Buch lesen: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 170»

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Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-507-1

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

1.

Der Himmel hatte sich mehr und mehr bezogen. Alles schien in diesen nördlichen Breiten grau in grau zu sein. Undeutlich war an Backbord die zerklüftete Felsenküste Labradors zu erkennen. Eine steife Brise aus Nordost füllte die Segel der „Isabella VIII.“ und setzte ihr zu. Denn um den Kurs zu halten, mußte das Schiff ziemlich hoch an den Wind.

Auf den Wogen in der dunklen See bildeten sich Gischtköpfe. Immer wieder brachen sie sich schäumend an den Bordwänden der „Isabella“, und das eiskalte Wasser sprühte über die Decks.

Ben Brighton, der sich unweit des Ruderhauses auf dem Achterkastell aufhielt, warf zum wiederholten Mal einen prüfenden Blick auf die zerklüftete, tiefgraue Felsenküste, zwischen deren Schroffen sich gerade noch das blauweiße Gletschereis erkennen ließ.

Es war eine höllisch unbequeme und unwirtliche Gegend, in die sie mit der „Isabella“ geraten waren. Es sah auch ganz und gar nicht so aus, als ob sich daran in der nächsten Zeit etwas ändern würde. Im Gegenteil, je weiter nördlich sie segelten, desto unwirtlicher und kälter wurde es. Schon hatten sie treibende Eisschollen gesichtet, und Ben Brighton dachte mit Grauen an die Zeit in der Antarktis, wohin sie bei ihrem Versuch, Kap Horn zu umrunden, von einem Orkan verschlagen worden waren.

Langsam ließ der erste Offizier der „Isabella“, der zugleich auch die Funktionen des Bootsmannes und des Kapitän-Stellvertreters erfüllte, seinen Blick über das Hauptdeck wandern, das er durch die scharf angebraßten Segel gut übersehen konnte. Die Männer trugen die wärmsten Sachen, die es an Bord gab. Hosen und Jacken aus schwerem Schlechtwettersegeltuch, darunter gefütterte Ledersachen, die sie noch von der Antarktis hatten. Lederstiefel, die zum Teil bis zu den Oberschenkeln reichten und meist von den Spaniern erbeutet worden waren, vervollständigten das Bild.

Die Stimmung war an diesem Tag an Bord der „Isabella“ nicht sonderlich gut. Zwar machte den Seewölfen das kalte, unfreundliche Wetter kaum etwas aus, aber dieses ewige Grau in Grau, das begann sie zu nerven.

Edwin Carberry, der narbengesichtige Profos der „Isabella“, wanderte langsam über das Hauptdeck. Hin und wieder überprüfte er den Sitz einer der Persenninge, mit denen die siebzehnpfündigen Culverinen abgedeckt waren. Aber alles hatte seine Ordnung, und Carberry mußte sich ein anzügliches Grinsen Al Conroys gefallen lassen, der ihn bei seinem Tun beobachtet hatte.

Aber Carberry schwieg. Auch er befand sich nicht gerade im Zustand rosigster Laune. Ohne den Geschützmeister eines Blickes zu würdigen, ging er weiter und enterte schließlich zum Vorderkastell auf. Dort traf er auf Ferris Tucker, den hünenhaften Schiffszimmermann der „Isabella“ und auf Big Old Shane, den einstigen Waffenmeister auf Arwenack, der Stammfeste der Killigrew-Sippe.

Old Shane blickte auf, und als er Carberry sah, begann er zu grinsen.

„Ho, Ed, wie ich sehe, ist deine Laune inzwischen bis zum Kielschwein durchgesackt, genau wie die Temperatur, die innerhalb der letzten Stunden mehr und mehr gefallen ist.“

Auch Ferris Tucker legte den Hammer zur Seite, mit dem er eben noch am Spill herumgeklopft hatte.

„Shane hat recht, Ed, die Temperatur ist innerhalb der letzten Stunden ein ganz verdammtes Stück gesunken, das gefällt mir ganz und gar nicht, denn das bedeutet nichts Gutes.“

Carberry, der seinen untrüglichen Instinkt für herannahende Unwetter schon mehr als einmal bewiesen hatte, hob die Nase und begann in den Wind zu schnüffeln.

