Buch lesen: «+++ Neue Nachricht +++»
Johannes Tilly
+++ Neue Nachricht +++
Liebe übers Internet
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Inhaltsverzeichnis
Titel
1.
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4.
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32.
33.
34.
Impressum
1.
Christian Söndermann fährt seinen Laptop hoch...Yahoo zeigt ihm zuerst Klatsch und Nachrichten des Tages. Am Klatsch weckt nur das Doppelleben einer einst erfolgreichen amerikanischen Athletin als Prostituierte sein Interesse. Bei den politischen Nachrichten geht es wie immer um den Euro. Kann man nur verdrängen! Doch hier: Berlusconi will wieder kandidieren. Christian schüttelt den Kopf. Aber der > mehr...Button < ist diese Meldung nicht wert.
Er überfliegt sein mail-Postfach. Amazon und ein Yachtausrüster werben mit Sonderangeboten. Interessiert im Moment nicht. Kreditkartenabrechnung stimmt, zumindest grob. Er hat keine Lust, sich die auf den Cent genaue Abrechnung herunterzuladen.
Aber hier: facebook meldet eine Nachricht von Veronika. Kennt er nicht. Doch er klickt sie an. Facebook öffnet eine Maske, er drückt den mittleren Nachrichtenbutton, rechts neben dem Schriftzug facebook. Er liest:
Du hast ein interessantes Profil. Darf ich dich auf meiner Seite als Freund vernetzen ?
Liebe Grüße
Veronika
Links von diesen kurzen Zeilen erkennt er im Minibild eine schwarzhaarige Frau.
Er klickt es an und das Foto öffnet die Seite von Veronika Langhäuser. Eine schwarzhaarige Frau, mindestens 50, Durchschnitt.
Er klickt ihr Profilbild an und es eröffnet sich zum bildschirmfüllenden Foto. Ja, die großen Ohrringe sind schön und der Ansatz ihrer Brüste ist im Dekollete zu sehen. Sexy. Trotzdem nicht sein Beuteschema, denkt er. Aber eine weitere Interessentin an seinen Reiseberichten und Fotos von seinem Segeltörn durchs Mittelmeer.
Von Gibraltar aus einmal rund. Ein Lebenstraum, den er sich jetzt als Rentner erfüllt. Eine Reise durch die Vergangenheit. Durch 5000 Jahre menschliche Kultur. Durch das Binnenmeer des Römischen Imperiums.
Seine kleine Segelyacht Nirwana - Yacht ist bei einem 32 Fuß-Boot hoch gegriffen – liegt seit Oktober im Hafen von Bastia auf Korsika in einer Marina an Land aufgebockt. Die nächste Segelsaison beginnt im Mai des nächsten Jahres mit Arbeit. Das Unterwasserschiff benötigt einen neuen Antifoulinganstrich. Zwei schweißtreibende Tage.
Christian wischt die Gedanken zur Seite. Ja, als Leserin seines Profils ist diese Veronika ihm willkommen und er formuliert schnell eine Antwort auf ihrer Nachrichtenseite.
Hallo Veronika,
schön, dass mein Profil oder besser meine Reiseberichte dir gefallen, und gerne nehme ich dich als facebook-Freundin auf meine Seite. Ich selbst bin ein Streuner und nicht das, was die meisten Frauen suchen.
LG Christian
Er drückt den Antworten-Knopf und die Nachricht ist weg.
Jetzt noch schnell auf der Startseite überfliegen, was seine rund 300 facebook-Freunde so hinterlassen haben. Die meisten kopieren hier irgendwelche Bilder oder Nachrichten von anderen Seiten. Interessant sind höchstens die Kommentare dazu. Mancher ist ganz originell, viele wichtigtuerisch.
Doch hier ein neues Foto einer ehemaligen Mitarbeiterin. Er drückt den > Gefällt mir-Button <. . Soll sie sich freuen. Dieser Knopf müsste eigentlich heißen: > Habe es gesehen, habe es zur Kenntnis genommen <.
Der Feedback > Gefallen < ist typisch amerikanisch, denkt Christian, schließt seine facebook-Seite und fährt den Laptop herunter.
2.
