Seewölfe - Piraten der Weltmeere 210

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 210
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Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-546-0

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

1.

Die Insel hatte keinen Namen. Aber die Menschen, die sie kannten und die in ihrer Nachbarschaft lebten, hielten sich fern von ihr. Denn auf jener Insel herrschte Kali, die mächtige schwarze Göttin des Todes.

Kaltes, silbernes Mondlicht ergoß sich über die großen Steinquader, die den Vorplatz des Tempels bildeten. Nebelschwaden zogen über das dunkle Wasser des Ganges, das sich träge an den Ufern der Insel vorbeiwälzte und durch das Ganges-Delta in den Golf von Bengalen strömte.

Asanga, der oberste Priester der Todesgöttin Kali, verharrte bewegungslos auf den Steinquadern. Sein hageres Gesicht war zur Maske erstarrt, nur in den schwarzen Augen brannte ein unheilvolles, fanatisches Feuer. Seine Blicke waren starr auf die Trümmer einer schwarzen Götterstatue gerichtet, die einst den Vorplatz des Tempels geschmückt hatte. Geschmückt und bewacht. Denn niemand durfte es wagen, das Reich Kalis zu betreten ohne die Erlaubnis ihrer obersten Priester. Oder der Zorn der Todesgöttin traf den Frevler und tötete ihn.

Asanga schloß für einen Moment die Augen. Was geschehen war in jener Vollmondnacht, das erschien ihm so ungeheuerlich, daß er es trotz seiner gewaltigen geistigen Kräfte, die ihn zum absoluten Herrscher dieser Insel gemacht hatten, nicht schaffte, den ohnmächtigen Zorn und den grenzenlosen Haß, der in ihm tobte, zu bändigen und seine sonstige Selbstbeherrschung wiederzuerlangen.

Asanga öffnete die Augen wieder. Da lag sie vor ihm auf den Quadern. Ihr Leib war zerschmettert, einer ihrer sechs Arme, deren Hand noch den Totenschädel hielt, der sich einst im Wind der mondhellen Nächte im Tanz des Todes hin und her bewegt hatte, lag mehrere Meter von ihrem geborstenen Haupt entfernt auf den Steinquadern. Ihre Beine, erstarrt im rasenden Tanz auf dem Leichnam ihres Gatten Schiwa, ragten als Stümpfe in die mondhelle Nacht.

Wieder schloß Asanga die Augen. Solange die Welt bestand, solange Kali über die Toten herrschte, war noch nie ein solcher Frevel geschehen. Asanga versuchte krampfhaft, sich die Ereignisse jener entsetzlichen Nacht wieder ins Gedächtnis zu rufen.

Es war eine Nacht gewesen wie diese. Die Pansigare Asangas, die Würger, waren wie in jeder Vollmondnacht mit ihren Seidenschlingen unterwegs gewesen, um Opfer für Kali zu finden und auf die Insel zu bringen. Denn Kali hatte ihren Dienern befohlen, ihr in jeder Neumondnacht Menschenopfer zu bringen. Brachten die Pansigare keines, dann traf zwei von ihnen das Los, und sie starben tief im Innern des Tempels, dort, wo die riesige Statue der Göttin stand. Jene Statue, gegen die diese hier draußen vor dem Tempel ein Nichts war.

Asanga hatte sich auf einem seiner Rundgänge durch das Tempelgelände befunden, als im Mondlicht plötzlich die Silhouette eines riesigen Schiffes auftauchte, sich durch die wabernden Nebel über dem Ganges der Insel näherte und schließlich Anker warf.

Asanga hatte seinen Rundgang unterbrochen und die Fremden beobachtet. Es dauerte nicht lange, und sie ließen ein Boot zu Wasser. Kurz darauf näherten sie sich der Insel.

Asanga knirschte vor Zorn mit den Zähnen, als er allein an diesen Frevel dachte. Aber nicht nur das, sie betraten die Insel der Todesgöttin. Ein Priester der Fremden, der ein großes goldenes Kreuz in den Händen hielt, mehrere Offiziere des fremden Schiffes, außerdem aber noch zehn schwer bewaffnete Seesoldaten.

