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Marlene Dietrich – Erinnerungen einer Schülerin
Auguste-Viktoria-Schule (Charlottenbrug)

Das Schultor war schwer, erinnerte sich Marlene Dietrich. Man hatte das kleine Mädchen zu früh eingeschult, bereits 1907, sie musste sich mit ihrer ganzen Kraft gegen das Tor stemmen, um es zu öffnen. Schon in der Früh, wenn sie die elterliche Wohnung in der Kaiserstraße verließ und zur Auguste-Viktoria-Schule in der Nürnberger Straße lief, war ihr flau im Magen. Fiel die Schultür hinter ihr wieder zu, fühlte sie sich wie gefangen und die Angst stieg in ihr auf. Nicht, weil das Lernen ihr schwergefallen wäre, im Gegenteil, sie konnte ja schon lesen und schreiben. Marlene hatte vor anderen Dingen Angst: vor den Lehrern und ihren Strafen, vor dem Verlust der Freiheit, vor der Einsamkeit vor allem. Einsam blieb sie nicht nur, weil sie so jung war, einsam blieb sie wegen ihrer natürlichen Scheu, sich einer Gruppe anzuschließen. Unterhielten sich die Kameradinnen in der Pause, tuschelten und alberten sie herum, blieb Marlene alleine. Sie litt darunter, obwohl sie nichts danach drängte, dazuzugehören. Zwar war sie eine gute Schülerin, jedoch ohne Freude am Unterricht. Bereitwillig ließ sie ihre Mitschülerinnen abschreiben, doch auch dadurch änderte sich nichts, sie blieb die stille Beobachterin, die sich nur eines herbeisehnte: die Glocke, die das Ende des Unterrichts bedeutete. Als Gefängnis empfand sie die Schule. Sie sehnte sich nach einem Menschen, der sie verstand, der zu ihr hielt und ihr die Einsamkeit nahm.

Eines Tages, als das schlanke Mädchen mit dem rotblonden Haar in der Pause alleine an einem der großen Fenster des langen Flurs stand und traurig in den Regen blickte, trat eine Lehrerin an ihre Seite, sah eine Weile mit ihr gemeinsam hinaus und sagte dann mit leichtem französischem Akzent: »Hast du einen ernsten Grund dafür, traurig zu sein?«

Marlene schüttelte den Kopf.

»Dann ist Traurigsein eine Sünde.«


Auguste-Viktoria-Schule, ehemalige Schule von Marlene Dietrich in der Nürnberger Straße 63

Es klingelte, die Pause war vorüber und die Lehrerin ging fort. Marlene sah ihr nach. Madame Breguand hatte dunkle Augen und trug ihr schwarzes Haar zu einem lockeren Knoten gebunden. Ihre Worte hatten großen Eindruck auf Marlene gemacht und verwunderten sie zugleich. Madame Breguand kannte sie doch kaum, hatte sie bislang nicht als Schülerin gehabt. Warum hatte sie sie angesprochen?

Ob Madame Breguand mehr gewusst hatte, als die kleine Marlene vermuten konnte? Ob sie gewusst hat, dass Marlene bereits Halbwaise war, dass ihr Vater, der schönste Polizist von Berlin, nach langem Leiden verstorben war? Ob sie ahnte, was Marlene mitgemacht hatte, als sie den geistig umnachteten Vater in der Klinik besucht, ihm zum Abschied die gelbe Haut gestreichelt hatte? Dass man ihr eingetrichtert hatte, ein echtes Berliner Mädchen würde nicht weinen?