Erst nach einer ganzen Weile wandte er sich den beiden anderen wieder zu.

„Stimmt genau, wir kriegen gehörig einen auf die Mütze, soviel ist mal sicher, aber es kann noch dauern.“

Er verzog mißmutig sein Narbengesicht.

„Ich werde die Jungens mal ein bißchen aufschwänzen. Luken verschalken und so, Blöcke kontrollieren, ob sie vereist sind, Fallen und Brassen ebenfalls auf Gängigkeit überprüfen. Ich glaube, es ist allerhöchste Zeit, daß sie mal wieder ein bißchen Feuer unter ihre Hintern kriegen, sonst versauern sie noch völlig!“

Der Profos wollte sich abwenden, aber Ferris Tucker hielt ihn zurück.

„Wir sollten mit Ben reden, Ed. Er muß den Seewolf aus der Koje purren …“

Carberry zog sofort ein abweisendes Gesicht.

„Nein, das werden wir hübsch bleibenlassen. Weißt du rothaariges Rübenschwein eigentlich, wie lange Hasard und Siri-Tong ohne eine Stunde Schlaf an Deck gestanden haben? Irgendwo ist sogar bei Hasard mal Pause. Nein, Ferris, den lasse ich pennen, solange er will. Und der Teufel soll den holen, der ihn stört, verstanden?“

Wieder wollte Carberry aufs Hauptdeck abentern, aber Ferris Tucker packte ihn am Arm. Seine Augen blitzten zornig.

„Jetzt hör mir mal gut zu, du alter Seebulle. Es dauert nicht mehr lange, dann ist es dunkel. Und wenn es stimmt, daß wir einen auf die Mütze kriegen, dann haben wir allen Grund, uns für die Nacht einen sicheren Ankerplatz zu suchen, denn niemand von uns kennt diese lausige Gegend mit ihren spitzen Klippen und den vorspringenden Felsen. Und wenn der Sturm auch noch aus der Richtung blasen sollte, aus der der Wind jetzt weht, dann möchte ich mal sehen, wie du die ‚Isabella‘ vor Legerwall schützen willst. Der Sturm jagt uns auf die Klippen, daß es nur so kracht. So, und wenn du nicht mit Ben reden willst, dann werde ich das besorgen. Ich wundere mich sowieso schon die ganze Zeit, daß Ben nicht die geringsten Anstalten trifft, um nach einem Ankerplatz Ausschau zu halten.“

Big Old Shane nickte.

„Ferris hat recht, Ed“, sagte er nur. „Außerdem könnte es sowieso nicht schaden, wenn wir uns in eine Bucht verholen, denn die Frischfleischvorräte des Kutschers sind zu Ende. Wir sollten frische Nahrung zu uns nehmen, solange sie sich uns noch anbietet. Der Teufel allein weiß, wie das werden wird, wenn wir weiter und weiter nach Norden segeln …“

Old Shane unterbrach sich, denn eben erschien der Seewolf auf dem Achterkastell.

Carberrys Narbengesicht überzog ein schadenfrohes Grinsen, als er nach achtern deutete.

„Das kommt davon, wenn sich die Gentlemen den Kopf unseres Kapitäns zerbrechen. Wetten, daß Hasard längst alles das erkannt und bedacht hat, was eure Kakerlakengehirne da eben ausgebrütet haben? Aber nichts für ungut, nehmt mal einen Schluck aus meiner Buddel, dann stimmt’s bei euch wahrscheinlich auch wieder!“

Carberry zog eine Rumbuddel aus seiner Segeltuchjacke und reichte sie den beiden. Grinsend nahmen Tukker und Old Shane einen kräftigen Schluck, dann reichten sie die Flasche dem Profos zurück.