Veronika Langhäuser sitzt am Schreibtisch und bereitet sich auf ihren Geschichtsunterricht an der Ernst Barlach Realschule in Miesenhain vor. Seit 30 Jahren ist sie jetzt Lehrerin, davon 25 an dieser Schule. Geschichte und Deutsch hat sie studiert, der Kunstgeschichte gilt ihre Leidenschaft.
Wenn sie im Unterricht mal ihren Schülern davon erzählen will, schauen ihr ahnungslose, gelangweilte Gesichter entgegen.
Geschichte ist schon eine Zumutung, aber die Ästhetik des romanischen Kaiserdoms in Speyer, es nervt..., wie die Schüler heute sagen. Veronika weiß das. Sie übertreibt es auch nicht. Manchmal überkommt es sie einfach. Noch ist sie begeisterungsfähig, neugierig auf alles Schöne und Interessante in dieser Welt. Warum sollte sie damals Lehrerin geworden sein, wenn sie diese Begeisterung nicht weitergeben darf?
Sie verscheucht diese Gedanken und konzentriert sich wieder auf ihr eigentliches Tun. Das Wachsen des Römischen Weltreiches heißt die Unterrichtseinheit für die nächsten 12 Unterrichtsstunden der 7.4. Das sind sechs Wochen Geschichtsunterricht bei 12 bis 14jährigen pubertierenden Jungen und Mädchen. Wenn sie die Kriege von Hannibal bis Teuteburger Wald in den Mittelpunkt des Unterrichts rückt, hat sie wenigstens die Jungen etwas motiviert. Wichtig, sagt der Lehrplan, ist, dass die Schüler die Romanisierung erkennen, den Kulturtransfer, den die Römer über das ganze
Mittelmeergebiet gebracht haben, auch hier nach Deutschland.
Stunde für Stunde entsteht als Konzept in ihrer Vorbereitung.
Früher schrieb sie das immer mit der Hand auf unzählige Notizblöcke, jedes Jahr neu, weil man Unterricht nie „eins zu eins“ übernehmen kann.
Heute tippt sie ihre Konzepte in den Computer. Ihr Laptop ist ihr wichtigstes Arbeitsinstrument geworden. Es spuckt Bilder und Texte aus, ist Notizbuch, ihr Mädchen für alles und kann mit einem Tastendruck das Schulleben beenden und sie zur Privatperson machen.
Sie überfliegt ihre emails und freut sich über die Grüße einer Freundin aus Hannover, mit der sie im letzten Jahr in den Sommerferien eine Türkeireise unternommen hatte. Von Istanbul nach Izmir mit Ausflügen nach Pergamon, Ephesos, Hierapolis und viele andere Kulturdenkmäler aus hellenistischer und römischer Zeit. Monika und sie hatten gemeinsam den Wandel von ägyptischer, über altgriechische, hellenistische zur römischen Architektur und Bildhauerkunst bewundert und zu begreifen gelernt.
Veronika sieht das > f < von facebook und drückt wie gedankenverloren auf den Button.
Die Startseite springt auf. Oh, sie hat eine Nachricht:
Ach ja, dieser Segeltyp, hat geantwortet:
...Streuner...nicht, was Frauen sich wünschen.
„Hab ich auch noch nicht gelesen“, konstatiert sie. Fast ohne nachzudenken, formuliert sie eine Antwort.
Ja, lieber Christian,
Streuner zu sein, find ich toll, neugierig auf diese Welt mit all ihren Facetten. Da führst du ein wunderbares Leben, um das ich dich beneide.
Liebe Grüße
Veronika
Schon ist die Antwort weg, nicht mehr zurückholbar!
Veronika liest sie jetzt noch mal genau durch. Einen Streuner beneiden?
Nein, sie hat natürlich an den Segler gedacht mit seinen Reiseberichten von der spanischen Süd- und Ostküste, sie hatte seine Fotos von Malaga und Tarragona im Hinterkopf, als sie so schrieb. Diese wunderschönen Fotos von der alten römischen Provinzhauptstadt Tarraco, wie die Römer Tarragona nannten.
Sie vergrößert sein Profilbild.
Ein älterer Mann mit Baseballmütze schaut ihr lachend entgegen. Nicht unsympathisch. Irgendwie anders als ihre Kollegen an der Schule.
Sie muss lächeln. Früher, als sie jung war, hatte sie viele männliche Kollegen, die meisten in Jeans, tolle Typen waren dabei, von den 68ern geprägt, Individualisten, gierig auf Freiheit und Unabhängigkeit.