Madame Breguand kam jetzt in jeder Pause vorbei, um ein wenig zusammen zu plaudern. Sie war entzückt, als sie hörte, wie gut Marlene schon Französisch konnte. Interessierte sie sich für Marlene, weil sie deren Einsamkeit spürte, weil sie merkte, dass Marlene anders war? Marlene blühte auf. Zum ersten Mal ging sie gerne zur Schule, zum ersten Mal fiel es ihr leicht, das Schultor zu öffnen. War die Pause vorüber, half sie Madame Breguand, die Bücher zu tragen, sprach ein paar Sätze Französisch mit ihr. Bevor sie die Tür zum Klassenzimmer schloss, sah die Lehrerin Marlene noch einmal dankbar an. So leicht war Marlene dann zumute, sie hätte jubeln, hätte singen können. All ihr Bestreben war es nun, ihrer neuen Freundin Zeichen der Dankbarkeit zukommen zu lassen. Sie lernte immer neue Vokabeln, machte ihr heimlich Geschenke: ein blau-weiß-rotes Band, das die Mutter auf einem Ball getragen hatte, einen Strauß Maiglöckchen, leuchtenden Klatschmohn zum 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag. Als Marlene ihrer Lehrerin ein Parfum kaufen wollte, aber schritt die Mutter ein. Ein solch teures Geschenk würde nur für Verlegenheit sorgen. Oft wartete Madame Breguand nach dem Unterricht noch mit Marlene vor der Schule auf deren Gouvernante. Hoffentlich verspätet sie sich heute, wird sich Marlene heimlich gewünscht haben.


Nicht nur für Blaue Engel: Budapester Straße 2

Marlenes Glück war perfekt, als sie ihren Schutzengel endlich zur regulären Lehrerin bekam. Bei ihr im Unterricht zu sitzen, ihre Stimme zu hören, Geschichten und Märchen aus Frankreich zu lauschen, kein größeres Glück konnte sich Marlene denken. Auch wenn Madame Breguand sie im Unterricht nicht anders behandelte als die Mitschülerinnen, spürte Marlene doch das geheime Band der Sympathie, das jede Französischlektion zum Fest werden ließ.

So freute sich Marlene auch im Sommer 1914 auf den Beginn des neuen Schuljahres. Doch wie groß war ihr Schreck, als sich Lehrer und Schüler in der Aula versammelten. Wo war Madame Breguand? Wo war ihr Schutzengel, ihre Vertraute? Hatte sie die Schulglocke nicht gehört, stand sie vielleicht in der hintersten Reihe? Marlene stellte sich auf die Zehenspitzen, vergebens, das liebe Gesicht fehlte. Dann wurden pathetische Reden gehalten, von Reich und Ehre, vom Krieg, dem großen vaterländischen, der jetzt ausgebrochen war, vom Erzfeind Frankreich, den man bezwingen, von Paris, in das die deutschen Soldaten bald einmarschieren würden. Marlene fing an zu zittern. Plötzlich wurde ihr klar, warum ihre Lehrerin fehlte. Sie ist Französin. Deutschland kämpft gegen Frankreich. Deshalb fehlt sie. Weil sie zum Feind gehört.

Ohnmächtig sank Marlene zu Boden. Man achtete nicht weiter darauf, schob es auf die schlechte Luft in der Aula, flößte ihr Wasser ein. Marlene war eines der ersten Opfer des Krieges. Sie hatte ihre beste Freundin verloren. Sie hasste den Krieg, hasste ihn von der ersten Minute, hasste die Soldaten, die singend durch Berlin zogen, die Frauen küssten, Blumen in ihre Gewehrläufe steckten. Die Schule wurde wieder zum Gefängnis. Aber Marlene fand ihren Weg in die Freiheit: Sie hielt Madame Breguand weiter die Treue, sprach weiter Französisch, auch wenn sie dafür jedes Mal zehn Pfennig in die Klassenkasse zahlen musste. Tief im Herzen bewahrte sie ihr Geheimnis, die Liebe zu Frankreich, zur sanften, vertrauten Sprache, zu einem Menschen, den sie liebte.