„Also, Ed, manchmal hast du gar keine so schlechten Einfälle, das muß man dir lassen. Los dann, runter aufs Hauptdeck, das Spill ist wieder klar. Sicherlich geht der Tanz gleich los, ein paar Blöcke klemmen bestimmt, weil sie wieder vereist sind, da wette ich mit dir!“

Die drei Männer enterten zum Hauptdeck ab. Sie sahen, daß der Seewolf auf dem Achterkastell mit Ben Brighton sprach und zur Küste deutete. Sie wußten auch, über was die beiden Männer miteinander sprachen. Es hatte sich mehr als einmal erwiesen, daß es gar nicht so leicht war, einen wirklich sicheren Ankerplatz mit gutem Ankergrund zu finden.

Doch dann geschah etwas, was alle ihre Pläne total über den Haufen warf.

„Wahrschau, Deck!“

Die Stimme Gary Andrews übertönte die Geräusche an Deck der „Isabella VIII..“ Gary Andrews befand sich zu dieser Zeit als Ausguck im Fockmars.

Carberry fuhr herum. Ihm schwante nichts Gutes, denn wem, zum Teufel, konnte man in dieser gottverlassenen Gegend schon begegnen?

Gary Andrews ließ den Profos nicht lange im unklaren.

„Treibendes Boot Backbord voraus. Etwa sieben, acht Yards lang, ich kann nicht erkennen, ob sich jemand an Bord befindet.“

Unwillkürlich warf Carberry einen Blick in die Richtung, und einmal war es ihm, als könne er einen Schatten an Backbord voraus erkennen. In diesem Moment durchschnitt die Stimme des Seewolfs das Stimmengewirr der Männer an Deck.

„An die Brassen, klar zum Manöver! Wir sehen uns mal an, wer dort in der See treibt. Vielleicht können wir irgendeinem armen Teufel aus Seenot helfen!“

Sofort stürzten die Seewölfe an die Brassen. Die Rahen schwangen herum, Pete Ballie, der am Ruder stand, griff kräftig in die Speichen des Rades.

„Los, wollt ihr mitten am Tage einpennen, ihr Bilgenläuse?“ brüllte Ed Carberry, als die Männer nach dem Segelmanöver erwartungsvoll nach Backbord starrten.

„Ein Boot zu Wasser, und, verdammt, beeilt euch, oder ich werde euch mal wieder ein bißchen anlüften. Das habt ihr wohl schon lange nötig. Oder wie, glaubt ihr, sollen wir zu dem treibenden Boot gelangen? Hinschwimmen, wie, was?“

Der Profos hatte die Arme in die Hüften gestemmt und funkelte die Männer an.

Batuti, Stenmark, Luke Morgan und Blacky gingen daran, eins der beiden Boote klarzumachen. Luke Morgan, der Carberry am nächsten stand, warf dem Profos einen schiefen Blick zu.

„Dir könnte jedenfalls ein kalter Hintern auch nicht schaden“, sagte er, „vielleicht würdest du dann langsam wieder normal!“

Carberry war das nicht entgangen. Mit ein paar Schritten war er bei Luke Morgan.

„Sag das noch mal, Luke“, forderte er drohend. „Ich bin heute gerade in der richtigen Stimmung, so einem lausigen Affenarsch wie dir das Fell zu vergerben, ich …“

„Mister Carberry!“ Die sanfte Stimme Siri-Tongs ließ den Profos mitten in der Bewegung erstarren. „Was ist mit euch verdammten Kerlen eigentlich los?“ fragte sie und sah die beiden Kampfhähne aus ihren kohlschwarzen Augen an. „Dreht ihr schon bei so ein bißchen Kälte durch? Es wird noch kälter werden, viel kälter sogar. Dies alles hier ist erst der Anfang. Also an die Arbeit, oder euch alle holt der Teufel, klar?“

Carberry ließ die Fäuste sinken. Luke Morgan kroch in sich zusammen. Es hätte dem hitzköpfigen Engländer überhaupt nichts ausgemacht, sich mit dem riesigen Profos herumzuprügeln – im Gegenteil, vielleicht hätte das die ganze Stimmung an Bord im Nu bereinigt. Aber mit der Roten Korsarin anzubinden, das war schon eine andere Sache. Erstens konnte man sie nicht behandeln wie irgend jemanden aus der Crew, zweitens gab das ganz bestimmt massiven Ärger mit dem Seewolf und drittens wußte sich Siri-Tong auch recht gut selber zu behaupten.