Asanga kannte sich aus. Er war in den großen Häfen seines Landes gewesen und hatte die Fremden oft genug beobachtet. Er wußte nicht, was sie tun würden, aber er war sicher, daß es ihnen nicht gelingen würde, ins Tempelinnere einzudringen, dafür war gesorgt. Aber Asanga war sich ebenfalls völlig im klaren darüber, daß er ohne seine Pansigare gegen die Fremden nichts unternehmen konnte. Gar nichts, denn sie würden ihn erschießen mit ihren Musketen.

Der Priester der Fremden stutzte, als er die Göttin Kali erblickte. Aber dann verzerrte sich sein Gesicht. Er hielt sein Kreuz mit beiden Händen der Todesgöttin entgegen, während er und die Offiziere sich langsam zurückzogen. Sie schienen die Gefahr, die von dieser Göttin ausging, zu spüren. Und in diesem Moment hatte Asanga in seinem Versteck, aus dem er die Weißen beobachtete, gelacht. Ja, hatte er gedacht, sie sollten sich nur hüten! Oder der Zorn Kalis würde sie vernichten, alle!

Fast überhastet hatten sie die Insel wieder verlassen, und Asanga hatte nie mehr in Erfahrung bringen können, warum sie überhaupt auf der Insel des Todes gelandet waren.

Aber dann, das große Schiff hatte bereits den Anker gehievt und die Segel waren ebenfalls gesetzt, geschah das Entsetzliche. Auf der großen Galeone blitzte es auf. Das Donnern der Geschütze drang zu Asanga herüber, gleich darauf schlugen die schweren Eisenkugeln der ersten Salve ein. Sie bohrten sich in die Uferböschung, sie zerschmetterten einige der großen Steinquader auf dem Tempelvorplatz, eine von ihnen traf den Tempel und zerstörte einige der kostbaren Ornamente.

Asanga begann das Entsetzliche zu ahnen. Voller Grimm rannte er zur Statue der Kali hinüber und versuchte die Göttin mit seinem Leib zu decken, da blitzte es auf der Galeone abermals auf.

Die Kugeln heulten heran. Zischen erfüllte die Luft, und dann zerbarst mit ohrenbetäubendem Krachen über ihm die Todesgöttin.

Asanga wurde zu Boden geschleudert, ein wilder Schmerz durchzuckte seinen Körper, und er verlor das Bewußtsein.

Als er wieder erwachte, umstanden ihn drei seiner Pansigare. Sie hatten ihn auf eine Matte gebettet und seine Wunden verbunden. Ratlos blickten sie ihren obersten Priester an, und auch Asanga kam erst in diesem Moment die Erinnerung an das wieder, was sich auf der Insel des Todes zugetragen hatte.

Er wollte wie rasend aufspringen, aber seine Glieder versagten ihm den Dienst. Ächzend sank er zurück.

Die Pansigare stützten ihn, und so erblickte er die zertrümmerte Göttin. Eine ganze Weile herrschte Schweigen auf der Insel des Todes, aber dann schüttelte der Zorn über diesen ungeheuren Frevel Asanga durch wie ein wildes, tödliches Fieber. Er befahl, nichts anzurühren, alles genauso zu lassen, wie es war. Asanga leistete in diesem Moment einen heiligen Schwur: Der Frevel sollte gerächt werden. Er würde durch seine Pansigare Weiße fangen lassen, nur viele Opfer konnten die schwarze Todesgöttin Kali wieder versöhnen. Asanga wußte auch, wohin er seine Würger schicken mußte, aber er befahl ihnen, alle Opfer lebend zur Insel zu schaffen. Und dann, wenn sie genügend Gefangene in den Verliesen hatten, würde in einer Neumondnacht das große Fest zur Versöhnung der Göttin stattfinden.