Auguste-Viktoria-Schule

Nürnberger Straße 63

10787 Berlin

Tod im Morgengrauen – Clara Immerwahr
13 Haber-Villa (Dahlem)

Sie war nicht gleich tot. Der Schuss war ihr durchs Herz gegangen, noch lebend aber hatte man sie gefunden, in den Morgenstunden des 5. Mai 1915, auf dem Rasen vor dem Wintergarten ihrer Dahlemer Villa. Die Rettung kam zu spät. Clara Immerwahr starb, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben, neben ihr der Armeerevolver ihres Mannes. Eigentlich trug sie seinen Namen, sie ist ja seine Ehefrau gewesen, die Frau eines der größten Chemiker seiner Zeit, Fritz Haber, seit 1911 Direktor des neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie. Die Ehe ist unglücklich verlaufen, Fritz Haber, zwei Jahre älter, ebenfalls jüdischer Herkunft, hatte die Nähe einer anderen Frau gesucht, hatte am Abend zuvor bei einem Gartenfest intensiv geflirtet, als Clara ihn überraschte. Sie ist in ihr Zimmer, an ihren Schreibtisch, hat Abschiedsbriefe geschrieben. Dann nahm sie den Revolver und trat hinaus ins Freie.

Später hieß es, die begabte Wissenschaftlerin, die erste deutsche Frau, die in Chemie promovierte, sei mit dem Kriegswahn ihres Mannes nicht klargekommen, damit, dass er seine Forschungen in den Dienst der Armee gestellt hatte, in einen teuflischen Dienst. Um die Franzosen an der Westfront in ihren Gräben zu töten, hatte er das Verfahren perfektioniert, Giftgas einzusetzen, Tausende junge Franzosen waren dabei ums Leben gekommen, elend erstickt. Aufgewühlt von dieser Nachricht hatte die Pazifistin protestiert, zum großen Ärger ihres Mannes. Hautnah hatte sie mitbekommen, wie das Gift wirkt, bei Tests in unmittelbarer Nähe der Dienstvilla waren Affen grauenvoll krepiert. Auch bekam sie das Bild der entstellten Leiche ihres Freundes Otto Sackur nicht aus dem Kopf; bei geheimen Forschungen an kriegswichtigen Sprengstoffen im Labor ihres Mannes war es zu einer Explosion gekommen. Liebeskummer, Enttäuschung, das Gefühl, als Ehefrau keine eigene Karriere machen zu können, der furchtbare Giftkrieg … es wird eine Melange von Gefühlen gewesen sein, die Clara Immerwahr in den Tod getrieben hat. Ob sie heute, hundert Jahre später, ihr Glück gefunden hätte?


Haber-Villa, Rasen vor dem Wintergarten

Haber-Villa

Faradayweg 8

14195 Berlin

Das Leben der Anderen
14 Wohnhaus von Georg Dreyman (Friedrichshain)

Ein Oskar. Für einen deutschen Film. Ein seltener Moment in der Filmgeschichte. Im Jahr 2006 wurde er dem Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck überreicht, für den besten fremdsprachigen Film des Wettbewerbs. Kaum einer, den dieses Meisterwerk nicht angerührt hätte. Es erzählt die Geschichte eines kleinen Schnüfflers, eines grauen, einsamen Menschen, des Stasi-Hauptmanns Gerd Wiesler, gespielt von Ulrich Mühe. Wiesler wird beauftragt, den als politisch unzuverlässig geltenden Theaterschriftsteller Georg Dreyman zu observieren. Hierzu verwanzt er dessen Wohnung und richtet eine Abhöranlage auf dem staubigen Speicher ein. Was Wiesler erst im Laufe der Zeit merkt: Es geht dem DDR-Kultusminister, der die Aktion initiiert, gar nicht um den Theatermann, es geht ihm um dessen Freundin, die Schauspielerin Christa-Maria Sieland. Hinter ihr ist er her, sie will der feiste Mensch ins Bett kriegen. Fein gezeichnet wird der Charakter des im Leben der Anderen schnüffelnden Wieslers, wie er neugierig wird auf eine Welt, die ihm fremd ist, die Welt der Literatur und Musik, wie er Sympathie entwickelt für das Liebespaar, wie er anfängt, an seiner Arbeit zu zweifeln und sie dennoch pflichtgemäß erledigt, bis er beginnt, als unsichtbarer Geist in die Geschichte einzugreifen, den Verfolgten zu helfen und doch die Katastrophe nicht verhindern kann, den Tod der Schauspielerin. Versöhnlich dann die Schlussszene: Nach der Wende entdeckt Dreyman, der in der Wedekindstraße 21 wohnt, dass man ihn überwacht hat. Mithilfe seiner Stasi-Akte identifiziert er Wiesler, der sich sein Geld mit dem Austragen von Wurfsendungen verdient. Dreyman beobachtet Wiesler, nimmt keinen Kontakt zu ihm auf, widmet ihm aber seinen Roman Die Sonate vom guten Menschen unter Benutzung seines Stasikürzel: »Für HGW XX/7 gewidmet, in Dankbarkeit.« Wiesler entdeckt das Buch in einer Auslage, kauft es und schaut hinein.

