Buch lesen: «Zwei Millionen ham'ma erledigt»
Der Gauleiter: letzter Appell des Marschblocks, Nürnberg am 1. September 1938. Foto: Heinrich Hoffmann.
Johannes Sachslehner
ODILO GLOBOCNIK · Hitlers Manager des Todes
Der „Führer“: Gauleiter Odilo Globocnik bei der Eröffnung der Ausstellung „Bolschewismus ohne Maske“ am 10. Dezember 1938 in der Wiener Nordwestbahnhalle.
Foto: Bilderdienst Scherl.
Inhalt
Cover
Titel
Zitat
Vorwort
In der Sautratten
Letzte Spuren eines NS-„Haupttäters“
Koffer träger & Chauffeur
Vom Kärntner Abwehrkämpfer zum „illegalen Propagandisten“
„Globus“, der Verbindungsmann
Die „Kärntner Gruppe“ und der illegale Kampf
Ich habe für Sie die Macht ergriffen!
Der „Anschluss“-Agent
Kein Imperium Globocnik
Als Gauleiter in Wien
In Himmlers Schuld
Blutiger Auftakt in Polen
Ein angenehmer Chef
In Lublin wie zu Hause
Fahndung nach deutschem Blut
Entsiedlung, Zusammensiedlung & Aussiedlung
Lösen Sie die Verbindung!
Die Rickheim-Affäre
Das kommt von den dreckigen Juden!
158 Ghettos & Arbeitslager
Viel neue Arbeit
Himmler in Lublin
Aktion Hühnerfarm
Massenmord an sowjetischen Kriegsgefangenen
Über den Bug
Planung zur „Aktion Reinhardt“
Ich hab nie einen Juden vernichtet
Globocnik-Gehilfe Hermann Höfle
Es kommt wieder Salat!
Die Todeszüge in die Vernichtungslager
Die geheimste Angelegenheit, die es gibt
Massenmord in Bełżec, Sobibór und Treblinka
Der „Judenkönig“
Odilo Globocnik und sein Hofjude Szama Grajer
Das „Sonderlaboratorium“ der SS
Die Zamojszczyzna
Der Herr Geschäftsführer
Die Ostindustrie GmbH
Aktion Werwolf
290 Terror in Zamośç
Ein Duo infernale
Mit Friedrich Rainer in Triest
Sonderabteilung „Einsatz R“
Die Risiera di San Sabba
Zehn Sekunden vor Mitternacht
Flucht auf die Mösslacher Alm
Zyankali
Selbstmord in Paternion
Anhang
Literatur- und Quellenverzeichnis
Namensregister
Bildnachweis
Impressum
Der Manager: Porträt von Hitler-Fotograf Heinrich Hoffmann, 7. Juli 1938.
Die, die töten,
sind Menschen wie die, die getötet werden,
das ist die schreckliche Wahrheit.
Jonathan Littell Die Wohlgesinnten
Die Geschichte Odilo Globocniks ist die Geschichte eines jungen Österreichers, der kein Österreicher sein wollte. Österreich, so meinte der in Triest geborene und in Kärnten aufgewachsene junge Mann, wäre die falsche Heimat, seine richtige jedoch Deutschland. Für die Erreichung dieses Ziels wurde er zum Hochverräter und Handlanger des Nazi-Regimes, zum Exekutor millionenfachen Mordes.
Odilo Globocnik war ein Mann des Befehls, eine wahre „Befehlsmaschine“. Er führte Befehle aus und erteilte Befehle; ja, seine Sehnsucht war der Befehl, gab es keinen klaren Befehl, so fühlte er sich unsicher und bat seine Vorgesetzten um Präzisierung. Genau diese Haltung verlangte er auch von seinen Mitarbeitern: Befehle waren um jeden Preis auszuführen. Das war die eine Seite. Die andere Seite war sein brennender Ehrgeiz, der ihn träumen ließ: von einem neuen „Musterstaat“ und von gigantischen Projekten, mit denen sein Name verbunden sein würde. Und er sehnte sich nach den Zeichen, die davon erzählen würden: nach dem Blutorden und dem Eisernen Kreuz, nach in Erz gegossenen Tafeln.