Asanga schickte seine Würger fort. Immer wieder, aber ihr Erfolg ließ zu wünschen übrig. Gegen Morgen würden sie abermals zurückkehren, und diesmal hatten sie die Häuser jener Weißen zum Ziel gehabt, die weiter oben am Fluß wohnten und dort Handel trieben.

Asanga warf einen letzten Blick auf die so frevelhaft zerstörte Göttin, dann verschwand er im Innern des Tempels, durchschritt die unterirdischen Gänge und erreichte schließlich die große Halle, in der sich die riesige Statue der Kali befand. Ein gigantischer, in wildem Tanz begriffener Frauenkörper, pechschwarz und nackt, aus dem sechs Arme wuchsen, deren Hände Todenschädel und blitzende Messer hielten. Auch um den Hals trug Kali eine Kette von bleichen Totenschädeln, die im flakkernden Licht der Fackeln zu leben schienen. Unter ihren Füßen aber lag der zerschundene Leib ihres Gatten Schiwa.

Asanga näherte sich der rasenden, Göttin, und er glaubte zu sehen, daß ihre Augen, hoch oben unter der Decke des Gewölbes, ihn anfunkelten.

Asanga fiel auf die Knie, preßte sein Haupt mehrmals ehrerbietig gegen den mit goldenen Ornamenten durchzogenen Boden.

„Große Kali, Herrscherin über Leben und Tod, dein Diener wird den Frevel rächen, der dir und deinem unsterblichen Namen angetan wurde. Habe mit deinem armseligen Diener noch etwas Geduld, o Kali!“

Asanga wandte den Blick nach oben, und das Funkeln der Augen war einem sanften Glühen gewichen.

Asanga erhob sich. Langsam erklomm er die hohen Stufen des Podests, auf dem die Göttin stand. Und dort, zu ihren Füßen, fiel er in Trance. Und er sah ein Schiff, das sich der Toteninsel näherte. Langsam, durch dichten Nebel hindurch, aber unaufhaltsam. Und je tiefer seine Trance wurde, je mehr sie von ihm Besitz ergriff, desto größer und bedrohlicher wurde der schwarze Schatten, der dieses Schiff einzuhüllen schien.

Der Nebel lastete über dem Wasser. Er war so dicht, daß man an Bord der „Isabella“ nicht von einem Mast zum anderen sehen konnte. Die Männer an Bord der Galeone sahen fast nichts, aber sie spürten, daß ihr Schiff von irgendeiner Strömung, der ein kaum wahrnehmbarer Wind noch etwas half, vorangetrieben wurde. Die Stimmung an Bord der „Isabella“ war schlecht, denn der Nebel dachte gar nicht daran, sich zu lichten.

 

Der Mann auf der Back sang die Tiefe aus. Immer wieder warf er das Lot.

„Fünf Faden“ klang es über Deck, und der Nebel dämpfte seine Stimme zu dumpfen, schwer verständlichen Lauten.

Der Seewolf blickte auf. Seine Züge wirkten hart.

„Die Tiefe nimmt ständig ab, Ben“, sagte er zu seinem Ersten Offizier und Stellvertreter.

Ben Brighton nickte.

„Wir sollten Anker werfen, Hasard“, erwiderte er und vernahm gleichzeitig den neuen Singsang, der undeutlich von der Back zum Achterschiff herüberdrang.

„Vier Fuß!“

Dem Seewolf entging trotz des Nebels nicht, daß Stenmark, der schon seit einer runden Stunde die Wassertiefe auslotete, unruhig wurde. Und er mußte dem blonden Schweden recht geben.

Der Seewolf sah Ben Brighton nur kurz an, dann nickte er.

„Ben, laß den Anker auswerfen, alle Mann in die Wanten, Segel aufgeien. Wir bleiben hier liegen, bis diese verdammte Suppe sich aufklart. Wir wissen ja nicht einmal, wo wir sind.“

Ben Brighton nickte nur und gab die notwendigen Befehle. Gleich darauf scheuchte Carberrys gewaltige Donnerstimme die Seewölfe auf die Back und in die Wanten.