Luke Morgan warf Carberry einen Blick zu. Dann hob er resignierend die Schultern und ging zu den anderen hinüber. Auch Carberry verdrückte sich. Er hatte eine Schwäche für die Rote Korsarin, jedermann an Bord wußte das, auch wenn er niemals die Grenzen überschritt. Aber auch er wollte sich mit der Roten Korsarin nicht anlegen, zumal zu allem Unheil in diesem Moment auch noch die beiden Söhne des Seewolfs an Deck erschienen und natürlich prompt aufs Hauptdeck hinunterstürmten.

Die Rote Korsarin, die das alles sehr rasch begriff, konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Doch dann wandte sie sich den Männern zu, die eben das Boot von der Persenning befreiten.

„Ich übernehme das Ruder“, sagte sie beiläufig. „Such ein paar Männer aus, Profos, die das Boot pullen.“

In diesem Moment, noch ehe Carberry etwas erwidern konnte, meldete sich Gary Andrews erneut aus dem Fockmars.

„Es ist jemand im Boot. Vielleicht ein Toter, er rührt sich nicht mehr. Soweit ich erkennen kann, handelt es sich um eins jener großen Fellboote, die die Eskimos Umiak nennen. Es ist beschädigt, der Mast ist gebrochen, das Segel zerfetzt, es liegt im Vorschiff und bedeckt eine Gestalt, die ebenfalls dort liegt.“

Der Seewolf gab abermals ein paar Kommandos, die „Isabella“ drehte in den Wind, die Rahen wurden vierkant gebraßt. Langsam verlor das Schiff an Fahrt.

Carberry klarierte die Talje an der Großrah, und inzwischen langten auch Ferris Tucker und Big Old Shane mit zu. Der alte O’Flynn humpelte heran, so rasch das mit seinem Holzbein ging. Düster starrte er auf die See hinaus.

„Ein Toter“, murmelte er, „das bringt Unglück, das ist der Vorbote herannahenden Unheils“, fügte er noch hinzu, wich aber geschickt zurück, als Carberry ihm einen finsteren Blick zuwarf.

Ferris Tucker grinste, ihm war das alles nicht entgangen.

„Los, hol den Kutscher, Donegal“, sagte er. „Wahrscheinlich werden wir ihn brauchen. Und beeil dich!“

Der alte O’Flynn stieß eine Verwünschung aus, aber dann humpelte er davon.

Das Boot wurde in Rekordzeit zu Wasser gefiert. Ferris Tucker, Ed Carberry, Luke Morgan, Big Old Shane und Batuti, der riesige Gambia-Neger, sprangen hinein. Ihnen folgte die Rote Korsarin und als letzter noch der Kutscher, der zusammen mit dem Profos Posten im Bug des Bootes bezog.

Das Boot legte ab. Ein Schneeschauer fegte über die See und eiskalter Gischt übersprühte die beiden Männer im Bug. Carberry quittierte das mit einem Fluch.

Batuti, Big Old Shane, Luke Morgan und Ferris Tucker pullten aus Leibeskräften. Die See ging hoch, ein eiskalter Wind, immer wieder vermischt mit dichten Schneeschauern, fegte über das Wasser.

Carberry dachte in diesem Moment wehmütig an die Sonne und die Wärme der Karibik. Obwohl er die See vor sich keinen Moment aus den Augen ließ, gaukelte ihm seine Phantasie Trugbilder von blauem Himmel, tiefblauer See und heller Sonne vor. Gewaltsam mußte er diese Phantasien abschütteln.

Aber Tatsache blieb, daß der eisenharte Profos der „Isabella“ dieses ewige graue Einerlei, den ewigen Schnee, die Kälte und Nässe, die immer weiter ins Schiff kroch und einen selbst im Schlaf noch verfolgte, haßte. Er hätte das nie zugegeben, aber er haßte sie. Und Carberry dachte mit Grauen daran, was ihnen bevorstand, wenn sie noch weiter nach Norden segelten.