 

Wohnhaus Wedekindstraße 21

»Soll ich es als Geschenk verpacken?«, fragt ihn die Verkäuferin.

»Nein«, antwortet Wiesler, »es ist für mich.«


Wohnhaus von Georg Dreyman

Wedekindstraße 21

10243 Berlin

Friedrich Rückert – Berlins erster Gruner
15 Oberbaumbrücke (Friedrichshain-Kreuzberg, verbindet die beiden Ortsteile)

Einer der frühen Ankläger der mit der Industrialisierung einsetzenden Umweltverschmutzung ist der Dichter und Sprachgelehrte Friedrich Rückert gewesen. 1841 von Erlangen an die Berliner Universität berufen, war der geniale Weltpoet, der aus 44 Sprachen übersetzen konnte, entsetzt darüber, wie es in der preußischen Hauptstadt stank, und fand dafür deutliche Worte:

Der Spree ist’s weh;

Sie kann sich nicht entschließen,

In Berlin hineinzufließen,

Wo die Gossen sich ergießen.

Wer mag ihr verdenken?

Sie möcht' lieber, wenn sie dürft’ , umlenken.

Hindurch doch muss sie schwer beklommen;

Sie kommt beim Oberbaum herein,

Rein wie ein Schwan,

Um wie ein Schwein,

Beim Unterbaum herauszukommen.

Oberbaum und Unterbaum dienten einst der Abwehr von Schmugglern. Damit auch die Schiffer ihre Waren ordnungsgemäß verzollten, versperrte man ihnen den Weg über die Spree mit eisenbeschlagenen Baumstämmen. Der Oberbaum versperrte im Südosten beim Eintritt des Flusses die Stadt, flussabwärts sein Pendant, der Unterbaum, im Nordwesten. Die stattliche Oberbaumbrücke erinnert heute noch an die alte Zollstation. Die Unterbaumbrücke befand sich auf der Höhe der jetzigen Friedrichsbrücke nahe des Tränenpalastes.



Oberbaumbrücke

Friedrich Rückert muss man sich als unkonventionellen Menschen vorstellen. Selbst bei Hofe scherte er sich nicht um gesellschaftliche Gepflogenheiten, das bekam auch Friedrich IV. zu spüren, der seine Universität zur bedeutendsten Deutschlands machen wollte. Gerne schmückte der König seine Tafel mit seinen Gelehrten. Als auch Rückert – nolens volens – der Einladung folgte, flüsterte Alexander von Humboldt ihm zu, wo denn der Orden sei, mit dem ihn der König ausgezeichnet hatte. Rückert zuckte die Schultern und erwiderte, das Ordensband habe seiner Frau gefallen, er habe es abgeschnitten, damit es ihren neuen Hut ziere.

Friedrich Rückert ist in Berlin nie recht heimisch geworden und war froh, 1848 in sein geliebtes Frankenland zurückzukehren. Eine steinerne Büste, die einst auf dem Kreuzberg stand, ist leider verschwunden, eine Rückertstraße in Charlottenburg erinnert noch an den frühen Grünen, außerdem existieren Autographen in der Staatsbibliothek.