„Hurtig, hurtig, ihr lahme Bande, oder ihr könnt unsere ‚Isabella‘ aus diesem verdammten indischen, stinkenden Schlick ziehen. He, Luke, beweg dich gefälligst, oder soll ich dir erst eins über den Affenarsch ziehen, wie, was?“

Luke Morgan, genauso schlechter Stimmung wie alle anderen auch, fuhr herum.

„Du kannst es ja mal versuchen, du ausgefranster Gorilla, du angerostete Bilgenkakerlake!“ schrie er wütend zurück. „Irgendwann stopf ich dir mal dein Haifischmaul und reiß dir deine lausigen Rattenzähne einzeln aus, du chinesischer Tempelpavian!“

Carberry klappte vor Staunen der mächtige Unterkiefer herunter. Er glaubte einfach nicht, was er da eben gehört hatte. Er wußte, wie jähzornig dieser drahtige Engländer war, und er wußte auch, daß Luke Morgan ihn schon einmal mit einem präzise geworfenen Belegnagel fast außer Gefecht gesetzt hatte. Aber das hier, das ging entschieden zu weit.

Edwin Carberry, der Profos der „Isabella VIII.“, machte einen wahren Panthersatz. Seine Pranken griffen nach Luke Morgan, aber sie griffen ins Leere, denn Luke war wie der Blitz aufgeentert.

„Was bin ich?“ brüllte Carberry, und unter seiner gewaltigen Stimme schien die „Isabella“ in allen ihren Verbänden zu erzittern. „Eine angerostete Bilgenkakerlake, ein ausgefranster Gorilla, ein chinesischer Tempelpavian?“

Carberry sprang in die Wanten, aber dann stoppte ihn plötzlich das dröhnende Gelächter der Seewölfe.

Ferris Tucker, der riesige, rothaarige Schiffszimmermann, fiel vor Lachen fast von der Rah, Batuti, der hünenhafte Gambianeger, rollte wild mit den Augen und brach abermals in brüllendes Gelächter aus. Sir John, der Aracanga-Papagei, flatterte unter den wildesten Flüchen, die sein scharfer Schnabel hervorzubringen vermochte, entsetzt von seiner Rah auf und geriet im dichten Nebel prompt an ein noch nicht aufgegeites Segel und rutschte unter wüstem Gekreische und Geschimpfe und unter wildem Flügelschlagen an dem schweren Tuch herunter und klatschte schließlich an Deck. Arwenack, der Schimpanse, überrannte den Kutscher, der den Lärm gehört und neugierig aus seiner Kombüse an Deck getreten war. Fluchend fiel der Kutscher zwischen seine Töpfe und Pfannen.

Der Profos hing im Steuerbordwant des Großmastes. Er glich in diesem Moment tatsächlich einem riesigen Gorilla. Aber er schwieg. Keinen Ton brachte er heraus. Diese ganze Seewölfebrut war ja völlig außer Rand und Band, es wurde allerhöchste Zeit, daß er an Bord der „Isabella“ andere Seiten aufzog. Und, verdammt, diese lausigen Affenärsche sollten ihn, Edwin Carberry, kennenlernen! Das schwor er sich in dem Moment, in dem er noch einen Blick auf den in sicherer Entfernung verharrenden Luke Morgan warf und in dem das brüllende Gelächter der Seewölfe verebbte.

An Deck blieb er stehen, seine Rechte stieß vor in den Nebel, und sie zeigte genau dorthin, wo Luke Morgan in den Wanten hing.

„Irgendwann kommst du mal wieder runter, Luke. Und dann wirst du mir noch einmal sagen, was ich alles bin, oder ich klopfe jedes Wort einzeln aus deiner lausigen schwarzen Seele heraus, bis sie wieder weiß ist, wie die Segel unserer Old Lady!“ brüllte er.