Schnee, Eis, erbarmungslose Kälte, gegen die keine Kleidung schützte. Der einzige Ort, an dem man sich allenfalls aufwärmen konnte, war die Kombüse des Kutschers, und der sah, das absolut nicht gern, wenn man ihm dort auf die Nerven ging, zumal er schon zeitweise Sir John, den Papagei, und auch Arwenack, dem Schimpansen, Asyl vor der grimmigen Kälte gewährte, denn die Seewölfe wollten vermeiden, daß die beiden Maskottchen der Crew jämmerlich zugrunde gingen.

Außerdem hatte er so manchesmal die beiden Rangen des Seewolfs zu Gast – und die waren schlimmer, als Sir John und Arwenack zusammen. Denn so schnell, wie die beiden dem Kutscher irgend etwas klauten, Kandis oder ein Stück Fleisch oder Schiffszwieback, so schnell konnte er seine Augen gar nicht überall haben.

Bei dem Gedanken grinste der Profos plötzlich wieder. Sie waren schon eine ganz verdammte Bande, diese beiden Rübenschweine des Seewolfs! Aber helle waren die Kerlchen, so helle, daß sogar Siri-Tong, die sich viel um die beiden kümmerte, oft ihre liebe Not mit ihnen hatte und ihnen hin und wieder den Hosenboden gehörig strammzog. Jedenfalls war das in der letzten Zeit ein paarmal passiert, wenn sie es gar zu toll an Bord getrieben hatten. Aber sonst schienen die Rote Korsarin und die beiden Jungen ein Herz und eine Seele zu sein, ganz im Gegensatz zur ersten Zeit nach der Schlangen-Insel.

Wieder mußte der Profos grinsen. Hatte ihn der Hasard, dieses Rübenschweinchen, doch glatt einmal gefragt, wieso man diese verdammte Siri-Tong nicht einfach an Land setzen oder in den Harem stecken könne. Da gehörten nach Meinung des kleinen Hasard nun mal alle Frauen hin. Oh, verdammt, das war gar nicht so leicht gewesen, dem Bürschchen klarzumachen, was es mit Frauen wie Siri-Tong für eine Bewandtnis hatte!

Der Profos wurde aus seinen Gedanken gerissen. Vor dem Boot tauchte ein länglicher Schatten auf, der aber immer wieder im Schneegestöber verschwand.

„Boot Steuerbord voraus“, sagte Carberry, als er den Schatten wieder gesehen hatte. „Mehr nach Steuerbord, sonst laufen wir glatt vorbei!“

Siri-Tong drückte die Ruderpinne herum. Ed Carberry hob den Enterhaken. Bei diesem Seegang mußte man schnell sein. Wieder klatschte eine Woge gegen den Bug des Bootes und übersprühte seine Insassen mit einem Schwall eiskalten Wassers.

Aber dann tauchte das Fellboot vor ihnen auf, und Carberry erkannte, daß der Fockgast der „Isabella“ richtig gesehen hatte. Es handelte sich um eins der Boote, die die Eskimos Umiak nannten. Es war gut acht Yards lang, im Vorschiff stand noch der kümmerliche Rest eines Mastes, an dem die Fetzen eines Mattensegels hingen.

Der Profos schlug mit dem Enterhaken zu. Beim erstenmal verfehlte er durch eine hochgehende See das fremde Boot, aber der zweite Versuch gelang.

„Los, Kutscher, Leine, belegen!“ befahl er überflüssigerweise, denn der Kutscher hatte längst geschaltet und war an Bord des Fellbootes gesprungen und hatte dort eine der Bootsleinen um den Maststumpf geschlungen.

Carberry sprang ebenfalls hinüber, während die anderen Männer auf den Duchten blieben und das schwere Boot der „Isabella“ so gut es ging mit den Riemen zu manövrieren versuchten.

Siri-Tong hatte ihren Platz an der Ruderpinne ebenfalls verlassen und balancierte durch die Männer auf den Duchten nach vorn. Dann sprang sie in das Fellboot, wo der Kutscher und Carberry bereits neben einer wie leblos wirkenden Gestalt knieten.

