord von „Eiliger Drache über den Wassern“ – aber keiner begann zu murren. Das wäre ihm auch schlecht bekommen, denn der Wikinger hockte auf dem Achterschiff in seinem Bohlensessel und war übelster Laune. Er hockte in seinen grauen Fellen, mit dem Kupferhelm auf dem riesigen Schädel und dem großen Schwert an seiner Hüfte da wie ein Monument aus grauer Vorzeit. Immer wieder wanderte der Blick seiner grauen Augen über die blaue See der Karibik.

Thorfin Njal, der Wikinger, wußte, daß er seine Reise gen Norden jetzt wieder für eine Weile verschieben mußte, denn ihnen allen stand ein schwerer Kampf bevor. Und es war beileibe nicht das erste Mal, daß sie um die Schlangeninsel kämpfen mußten …

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