Dann entfernte er sich. „Ausgefranster Gorilla, chinesischer Tempelpavian, angerostete Bilgenkakerlake!“ murmelte er voller Grimm, aber dabei überzog sein narbiges Gesicht bereits ein Grinsen. „Dir werde ich es zeigen, Mister Morgan! Ich glaube, das war schon lange mal fällig!“

Der Profos enterte zum Achterdeck auf. Er zog ein grimmiges Gesicht, als er auf den Seewolf und Ben Brighton zutrat, aber er konnte dennoch ein verräterisches Zucken um seine Mundwinkel nicht verbergen.

Die „Isabella“ stoppte, als der Buganker griff. Die Seewölfe beeilten sich, die Segel an den Rahen festzuzurren. Hin und wieder warfen sie Luke Morgan einen Blick zu, der sehr nachdenklich an einem der Geitaue herumhantierte und dann noch nach einem Zurring griff. So ganz wohl war ihm nicht in seiner Haut. Er kannte Carberry, seine rauhe Schale, sein im Grunde genommen weiches und gutes Herz, aber er wußte auch, daß der Profos bei gewissen Gelegenheiten verdammt sauer werden konnte. Zum Beispiel, wenn man die Disziplin an Bord der „Isabella“ in Frage stellte. Und wenn er sich selber gegenüber ehrlich blieb, dann hatte er eben genau das getan. Sein verdammter Jähzorn war wieder einmal schuld daran.

Langsam enterte er ab. Auch die beiden Zwillinge, die Söhne des Seewolfs, die eine aufregende Unterbrechung der verdammten Bordroutine bei diesem nervtötenden Nebel vermuteten, sahen ihm zu, und dann folgten sie ihm langsam.

Und sie täuschten sich nicht. Als Luke Morgan aus dem Steuerbordwant stieg, stand Edwin Carberry schon da. Groß und schwer wie ein Gebirge und ebenso drohend wuchs er auf den Decksplanken der „Isabella“ vor Luke Morgan auf.

„So, Luke“, sagte er und gab seinem Narbengesicht einen grimmigen Ausdruck dabei, „jetzt kannst du dir alles von der Seele reden, was du sonst noch auf dem Herzen hast. Also, ich höre! Aber paß gut auf, Mister Morgan, damit du das Maul jetzt nicht wieder zu voll nimmst, denn sonst wird, wenn ich mit dir fertig bin, eine altersschwache, angerostete Bilgenkakerlake gegen dich so gewaltig sein, wie eine Tausend-Tonnen-Galeone mit ihren achtzig Zwanzigpfündern gegen eine zerborstene Schaluppe, die der Sturm auf die Klippen geworfen hat.“

Um die beiden hatte sich im Nu ein dichter Kreis gebildet. Wieder brandete brüllendes Gelächter über Deck der „Isabella“. So etwas hatten sie aus dem Munde ihres Profos’ noch nie gehört.

Smoky wandte sich an den neben ihm stehenden Ferris Tucker.

„Ich habe doch verdammt noch nie gewußt“, sagte er ziemlich laut, so daß es jeder deutlich verstehen konnte, „daß unser Profos seine poetische Ader entdeckt hat. Also, wenn ich mir das so richtig vorstelle, die altersschwache, angerostete Bilgenkakerlake, dazu vielleicht noch ein chinesischer Tempelaffe und ein ausgefranster Gorilla, und die hokken alle drei auf der zerborstenen Schaluppe, während die Tausend-Tonnen-Galeone aus allen Rohren feuert, also …“

Die Seewölfe bogen sich vor Lachen, und nicht einmal der Seewolf, der das alles ebenso gehört hatte wie Ben Brighton, der neben ihm auf dem Achterdeck stand, vermochte ernst zu bleiben.

Pete Ballie, der bis dahin am Ruder gestanden hatte, enterte zum Hauptdeck ab. Auch er grinste übers ganze Gesicht, denn eben schlug Carberry dem jähzornigen Engländer seine Pranke auf die Schulter, daß Luke unter dem Hieb fast zu Boden ging.