Die Rote Korsarin drängte sich zwischen die Männer. Und dann blickte sie den Kutscher und Carberry verblüfft an.

„Ein Mädchen!“ stieß sie hervor. „Sie lebt, aber sie hat eine tiefe Wunde in der linken Schulter!“

Der Kutscher nickte nur, gleichzeitig wies er auf die Backbordseite des Fellbootes. Siri-Tong folgte seiner Armbewegung mit den Augen. Und da sah sie es. Die Bordwand war eingedrückt und wies Blutspuren auf. Der obere Rand der Bordwand war völlig zerfetzt. Nur dem Umstand, daß das Fellboot sehr leicht war und, wie ein Korken auf den Wogen trieb, war es zuzuschreiben, daß es noch schwamm und nicht allzuviel Wasser übernommen hatte.

„Was mag hier geschehen sein?“ fragte sie den Profos und ihre dunklen Augen versuchten, das Geheimnis zu durchdringen. Das Boot mußte mindestens fünf oder sechs Männer außer dem Eskimomädchen an Bord gehabt haben. Aber von ihnen fehlte jede Spur. Und woher stammte die tiefe Wunde in der Schulter des Mädchens?

Der Kutscher unterbrach ihre Überlegungen.

„Wir müssen sie an Bord nehmen. Hier kann ich die Wunde nicht versorgen. Außerdem übersteht dieses Boot den Sturm wahrscheinlich nicht, der sich anzubahnen scheint.“

Carberry nickte.

„Pack an, Kutscher, wir wollen sie erst mal in unser Boot hieven. He, Ferris, Batuti, langt mal mit zu! Hier ist ein verletztes Eskimomädchen, wir nehmen sie mit zur ‚Isabella‘.“

Ferris Tucker, der hünenhafte, rothaarige Schiffszimmermann der „Isabella“, erhob sich von der Ducht. Batuti, der ebenfalls aufstehen wollte, drückte er wieder auf die Ducht zurück.

„Bleib du an den Riemen, das ist wichtiger. Wenn uns eine See auf diesen Fellhaufen wirft, säuft der ab wie ein Stein. Ich erledige das schon.“

Ferris Tucker packte das Mädchen, das Carberry und der Kutscher ihm zureichten. Mit der Bewußtlosen balancierte er bis zur ersten Ducht. Er schob den Gambia-Neger zur Seite und reichte das Mädchen Big Old Shane an, der es auf die Achterducht bettete.

„Was wird mit dem Boot?“ fragte Ferris Tucker Carberry. „Nehmen wir es in Schlepp, das Ding wäre leicht zu reparieren. Und ich denke, daß so ein Boot für die Eskimos einen ungeheuren Wert darstellt, nicht einmal mit Gold zu bezahlen.“

Carberry sah den Schiffszimmermann überrascht an. Soweit hatte er noch gar nicht gedacht.

„Du hast verdammt recht, Ferris. Wir nehmen es mit. Ich fürchte, dieses Mädchen da hinten hat schon Schwierigkeiten genug. Also wollen wir wenigstens versuchen, das Boot zu retten!“

Ferris Tucker gab die notwendigen Anweisungen, er merkte nicht einmal, daß die Rote Korsarin ihn dabei aus schmalen Augen beobachtete, eine steile Falte über der Nasenwurzel. Es war nicht das erste Mal, daß ihr auffiel, daß auf der „Isabella“ niemand lange fragte, sondern eine als notwendig erkannte Sache durchgeführt wurde.

Die Männer der „Isabella“ waren in allen Dingen sehr selbständig, auch der Seewolf gab nur selten Befehle, jeder wußte grundsätzlich selbst, was er zu tun und zu lassen hatte. Lediglich das Gebrüll Carberrys, mit dem er notwendige Arbeiten oder Manöver gern begleitete, paßte in dieses Schema nicht hinein. Aber das schien nur so, denn Carberry wußte selber nur zu gut, daß er kaum jemals einen Befehl zu geben brauchte, nur konnte er eben nicht anders. Und den Seewölfen hätte auch ganz bestimmt etwas gefehlt, wäre es anders gewesen.