Friedrich-Rückert-Denkmal, nicht in der Hauptstadt, dafür in Schweinfurt

Oberbaumbrücke

10243 Berlin

Pack die Badehose ein
16 Wohnhaus der Familie Froboess in den 1950er Jahren (Gesundbrunnen)

Eigentlich hatte der Papa das Lied für die Schöneberger Sängerknaben komponiert. Eigentlich. Dann aber besuchte Gerhard Froboess in Begleitung seiner kleinen Tochter Cornelia das Studio von RIAS Berlin. Es war im Mai 1951. Der Sendeleiter, Hans Carste, schenkte der Kleinen eine Tafel Schokolade und wünschte sich dafür im freundlichen Onkelton ein Lied als Gegengabe. Spontan und unbeschwert, wie Conny nun mal war, fing sie sogleich an, drauflos zu trällern. Der Sendeleiter lachte und war begeistert. Daraus musste sich doch was machen lassen! Kurz darauf wurde das gerade mal sieben Jahre alte Mädchen in die Quizsendung Mach' mit eingeladen, Quizmaster war Hans Rosenthal. Ein Lied oder zwei? Warum nicht! Doch das Mikrofon war elend hoch, Conny musste auf einen Stuhl klettern. Dann fing sie an zu singen: O, diese Göre und Pack' die Badehose ein …

Mit dem kleinen Schwesterlein nischt wie raus nach Wannsee! Die Reaktionen waren überwältigend, die Hörer begeistert. Das traf genau den Ton, Berliner Schnauze mit Herz. Sofort meldete sich auch die Plattenfirma bei ihrem Vater. Das war ja viel besser als die Aufnahme mit dem Chor! Da musste unbedingt eine Neuaufnahme her! In einer Kirche wurde der Schlager erneut eingespielt und brach sämtliche Rekorde. So früh zum Star zu werden, ist für viele Kinder eine große Hypothek. Cornelia Froboess aber stieg der Ruhm nicht zu Kopfe. Sie absolvierte erfolgreich eine Schauspielschule und wurde zu einer gefragten Darstellerin. Wie oft sie noch die Badehose einpackt und zum Wannsee hinausradelt, aber bleibt ihr Geheimnis. Vom Haus ihrer Kindheit in der Gottschalkstraße im Ortsteil Gesundbrunnen ist eine Radtour nach Wannsee keine unsportliche Leistung gewesen.


Wohnhaus der Familie Froboess, Gottschalkstraße 27


Conny Froboess als Kinderstar

Wohnhaus der Familie Froboess in den 1950er Jahren

Gottschalkstraße 27

13359 Berlin

Die beste Brezel Berlins
17 Teufelssee im Grnewald (Grunewald)

Über die Qualität der Berliner Backwaren gibt es höchst unterschiedliche Urteile. Gäste aus dem Frankenland, dem Land der Bäcker und Brauer, gehen manchmal recht kritisch mit der Berliner Backqualität ins Gericht. Umso erstaunter war ein fränkisches Pärchen, als es an einem heißen Sommertag mitten im Grunewald am Ufer des Teufelssees lag und ein fliegender Händler Brezeln anbot. Nur weil der Hunger groß war, entschloss man sich zum Kauf – und siehe da! – man wurde auf das Angenehmste überrascht. Warm, duftend, knusprig und dezent mit Salz bestreut, was will man mehr! Von überall strömten die Sonnenbadenden herbei, nackt, halbnackt oder in Textilien, und kauften dem Mann den Korb leer. Witzigerweise ist der Teufelssee ein Himmelsteich, ein Gewässer also, dass allein vom Regen gespeist wird. Unbedingt mal hinausradeln! Die Wasserqualität ist wunderbar, ebenso wie die Qualität der angebotenen Backwaren. Bitte jedoch beachten: Die Brezel nicht aus dem Auge lassen! Und auch nicht Ihr technisches Gerät. Bekanntlich treibt ein Wildschwein am Teufelssee sein Unwesen. Es ist nicht nur hungrig, sondern darüber hinaus auch äußerst bildungshungrig: Das Youtube-Filmchen, wie die Sau einen Laptop klaut, verfolgt von dem nackten Besitzer, hat international für Furore gesorgt.


Am Teufelssee frisch erstandene Brezel samt Pizzazunge

Teufelssee im Grunewald

Im Jagen (am Ende der Teufelsseechausses)

14193 Berlin

Felice Schragenheim – Vom Schwimmen und Untergehen
18 Schwimmhalle am Lunapark (kriegszerstört) (Halensee)

Es stimmt, dass es Theater ist, das Leben,

doch Hauptdarsteller sind wir nicht geblieben;

an Auserwählte werden Rollen nur vergeben,

wir andern dürfen die Kulissen schieben.