Er gilt als der „blutigste Einpeitscher von Judenvernichtung und Germanisierung“ im Generalgouvernement, der polnischen Kolonie des Dritten Reiches. Einen „archetypischen Nazi-Bluthund und Freibeuter“ nennt ihn Arno J. Mayer, Hitler-Biograf Joachim C. Fest spricht von einem „Mörder aus Profession“, Joseph Poprzeczny charakterisiert ihn als genocidal killer und Heinrich Himmlers most vicious wartime accomplice, als one of the most bestial murderers of Jews and Poles that the 20th century was to produce – doch ist Odilo Globocnik trotz all dieser markigen Zuschreibungen ein Mann ohne „Gesicht“ geblieben. Er, der „Juden-Liquidator“ und „barbarische Judenvernichter“ (Heinz Höhne), ist in der Literatur über den Holocaust im Generalgouvernement allgegenwärtig, taucht in Zeugenaussagen und Berichten auf und wird in Gerichtsurteilen gegen die Mörder in seinen Diensten als „Haupttäter“ genannt. Dennoch bleibt seine Gestalt seltsam unbestimmt.
Tatsächlich reicht es nicht, Globocnik als Monster abzustempeln. Wer seine Persönlichkeit verstehen will, muss viel genauer hinsehen. Ja, er war ein „angenehmer Chef“, sagt seine Sekretärin Wilhelmine „Mimi“ Trsek. Ein sensibler Typ, der sich nach dem Besuch eines Lagers und den dort gewonnenen Eindrücken angeblich tagelang in seinem Schlafzimmer einschloss. Ein Mann mit außergewöhnlichem „Organisationstalent“ und von schnellen Entschlüssen, dem die Zauderer vom Schlag eines Seyß-Inquart und die hohlen Schaumschläger wie Hans Frank suspekt sind. Ein „Wichtigtuer, der es verstand, seine Person gehörig in den Vordergrund zu stellen und seine Phantasiegebilde von Plänen so darzustellen, als ob sie größtenteils schon verwirklicht wären“, und der „alles allein und am besten“ machen wollte, wie Rudolf Höß, der Kommandant von Auschwitz, urteilte: „Ob es sich um Judenvernichtungen oder um Polenumsiedlungen handelte oder um die Verwertung der beschlagnahmten Werte“ – Globocnik wollte unbedingt „an der Spitze stehen“ und konnte einfach „nicht genug bekommen“. Er „übertrieb maßlos, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, war aber“, wie Höß meint, „an und für sich ein gutmütiger Mensch“. Was er „an Bösem anrichtete, geschah nach m(einem) Erachten nur aus Großtuerei, Wichtigmachen und Selbstüberhebung“.