„Also gut, ich will mal nicht so sein. Ihr seid doch alle ganz verdammte Rübenschweine, die man am besten …“

Er unterbrach sich mitten im Wort, denn eben schallte ein weithin dröhnender Gongschlag über das schmutzig-gelbe Wasser, das an der „Isabella“ träge vorbeiströmte. Ein zweiter Gongschlag folgte, und dann glitt irgendwo an der „Isabella“ ein kaum wahrnehmbarer Schemen vorbei. Ein langgestrecktes, dunkles Etwas, das auch Dan O’Flynns scharfe Augen nicht zu identifizieren vermochten.

Im Nu waren die Seewölfe still. An Bord der „Isabella“ herrschte absolutes Schweigen.

Carberry sah den hünenhaften Schiffszimmermann an.

„Hast du das auch gehört, Ferris?“ fragte er überflüssigerweise. „Ich will doch gleich kielgeholt werden, wenn das nicht so ein verflixter Gong war, wie ihn die Zopfmänner in Siri-Tongs Heimatland bei jeder Gelegenheit verwenden. Das bedeutet, das uns eben zumindest ein Boot passiert hat. Vielleicht hauen die Kerle ständig auf ihren Gong, um anderen Schiffen ihr Näherkommen anzuzeigen. Was meinst du, Ferris?“

Der Schiffszimmermann wiegte den Kopf. Da tönte ein dritter Gongschlag zu ihnen herüber. Aber es war auf keinen Fall derselbe Gong. Er wirkte – trotzdem sie ihn nur sehr leise noch vernahmen – weitaus mächtiger, gewaltiger. Irgendwie schien sein Dröhnen das ganze Wasser zu überziehen.

Auch der Seewolf war vom Achterdeck aufs Hauptdeck abgeentert und stand jetzt bei seinen Männern. Er vermochte es sich nicht zu erklären, aber von diesem Dröhnen schien ihm eine Gefahr auszugehen, die genau auf die „Isabella“ zukroch und irgendwo im Nebel auf sie lauerte.

„Wir sind hier nicht allein“, sagte er in die Stille hinein. „Der letzte Gongschlag war meiner Ansicht nach die Antwort auf die beiden vorangegangenen. Vielleicht dirigieren sie auf diese Weise ankommende Boote in einen Hafen, aber das glaube ich nicht. Das ist etwas anderes. Irgendwo dort im Nebel vor uns liegt entweder eine Küste, eine Stadt oder eine Insel verborgen. Wir können bei diesem Nebel nicht mehr weiter, aber ab sofort patrouillieren Doppelwachen. Drehbassen und Geschütze laden, unser Schiff muß ab sofort jederzeit feuerbereit sein. Morgen werden wir mit einem der Beiboote die Gegend erkunden, aber das Boot bleibt durch eine lange Leine mit der „Isabella“ verbunden. Ferris, das bereitest du bitte mit Will vor“, und damit meinte der Seewolf Will Thorne, den weißhaarigen Segelmacher der „Isabella“.

Der Schiffszimmermann nickte nur kurz. Gleichzeitig warf er einen Blick in den dunkler und dunkler werdenden Nebel, der sich keineswegs auflöste, sondern an Dichte immer noch zuzunehmen schien. Es würde also in einer knappen halben Stunde stockfinster sein, denn bei dieser Suppe half ihnen auch der Mond nicht mehr.

Die Gongs waren verstummt. Nur das leise Gurgeln des Wassers war zu vernehmen.

„Ed, du teilst die Wachen ein“, sagte der Seewolf. „Ben und ich übernehmen die erste achtern. Zwei Mann auf die Back, zwei Mann aufs Hauptdeck, zwei Mann auf dem Achterschiff, das sollte reichen.“

Der Seewolf verschwand, und Carberry blickte ihm nach, während er sich an seinem Rammkinn kratzte.

Abermals sah er den Schiffszimmermann an.