Wo sind die geblieben? Ja, wie im Song Sag mir, wo die Blumen sind, wo sind sie geblieben? Mädchen pflückten sie geschwind... und die Bürokratie hat sie aufgefressen.
Veronika lässt diese Gedanken fallen. In facebook heutzutage legt man seine Worte nicht mehr auf die Goldwaage, die Zeiten, wo Goethe jedes Wort fein säuberlich setzte, die Texte noch im Rhythmus der Versform erschienen, sind vorbei. Ja, auch das war griechisch-römische Kultur. Wie Homer seine Verse in der Ilias und der Odyssee formulierte: Nenne mir Muse den Mann, den weitgereisten ... Odysseus war gemeint. Der segelte auch durchs Mittelmeer, wie dieser Christian.
Schluss jetzt, sie zwingt sich zur Konzentration auf ihre Unterrichtsvorbereitung.
3.
Schon wieder diese schwarzhaarige Frau. Schreibt, dass sie Streuner gut findet und
… du führst ein wundervolles Leben.
Er fühlt sich geschmeichelt. Ja, so findet er facebook gut, darum macht er sich die Arbeit, Texte und Fotos ins Netz zu stellen. Hier zu Hause geht das schnell, dsl-mäßig. Auch so ein neumodisches, dummes Wort, denkt er. Eigentlich ungenau formuliert.
In Spanien und auf Sardinien hatte er sich in die jeweiligen wlan-Netze eingeloggt. Entweder waren sie ungesichert, dann kam er über seine Spezialantenne in die Netze von Restaurants und Marinas, oder sie waren passwortgesichert, dann trank er im Restaurant mit dem stärksten Netz ein Bier, holte sein Smartphone aus der Tasche und erbat das Codewort. Von Bord seiner Nirwana aus ging er dann mit dem Laptop ins Netz. Doch die Verbindungen waren zum Teil erbärmlich langsam gewesen, das Hochladen der Fotos eine Geduldsprobe.
Ob er wirklich so ein wundervolles Leben führte, wie sie es sich vorstellte, weiß er selbst nicht.
Nach seiner Scheidung und dem Ende seines Arbeitslebens hatte er sich zwar einen alten Traum erfüllt, doch das Singledasein und das Einhandsegeln ist nicht immer nur ein Vergnügen. Manchmal lag er tagelang einsam in irgendeiner Bucht, die ihn vor den nördlichen Winden und der daraus resultierenden Welle schützte und hatte mit niemanden Kontakt. Da kam ihm das Arbeiten an seinen Reiseberichten gerade recht.
Christian bearbeitete ein doppeltes Reiseberichtsprogramm. Für facebook schrieb er kurze, prägnante Texte über seine Reise, über Städte, Landschaften, historische und kulturelle Epochen, über amüsante oder aufregende persönliche Erlebnisse,
über bemerkenswerte Veranstaltungen, die er besuchte. Solche Schilderungen, oder waren es Reportagen mit Fotos, stellte er bei facebook ins Netz. Irgendeiner seiner vielen Freunde, die ja eigentlich nur Bekannte sind und auch das nicht immer, reagierte schon mit > gefällt mir < oder auch einem kleinen Kommentar. Das erzeugt das Feeling, nicht allein zu, vernetzt zu sein, wie man heute sagt.
Er hatte seine Seite auch für alle facebook-Nutzer freigegeben, so dass alle ihn anklicken und seine Seite öffnen, sich seine Fotos ansehen und seine Texte lesen konnten.
Persönliches hatte er eigentlich nicht angegeben, nur sein Geburtsdatum und den Begriff Single. Für alle Fälle.
Für sich selbst bearbeitete Christian noch ein anderes Programm > Fotostory for windows <. Dieses Programm veränderte seine Fotoreihen mit digitalen Zoom- und Schwenkeffekten zu videoähnlichen Berichten, die er dann mit gesprochenen Kommentaren versah und zum Schluss mit der passenden Musik unterlegte.
Video wird generiert, sagte zum Schluss das Programm und ein rund einstündiger Videofilm war auf der Festplatte. Eine Erinnerung für alle Zeiten und ein von ihm immer wieder gern gezeigtes Arbeitsergebnis.