Felice Schragenheim


Das Schwimmzeugnis von Felice Schragenheim

Bornimer Straße, Ecke Kronprinzendamm. Ein versteckter Zwickel im Verkehrsgewirr nahe des Halensees. Hier amüsierte man sich einst auf dem Lunapark, Europas größtem Vergnügungspark. An dessen Rand, mit dazugehörend ein beliebtes Wellenbad, die größte europäische Schwimmhalle.

Montag, 4. September 1933. Unbeirrt zieht ein junges Mädchen seine Bahnen, den Blick immer wieder zur Uhr gerichtet. Heute wagt sie den Versuch, heute will sie sich ihr Zeugnis verdienen, die Urkunde im Dauerschwimmen. Die Aufgabe ist nicht einfach. Sie muss es schaffen, ohne Pause 75 Minuten durchzuhalten. Dafür braucht es nicht nur Kondition, dafür braucht es einen starken Willen. Einen starken Willen besitzt Felice. Elf Jahre ist sie alt, die Tochter eines Zahnarztehepaars. Ihr Wille hilft ihr nicht nur beim Schwimmen, er hilft ihr auch, als ihre Eltern tragisch früh sterben.

Die erste halbe Stunde geht schnell vorbei, dann aber wird es anstrengend. Das Wasser ist zwar temperiert, Felice jedoch ist gertenschlank, da kühlt man schnell aus. Zu langsam darf man nicht werden, nur kräftige Schwimmzüge halten einen warm. Felice ist ein sportliches Mädchen, nicht nur im Wasser.

Eine Fotosammlung, Familienbilder. Eine Aufnahme zeigt Felice im Garten, scheinbar mühelos macht sie einen Handstand, lächelt dabei noch. Felice, die Glückliche? Oft macht sie auf den Fotos ein ernstes Gesicht, entschlossen aber und durchaus selbstbewusst. Schon als kleines Mädchen blickt sie so in die Kamera, als Kind am Strand von Norderney im weißen Sommerkleidchen. Unter dem Arm hält sie einen großen Ball, der Schatten eines Menschen zeichnet sich auf dem feinen Sand vor ihren Füßen ab, der Fotograf. Ihre Mutter, ihr Vater? Oder ihr Onkel gar, der große Schriftsteller Lion Feuchtwanger?

Beim Dauerschwimmen muss man zum Kämpfer werden. Der Minutenzeiger kriecht immer langsamer. Noch liegen gut 30 Minuten vor ihr, nun kommt es auch auf die richtige Technik an, nur nicht überanstrengen, nur keinen Krampf bekommen.

Früh schon weiß Felice, was sie werden will, Schriftstellerin und Journalistin. Wer anders kann von der Welt erzählen, von den vielen schönen Dingen, aber auch von den Ungerechtigkeiten? Immer ungerechter geht es auch in Berlin zu. Ein Erlass, wenige Wochen alt: »Badeverbot für Juden am Strandbad Wannsee.« Neben dem Sport sind Bücher ihre Leidenschaft, alles Gedruckte verschlingt sie, mit besonderer Freude auch Gedichtbände, Inspirationen für eigene Verse. Im Jahr 1938, gerade 16 geworden, stellt sie Betrachtungen über ihre Zukunft an. Die Zukunft kann nicht mehr Deutschland heißen, die Zukunft muss woanders liegen, irgendwo in der weiten Ferne, unerreichbar. Was ihr keiner nehmen kann: den Atlas aufzuschlagen und auf Fantasie-Reisen zu gehen, zu träumen, was wäre, wenn: »Es ist gut, dass uns ein Hoffen gegeben, ein Selbstbetrug, durch den man vergisst […]«