„Wenn Hasard sechs Wachen anordnet, dann ist etwas los“, sagte er. „Da kannst du dich drauf verlassen. Er hat sich in dieser Beziehung so gut wie nie geirrt. Und ihr, ihr Rübenschweine, wenn ihr eure verdammten Glotzaugen nicht aufsperrt, dann ziehe ich euch allen ganz persönlich die Haut in Streifen von euren …“

Wieder brandete Gelächter auf, und Carberrys Rechte wischte durch die Luft.

„Ist ja auch egal, aber ihr werdet es dann schon merken. Ich glaube, es wird allerhöchste Zeit, daß ich euch mal wieder die Gräten richtig langziehe, sonst werdet ihr immer übermütiger und frecher, wie dieses Rübenschwein da!“ Er deutete grinsend auf Luke Morgan. „Du bist auch beim ersten Wachtörn dabei, Freundchen. Auf die Back mit dir, und Blacky kannst du gleich mitnehmen, klar?“

Luke Morgan grinste, dann verschwand er zusammen mit Blacky, der nach ihm wohl der jähzornigste Mann an Bord der „Isabella“ war. Die beiden verstanden sich prächtig und steckten dauernd zusammen.

„Dan, du übernimmst mit mir zusammen die Wache auf dem Hauptdeck. Nach vier Stunden wird abgelöst …“

Carberry teilte die Wachen ein. Eine Weile blieben die Seewölfe, die wachfrei waren, noch diskutierend an Deck. Doch dann legte sich die Finsternis über die „Isabella“, und der Nebel wirkte wie ein schwarzes Tuch, das alles unter sich begrub.

Jenes Boot, das die Insel der Todesgöttin in dieser Nacht erreichte, war schon das dritte seit der Vollmondnacht. Und auch diese Gruppe von Pansigaren hatte Erfolg gehabt. Die Männer mit den hageren Gesichtern und den roten Turbanen auf ihren Schädeln zerrten ein dunkelhaariges Mädchen und einen Mann mit silbergrauem Bart aus dem Boot. Beide waren mit der schwarzen Seidenschlinge gefesselt.

 

Asanga, der oberste Priester der Todesgöttin, stand etwas abseits und beobachtete das alles. Die Pansigare schleppten die beiden Gefangenen zu ihm und stießen sie dort zu Boden.

Das Mädchen starrte den Priester der Kali aus ihren dunklen Augen an. Dann warf sie einen raschen Blick zu ihrem Vater hinüber, der aber bewußtlos zu sein schien. Das Licht flackernder Fackeln erhellte die ganze Szene, Schatten schienen durch den Nebel über die Steinquader zu tanzen.

Das Mädchen schloß die Augen. Sie spürte die Furcht, das Entsetzen, das sich mehr und mehr um ihre Sinne krallte. Was hatte das alles zu bedeuten? Warum hatten die Teufel die Siedlung überfallen, warum waren viele von ihnen erwürgt und ebenso viele dann von diesen braunhäutigen Teufeln verschleppt worden? Irgendwohin – vielleicht wie sie auch hierher?

Das Mädchen riß sich gewaltsam zusammen. Ehe es einer der Pansigare verhindern konnte, sprang sie auf, denn nur ihre Hände waren gefesselt. Sie beherrschte den Dialekt der Eingeborenen leidlich.

Mit einem Schritt stand sie vor Asanga, der sich in diesem Moment in Trance zu befinden schien. Erst beim Klang ihrer Stimme zuckte er zusammen und starrte sie an.

„Was soll das alles?“ wiederholte das Mädchen die Frage. „Warum haben Ihre Leute unsere Siedlung überfallen, warum wurden mein Vater und ich gefesselt und hierher verschleppt? Ich verlange eine Antwort …“

Die Augen Asangas öffneten sich. Ein haßerfüllter Blick traf das Mädchen, und unter diesem Blick prallte sie zurück.

„Schweig!“ herrschte Asanga sie an. „Du wirst erst antworten, wenn die große Kali dich fragt. Antworten mit deinem Blut, denn das wird deine Todesstunde sein!“

Das Mädchen erbleichte. Sie hatte von Kali, der schwarzen Todesgöttin der Hindus, gehört. Asanga entging nicht, daß das Mädchen den Sinn seiner Worte sofort begriff.