Ja, er kommunizierte gerne mit Menschen. Menschen waren seine Leidenschaft. Wichtig, hatte einmal ein Bekannter zu ihm gesagt, sind die vier großen M's. „Man muss Menschen mögen!“
Und man muss Antworten geben.
Auch Veronika sollte ihre Antwort bekommen.
Christian schreibt ihr einen netten Brief -eigentlich das falsche Wort, aber es ist doch ein Brief, eine in Worte gefasste Mitteilung an Menschen- ,erzählt von seinem Reiseziel, der Umrundung des Mittelmeeres, dass er im nächsten Jahr über Elba und Italiens Westküste nach Süden segeln will, durch die Straße von Messina ins Ionische Meer und dann nach Norden durch die Straße von Otranto in die Adria.
Überwintern wolle er dann in Kroatien, schreibt er Veronika.
Kroatien, da denkt er an Tauchurlaube mit seinem Schlauchboot. An tolle Sommerwochen auch noch mit seiner Familie. An die verträumten Buchten, die vielen FKK-Strände, die er dort in den 80er Jahren zum ersten Mal kennengelernt hatte. An fanatische FKK'ler, er muss heute noch lachen, wenn er daran denkt, wie die abends, wenn die Sonne untergegangen war, ein T-Shirt überzogen, später dann darüber einen Pullover, wenn es sein musste auch noch einen Parka , aber niemals eine Hose.
Ihm hatte dieses Nacktbaden und Nacktsonnen schon gefallen, als bekennender Saunagänger hatte er da auch keine Probleme, aber wenn er ein T-Shirt anzog, dann auch eine Badehose, und wenn Pullover, dann auch eine Jeans.
Das alles schreibt er dieser unbekannten Frau natürlich nicht, nur, dass er Kroatien toll finde und dann noch nette Grüße an sie und dass er sich freue, dass sie an seinem Leben solchen Anteil nähme.
4.
Veronika kommt wieder einmal spät aus der Schule.
Mein Gott, denkt sie, was waren das noch für Zeiten, als um zehn nach eins der Unterricht endete. Natürlich hatte man dann kein frei, aber der Druck war weg. Erst mal was essen, dann eine Kanne Kaffee, auch schon mal ein Mittagsschläfchen. Irgendwann am Tage die notwendige Schreibtischarbeit. Stunden für den nächsten Tag vorbereiten, Unterrichtseinheiten projektieren, Klassenarbeiten und Tests korrigieren und benoten. So zwischen zwei und drei Stunden, also ungefähr zwölf Schreibtischstunden pro Unterrichtswoche. Das konnte man, wenn es eng wurde, auch alles an einem Arbeitssonntag erledigen. Aber das war hart und der Qualität diente es auch nicht.
Aber mal einen ganzen Mittag nichts tun, zu Freundinnen fahren, in die Sauna gehen, nach Kleinklottenburg ins Städtchen oder nach Köln in die Großstadt, das konnte man sich als Lehrer schon mal erlauben.
Heute hat sie dreimal pro Woche Unterricht bis viertel vor vier. Wenn sie dann um halb fünf zu Hause ist, ist sie so platt wie jeder Arbeitnehmer nach acht Arbeitsstunden.
Ja, ich bin ein Arbeitnehmer, eine Angestellte beim Staat, offiziell Landesbeamtin, aber ein freier Lehrer wie vor 30 Jahren bin ich nicht mehr, denkt sie.
Die Bezahlung ist nicht schlecht, aber Karriere, wie man das heute sogar bei den Kassiererinnen bei Aldi nennt?
Sie wurde 1982 als Realschullehrerin mit A 13 eingestellt und aller Voraussicht nach wird sie mit derselben Gehaltsstufe in rund zehn Jahren in Pension gehen. Eine tolle Karriere!
Sie verscheucht diese negativen Gedanken. Quatsch! Sie ist gesund und ihr geht es gut.
Sie hat etliche Männer in ihrem Leben kennen gelernt, mit dreien war sie über längere Zeiträume liiert.
Mit dem ersten dieser drei, Erwin, war sie sogar zusammen gezogen. Heirat war für beide kein Thema, schwanger wurde sie nicht, obwohl sie nachlässig verhüteten. Der
Zauber des Anfangs, den Hermann Hesse zitiert, hatte sich verflogen, sie hatten sich nach vier Jahren wieder getrennt.