Siri-Tong konnte sich an diese nahezu perfekte Zusammenarbeit der Crew nur schwer gewöhnen. Sie hatte immer noch oft das Gefühl, daß die Männer sie einfach übergingen und sie als Frau hier und da von den Seewölfen nicht für voll genommen wurde. Aber sie hatte lernen müssen, daß auch das wiederum den Tatsachen nicht entsprach. Nur – ganz im Gegensatz zu ihrer Crew auf dem schwarzen Segler, auf dem sie oder der Wikinger oder der Boston-Mann manchmal gehörig dazwischengehen mußten –, hielt man sich an Bord der „Isabella“ nie mit irgendwelchen Überflüssigkeiten auf.

Siri-Tong sagte auch nichts, als Carberry kurzerhand ihren Platz an der Ruderpinne übernahm und sich der Kutscher neben die Verwundete kniete, während Ferris Tucker das Fellboot am Heck ihres Bootes mittels einer langen Leine befestigte.

Das Schneegestöber war dichter geworden, und die See ging hoch. Siri-Tong stand nunmehr im Bug des Bootes. Sie suchte die See nach der „Isabella“ ab, aber die schien verschwunden.

Auch der Seewolf hielt Ausschau nach dem Boot und den Männern und der Roten Korsarin. Längst hatte er Dan O’Flynn, der die schärfsten Augen an Bord der „Isabella“ hatte, als Ausguck in den Großmars geschickt. Zusammen mit Bill und Gary Andrews hielt er ebenfalls Ausschau nach dem Boot. Aber es blieb verschwunden.

Das Wetter verschlechterte sich von Minute zu Minute. Das Heulen des Windes in den Wanten, Pardunen und der übrigen Takelage wurde so stark, daß die Seewölfe sich nur noch brüllend verständigen konnten.

Hasard machte sich schwere Vorwürfe, und Ben Brighton, der neben Pete Ballie am Ruder stand, ging es nicht anders. Aber, zum Teufel, wer kannte sich denn schon in diesen tükkischen Breiten aus? Wer hatte wissen können, daß sich das Wetter innerhalb von weniger als einer halben Stunde so rapide verschlechtern würde?

Gischt sprühte über das Schiff, und immer noch war von ihrem Boot nichts zu sehen. Das Schneegestöber wurde immer dichter und nahm der „Isabella“ die Sicht. Außerdem drehte der Wind. Auch wieder innerhalb von Minuten trieb die „Isabella“ auf die hohen Felsen zu, die sie vor dem Unwetter schon beobachtet hatten.

Hasard enterte aufs Hauptdeck ab. Er mußte handeln, und zwar sofort. Es war das erste Mal, daß er von einem Unwetter derartig überrascht wurde, während sich einige seiner Männer und Siri Tong noch in einem Boot draußen befanden.

Der Seewolf lief zu Al Conroy hinüber, der sich bei seinen Geschützen auf dem Hauptdeck aufhielt und die Brooktaue kontrollierte.

„Rasch, Al, ein paar Männer. Böllerschüsse. Ed und die anderen sind vielleicht vom Sturm abgetrieben worden. Sie können uns bei diesem verdammten Schneegestöber auch nicht sehen, wir müssen ihnen durch Böllerschüsse unsere Position anzeigen.“

Der Seewolf packte selber mit zu. Gleichzeitig warf er immer wieder einen Blick zum Achterdeck, wo Ben Brighton jetzt die notwendigen Vorkehrungen traf, um den Kurs der „Isabella“ zu ändern, denn die Felsenküste an Backbord wurde mehr und mehr zu einer ernsten Bedrohung. Ob sie wollten oder nicht, sie mußten wieder Fahrt aufnehmen, und zwar rasch.

Aber noch zögerte Ben Brighton. Sobald sich die Segel der „Isabella“ füllten, hatten die Männer im Boot, das dort bestimmt irgendwo im Schneegestöber nach ihnen suchte, kaum noch eine Chance, die „Isabella“ zu finden. Es war eine ganz verteufelte Situation, eine, in der sie sich, solange der Bootsmann der „Isabella“ sich erinnern konnte, noch nie befunden hatten.