„Ja, du wirst sterben, in der nächsten Neumondnacht, wenn das große Fest zu Ehren Kalis in unserem Tempel stattfindet. Sieh dorthin, nein, komm mit, weil du den Frevel, den Menschen deiner Hautfarbe auf dieser Insel der großen Kali angetan haben, nicht sehen kannst, dazu ist der Nebel zu dicht!“

Er packte das Mädchen und zerrte es mit sich fort. Dorthin, wo die Trümmer der Götterstatue auf den Steinquadern in weitem Umkreis verstreut lagen.

„Das geschah in der letzten Vollmondnacht, ein Schiff ankerte hier, genau wie heute dort draußen vor der Insel eines ankert. Diese Barbaren verraten ihre Anwesenheit immer durch ihren Lärm, den sie bei jeder Gelegenheit verursachen, indem sie sinnlos herumbrüllen. Mit den Feuerrohren zerstörten sie das Abbild Kalis, und jetzt zürnt Kali uns. Wir werden sie durch viele, viele Opfer beim nächsten Neumondfest versöhnen. Und du wirst eines dieser Opfer sein, genau wie der Mann, den du deinen Vater nanntest. Mit euch werden noch viele andere sterben, auch jene, die sich da draußen auf ihrem Schiff befinden. Noch bevor der Morgen graut, sind sie Gefangene Kalis!“

Das Mädchen spürte, wie Schwindel sie zu überwältigen drohte. Sie sah den brennenden, fanatischen Blick des Kalipriesters, der sie zu durchbohren schien. Sie hatte einmal in der Siedlung am Fluß von jenen blutigen Menschenopfern gehört, die zu Ehren der Todesgöttin jeden Monat stattfanden.

Sie begann zu taumeln, während die schwarzen Trümmer der Todesgöttin, die von zwei Pansigaren mit Fackeln beleuchtet wurden, vor ihren Augen zu tanzen begannen. Das abgeschlagene Haupt der Göttin schien sie böse anzustarren, unversöhnlich, voller Zorn und verzerrt von Haß und Rache.

Das Mädchen sank zu Boden, und Asanga starrte sie an.

„Schafft die beiden weg!“ befahl er dann. „Sperrt sie in das Gewölbe zu Füßen der Göttin. Das Gewinsel dieser Frevler wird sie besänftigen. Und dann ruft alle anderen. Wann trifft das letzte Boot auf der Insel ein?“

Einer der Pansigare, der einen grünen Turban trug, verneigte sich vor Asanga.

„Es muß jeden Augenblick hier sein, Erhabener. Drei Gefangene befinden sich an Bord, Kali war uns gnädig.“

„Laßt eine Wache hier, ihr anderen folgt mir in den Tempel. Wir werden Kali um Hilfe für diese Nacht bitten. Dort draußen ankert wieder ein Schiff, und wir werden es noch in dieser Nacht überfallen. Schafft die Krüge herbei, die diesen Frevlern das Bewußtsein rauben werden. Ich werde die große Kali bitten, uns zu sagen, wie wir diese weißen Teufel in unsere Hände bekommen, um sie ihr zu opfern. Die große Kali wird uns helfen, denn was in jener Vollmondnacht geschah, das kann nur mit Blut wieder abgewaschen werden!“

Der Pansigar mit dem grünen Turban verneigte sich abermals, während die anderen sich vor Asanga zu Boden warfen.

„Eilt euch, wir haben nicht mehr viel Zeit. Diese Nacht wird darüber entscheiden, ob Kali uns weiterhin zürnt oder nicht.“

Die Pansigare erhoben sich. Dann eilten sie zusammen mit ihrem Priester davon. Nur zwei Mann blieben auf der Insel zurück. Bereit, den großen Gong zu schlagen, sobald Antwort von ihnen gefordert wurde. Und das würde bald sein.

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