Später waren noch Dieter und Maik ihre Lebensabschnittspartner geworden, doch ihre Wohnung hatte sie nie mehr aufgegeben, wenn sie auch manchmal wochenlang verwaist war.
Seit 2002 lebt sie als Single, braucht ab und zu einen Flirt, auch mal einen One-Night-Stand.
Während sie in der Küche Spaghetti kocht und aus einer vom Vortag übrig gebliebenen Kopfsalathälfte einen Salat zubereitet, lässt sie im Arbeitszimmer den Computer hochlaufen. Zu den Spaghetti gibt es Ketchupsoße und zwei Spiegeleier, dann den Salat mit Vollkornbrot. Satt !
Fleisch mögen eh nur die Männer!
Zwei von diesen Spezies haben ihr auf facebook eine Nachricht hinterlassen.
Klaus-Jürgen, ein Urlaubsflirt vom letzten Jahr, schickt ihr schöne Grüße aus Miami. Ja, in Florida ist es auch jetzt im November noch angenehm warm. Aber eigentlich interessiert es sie gar nicht, der Typ auch nicht. Bankangestellter, im Moment einfach nur unsexy.
Die zweite Nachricht ist von diesem Segler: Er dankt ihr für ihre tolle Einstellung einem Streuner gegenüber, ihre Weltoffenheit und Toleranz und erzählt dann von seinem Projekt: Rund ums Mittelmeer.
Nächstes Jahr will er Anfang August Kroatien erreichen. Das interessiert sie eher, sie kennt diese Küste und einige der wunderschönen vorgelagerten Inseln. Cres zum Beispiel, der istrischen Ostküste gegenüber, nur getrennt durch die Kvarner Bucht, diesem herrlichen Meeresarm, oft schrecklich von der Bora gebeutelt.
Veronika vergrößert noch einmal sein Profilfoto, liest: Christian Söndermann, geb.
10. November 1949, Single.
Sie klickt auf die Sammlung >Fotos< und mehrere Fotoalben werden sichtbar. Sie öffnet irgendeins, sieht herrliche, von der Sonne verwöhnte Mittelmeerlandschaften, sieht ein Segelschiff in einer malerischen Bucht vor Anker liegen und am Strand einen älteren, schlanken, gut gebräunten Herrn in sportlicher Badehose. Sie vergrößert auch dieses Foto. Für einen 63 jährigen Mann hat er sich gut gehalten. Er lächelt sympathisch in die Kamera, ein facebook-Foto halt. Ein Sympathie-Foto für die Welt.
Unter dem Foto steht als Untertext: Wie Odysseus am Strand der Phäaken.
Ja, sie kennt diese historische Theorie: Wenn Homers Geschichten wirklich einen realen Hintergrund haben, dann ist Odysseus, der listenreiche, vielleicht wirklich von den Kräften der Natur - Homer gibt natürlich Poseidon die Schuld - durchs Mittelmeer getrieben worden, auf Schiffen, die nicht die technischen und navigatorischen Möglichkeiten von heute hatten.
Dem Typen mal ein paar Zeilen schreiben, macht sicher mehr Spaß als diese widerlichen Kommentare unter Schüleraufsätzen, dieser Mischung aus keine Ahnung und orthographischem Unvermögen. Ein ganzer Stapel solcher Hefte eines neunten Schuljahres liegt noch auf der Fensterbank. Zehn Hefte hat sie durchgelesen und korrigiert. Auch ihre Kommentare schon darunter geschrieben. Benotet hat sie diese Aufsätze noch nicht, nur ein Zettelchen mit einem Bleistiftvermerk dazu gelegt: 3-4 oder 4-.
Eigentlich sind diese Leistungen nur mit mangelhaft zu bewerten. Aber das akzeptiert man heute nicht mehr. Maximal ein Drittel einer Klassenarbeit darf schlechter als ausreichend benotet werden. Ihr graut es. Sie schreibt in den Laptop:
Hallo, Christian,
zwischen der Korrektur zweier Schüleraufsätze will ich dir schnell ein paar Zeilen schreiben.
Wie schön ist es, deine Texte zu lesen und deine Fotos anzuschauen. Das ist Leben pur, nicht Leben aus zweiter Hand.