Das letzte Foto von Felice Schragenheim zusammen mit ihrer Freundin am Wannsee

Beim Dauerschwimmen muss man die Zeit vergessen, die blöde Uhr. Man muss sich in einen Flow hineinschwimmen, muss an andere Dinge denken, nicht ständig an das, was noch vor einem liegt. Vielleicht ist es ja wirklich so, wie manche sagen, vielleicht ist Hitler bald wieder weg, verschwunden der ganze Spuk, die schrecklichen Geschichten, die ihren jüdischen Freunden passieren. Es gibt doch so viele nette Deutsche, so viele Vernünftige. Sie sind doch nicht alle gleich, nicht alle stramme Nazis. Hat sie selbst nicht viele Freundinnen unter den Deutschen? Überhaupt: Ist sie selbst nicht ebenfalls eine Deutsche? Sie spricht deutsch, sie singt deutsch, sie dichtet deutsch. Was ist man dann, wenn nicht eine Deutsche?

 

Der Spuk aber verschwindet nicht. Der Krieg bricht aus. Immer mehr Juden verschwinden, wer kann, versucht zu fliehen. Felice stellt einen Ausreiseantrag, will in die USA. Die Antwort der Botschaft: »Bezüglich Ihrer Anfrage wird Ihnen mitgeteilt, dass die Bearbeitung von Visumangelegenheiten bis auf Weiteres eingestellt worden ist.«

Felice kann nicht stillsitzen, kann nicht abwarten. Alles in ihr drängt nach Aktivität. Man muss doch was tun, muss versuchen, den Irrsinn zu stoppen. Schreiben nützt nichts mehr, wer soll es lesen? Mit einer Freundin macht sie einen verrückten Plan. Sie bewerben sich unter falschem Namen bei der National-Zeitung. Ausgerechnet! Der Plan geht auf, sie erhalten Zutritt zur Redaktion, kommen an geheime Informationen, leiten sie weiter an Widerstandskreise.

20. Januar, eine Villa am Wannsee. Unter einem Vorwand treffen sich hohe Nazi-Funktionäre, die Leitung hat SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich. Es geht um die letzten europäischen Juden, um deren Deportation in die Gaskammern. Um das, was die Männer »Endlösung« nennen.

Von all dem kann Felice noch nichts ahnen, als sie am 4. September 1933 ihre Bahnen zieht. Eine Stunde ist herum, der Endspurt beginnt, die letzten 15 Minuten. Was sind schon 15 Minuten, wenn man bereits eine Stunde geschafft hat? Wenn man das Ziel vor Augen hat, wachsen einem neue Kräfte, dann gibt man doch nicht auf, auch wenn es schmerzt, dann kämpft man weiter, Bahn für Bahn.

Nach der Wannseekonferenz jagt man die letzten Juden. Viele halten den Druck nicht aus, begehen Selbstmord. Felice aber hängt am Leben, selbst und gerade jetzt. Als der Deportationsbefehl kommt, täuscht sie den Suizid nur vor und taucht unter. Bei Freunden kann sie eine Weile bleiben, dann lernt sie Lilly kennen, eine junge Mutter, ihr Mann ist an der Front. Lilly und Felice verlieben sich, heftig, leidenschaftlich, Lilly nimmt sie bei sich auf. Jaguar und Aimée nennen sie sich. Manchmal muss Felice heimlich los. Lilly wird misstrauisch, eifersüchtig, macht ihr Szenen, bis Felice ihr gesteht, dass sie Jüdin ist.

Die letzte Bahn, die letzte Minute. Geschafft! Erschöpft steigt Felice aus dem Wasser. Dann hält sie es stolz in der Hand: ihr Dauer-Schwimmer-Zeugnis.

Das letzte Foto. 21. August 1944 am Wannsee. Felice und Lilly in Badeanzügen, nebeneinander, sich liebend in die Augen schauend Am gleichen Tag steht die Gestapo vor der Tür, führt Felice ab. Sie wird deportiert, nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz. Dort verliert sich ihre Spur.

Der abgeschossene Pfeil kehrt nie zurück.

Da ist kein Gott, der seine Spitze wendet –

und was man kühn für ein »Vielleicht« verschwendet,

ist oft das Glück …

Felice Schragenheim


Schwimmhalle am Lunapark (abgerissen)

Ehemaliger Standort Bornimer Straße / Ecke Kronprinzendamm

10711 Berlin

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