Der Wind wurde immer härter. Alle an Bord der „Isabella“ spürten es, wie er sie auf die Küste zujagte.

Der Seewolf riß und zerrte die Persenning von einem der Geschütze. Ein paar Seewölfe halfen ihm dabei, Al Conroy hatte inzwischen Pulver besorgt und lud die Culverine für den ersten Böllerschuß. So schnell hatte der Stückmeister der „Isabella“ noch nie ein Geschütz geladen. Dann dröhnte der Schuß auf. Der Donner rollte über die See. Wenig später folgte der zweite, dann der dritte. Danach lauschten die Männer angestrengt in den Sturm, aber sie hörten nichts außer dem Heulen in der Takelage und dem Donnern der Brecher, die an die Bordwände der Galeone krachten und die Decks mit ihrem eiskalten Wasser überschütteten.

Ben Brighton raste heran.

„Wir können nicht mehr warten, oder der Sturm wirft uns in die Felsen. Es ist allerhöchste Zeit!“

Der Seewolf starrte seinen ersten Offizier und Stellvertreter an, der zugleich auch einer seiner engsten Freunde war. Er sah, daß Ben Brighton totenblaß war, sein Atem schwer ging und seine Hände zu Fäusten geballt waren. Da wußte der Seewolf, daß Ben Brighton genauso dachte wie er.

Wieder feuerte Al Conroy. Wieder starrten die Seewölfe in die tobende See und duckten sich unter dem Wasser, daß sie ansprang und die Decks überspülte. Die schäumende See schien gierig nach ihnen zu greifen.

Die beiden Zwillinge Hasard und Philip, die erst in diesem Augenblick begriffen, vor welch eine Entscheidung ihr Vater gestellt wurde, klammerten sich an den Seewolf.

„Ruft Donegal, der alte O’Flynn soll sich um die beiden kümmern. Ben, anbrassen, Kurs aufs offene Meer!“

Die beiden Freunde blickten sich sekundenlang an, einer so blaß wie der andere. Auch die anderen Seewölfe, die sich in Bens und Hasards Nähe befanden, waren kalkweiß im Gesicht. Sie wußten, was das für Carberry, Ferris Tucker, Big Old Shane, Luke Morgan, den Kutscher und Siri-Tong bedeutete. Es war ihr Todesurteil. Denn dieses Wetter in ihrem Boot zu überleben, dazu hatten die Männer und Siri-Tong nicht die geringste Chance.

Von Backbord her wurde das Donnern einer gewaltigen Brandung hörbar. Durch die Männer ging es wie ein Ruck. Sie tauschten einen letzten Blick mit ihrem Kapitän, dem Seewolf, dem der Sturm die langen schwarzen Haare wild nach hinten zerrte. Dann sprangen sie an die Brassen und in die Wanten. Aber diesmal ohne das Gebrüll Ed Carberrys.

Das war der Moment, in dem jeder Mann auf der „Isabella“ begriff, was für ein entsetzlicher Schlag sie alle getroffen hatte. Ed Carberry, Big Old Shane, Ferris Tucker, Batuti, der Kutscher, Luke Morgan, Siri-Tong – aufgegeben, der eisigen See überantwortet. Und niemand an Bord der „Isabella“ war in der Lage, irgend etwas zu ihrer Rettung zu unternehmen. Wenn sie nicht sofort das offene Meer gewannen, dann waren sie ebenso verloren und würden auf den scharfen Klippen der Küste Labradors zerschellen.

Zum erstenmal in ihrem Leben waren die Seewölfe ratlos, während sie begannen, den Kampf gegen den Sturm verbissen aufzunehmen. Tränen der Wut liefen Smoky über die Wangen, und er war nicht der einzige, dem es so ging.

Die Seewölfe begriffen in diesem Moment, daß es nach diesem Sturm, falls sie ihn überstanden, die alte „Isabella“, die sie kannten, wie sie immer gewesen war, nie wieder geben würde …

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
100 S. 1 Illustration
ISBN:
9783954395071
Verleger:
Rechteinhaber:
Bookwire
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