Wie faszinierend finde ich es, Odysseus am Strand zu suchen und nicht im Geschichtsbuch auf Seite 133 unter der Überschrift: Die alten Griechen.
Auf deinen Fotos kann ich das Meer rauschen hören, die silbrig glänzenden Blätter der Olivenbäume glitzern in der Sonne. Das Zirpen einer Zikade zersägt die Stille. Ich spüre förmlich das Brennen der Sonne auf meiner Haut, wie angenehm und antörnend. Ja, du stehst da auf einem Foto wie Odysseus, so stark, so schlau, so durchtrieben!
Veronika findet Spaß an solcher Formulierkunst. Ja, sie schreibt gerne, wenn es sich lohnt, wenn es keine Perlen vor die Säue geworfen ist.
Und Kroatien kenne ich auch, als Kind
Sie rechnet nach, Anfang der 70er war sie schon mit ihren Eltern auf Krk im damaligen Jugoslawien noch.
habe ich schon auf Krk gebadet. Leider hatten wir kein stolzes Segelboot, aber dafür war die Küste auch nicht so überlaufen wie heute.
Auf der Ostsee bin ich auch schon mal mitgesegelt von der Schleimündung hinauf in die Inselwelt der Dänischen Südsee und zurück.
Und ich bewundere deinen Mut, so alleine in der Welt unterwegs zu sein. Ohne Angst vor Wellen und Menschen, mit Selbstvertrauen auf dein seglerisches Können und deine Menschenkenntnis.
Ich wünsche dir aber auch hier in Deutschland jetzt im traurigen Spätherbst eine schöne Zeit und freue mich weiterhin auf deine facebook-Beiträge.
So und nach diesem Spaß, dir schreiben zu können, nehme ich meinen nächsten Aufsatz vor, da muss ich dann was drunter schreiben, bei dir wollte und durfte ich.
Es grüßt dich herzlich,
Veronika
Sie drückt auf >Antworten< und der Text ist angenommen. Auch wenn er Rechtschreib- und Formulierungsfehler enthalten sollte, darauf kommt's hier nicht an. Nur der Inhalt zählt, die Absicht, das erzählende, informatorische Element.
Widerstrebend wendet sie sich ihrer beruflichen Tätigkeit zu. Sie schlägt ein Aufsatzheft auf.
Erörterung: Sollte die Benotung in den Schulen abgeschafft werden?
Erörtern heißt, das Pro und Contra finden.
An einer ähnlichen Themenstellung: Sollte man das Sitzenbleiben in den Schulen abschaffen? hatte sie es eine Woche lang im Deutschunterricht geübt. Solche Themen müssen doch der Gedankenwelt der Schüler entsprechen.
Doch was muss sie lesen?
„Bei einer guten Note gibt es von der Oma Schokolade und vom Vater Geld! Also wäre die Abschaffung der Noten ein Nachteil für die Schüler.“
Ihr graut es. Befriedigend minus, schreibt sie auf ein Zettelchen und wirft das Heft zu den zehn schon nachgesehenen. Es reicht ihr. An die restlichen 14 Hefte geht sie morgen.
Sie schlägt noch einmal Christians Seite auf und schreibt:
Ich begrüße auf meiner Seite Christian, den Streuner!
Darunter schreibt sie einen Text, der bei ihr im Arbeitszimmer an der Wand hängt:
Es gibt keine Pflicht des Lebens,
es gibt nur eine Pflicht des Glücklichseins.
Dazu allein sind wir auf der Welt,
und mit aller Pflicht und aller Moral und allen Geboten
macht man einander selten glücklich,
weil man sich selbst damit nicht glücklich macht.
Wenn der Mensch gut sein kann, so kann er es nur, wenn er glücklich ist,
wenn er Harmonie in sich hat, also wenn er liebt.
Dies war die Lehre, die einzige Lehre der Welt:
dies sagte Jesus, dies sagte Buddha, dies sagte Hegel.
Für jeden ist das einzig Wichtige auf der Welt
sein eigenes Innerstes, seine Seele, seine Liebesfähigkeit.
Ist die in Ordnung, so mag man Hirse oder Kuchen essen,
Lumpen oder Juwelen tragen,
dann klingt die Welt mit der Seele zusammen, ist gut, ist in Ordnung.