Er war ein Hochverräter, der den „Anschluss“ Österreichs an das Dritte Reich nach Kräften förderte, und ein skrupelloser Handlanger, der auf Befehl Heinrich Himmlers kaltblütig den industriellen Massenmord planen und durchführen ließ. Ein schlechter Verlierer, zerfressen von Ehrgeiz, der seine Niederlagen nicht wahrhaben will. Ein abenteuerlustiger „Geschäftsmann“, einem guten Handel niemals abgeneigt, auch nicht mit jüdischen Partnern. Kein großer Ideologe, sondern ein auf den „Erfolg“ ausgerichteter Pragmatiker, dem jedes Mittel recht ist – Odilo Globocniks Geschichte ist die Geschichte eines jungen Mannes, der bereit war, sein Menschsein an den „Führer“ und dessen Gehilfen auszuliefern …
Leitspruch Globocniks für das von der Deutschen Arbeitsfront und Gauinspekteur Sepp Nemec herausgegebene Buch „Wir gehen durch die Betriebe … “
Das Navigationsgerät lotst uns sicher nach Aifersdorf in der Gemeinde Paternion. Felder, grüne Wiesen, Bauernhöfe, gleich das erste Haus rechts soll es sein. Wir halten, fragen zwei Nachbarn – einer von ihnen ist, wie sich später herausstellen wird, Stefan Sodat, der Lauberhornsieger von 1965. Karl Schranz, Karl Cordin und alle anderen Abfahrtslegenden hat er damals hinter sich gelassen. Ja, der alte Herr Köfler würde noch leben und er sei auch zu Hause. Wir haben Glück: Während wir noch plaudern, kommt er auch schon des Weges, Stefan Sodat stellt uns vor. Jemand würde mit ihm über die „Beerdigung“ von Odilo Globocnik reden wollen. Helmut Köfler, Jahrgang 1927, ehemals Gendarmeriebeamter in Paternion, ist ein rüstiger alter Herr und Zeitzeuge. Im Mai 1944 hat er als noch nicht Siebzehnjähriger zur Wehrmacht einrücken müssen und schließlich in der 1. Gebirgsjägerdivision gedient; am 8. oder 9. Mai 1945 sei er nach Hause zurückgekommen. Gerne ist er bereit, uns die Stelle zu zeigen, an der der Globocnik begraben oder besser „verscharrt“ worden ist. Ohne zu zögern steigt er ins Auto, gemeinsam fahren wir hinunter zur „Sautratten“ am Drauufer; einst haben die Dorfbewohner hierher ihre Schweine getrieben, das Grundstück war eine Art von gemeinsamem Besitz, der auch gemeinsam genutzt wurde. Wir halten neben einer saftig-grünen Wiese, eingezäunt mit Stacheldraht. Helmut Köfler zeigt auf eine Stelle mitten in der Wiese: Genau hier sei die Stelle, an der die Briten damals die Leiche des Nazi-Verbrechers begraben hätten. Einst stand hier noch eine Heuhütte, die eine bessere Orientierung erlaubte – etwa 35 Meter in südöstlicher Richtung von der Hütte entfernt befand sich die Grabstätte. Jetzt ist nur mehr die tiefgrüne Wiese zu sehen, nichts mehr erinnert an die Geschehnisse vom 31. Mai 1945 – kein Hinweisschild, nichts. Odilo Globocnik ist unter diesem Grün an der Drau verschwunden.
1958 stellt der Glasermeister und Paternioner Gemeinderat Friedrich Plöb, ehemals NS-Kreispropagandaleiter, den Antrag, das Grab von Odilo Globocnik auf der Parzelle Nr. 4/2 KG Paternion auszuforschen und eine Exhumierung auf Kosten der Gemeinde durchzuführen. Der Antrag wird vom Gemeinderat genehmigt; Plöb setzt sich mit Globocniks Witwe Laurentia „Lore“ in Verbindung, die jedoch eine Exhumierung ablehnt – sie wolle ihrem Sohn Peter „die Aufregung ersparen“. Friedrich Plöb versucht das Grab in der „Sautratten“ daraufhin auf eigene Faust zu finden, scheitert jedoch, „da jeder, der angeblich den Platz kannte, an Ort und Stelle nicht angeben konnte, wo das Grab sein könnte“.
Über die Sache scheint Gras zu wachsen, doch dann gibt es plötzlich hektische neue Nachforschungen, dieses Mal von Seiten der Staatspolizei. Auslöser sind zwei Briefe von Simon Wiesenthal an Justizminister Christian Broda vom 1. und 2. Juni 1964. Darin erklärt Wiesenthal, dass Globocnik, der in Österreich durch Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt vom 1. Juli 1949 für tot erklärt worden war, an der Costa Brava in Spanien, in Irland und in Argentinien gesehen worden sei. Er appelliere daher an den Bundesminister, die Todeserklärungen Globocniks und anderer hoher Nazifunktionäre überprüfen zu lassen. Broda, durch einen Artikel in der Wiener Zeitung vom 13. August 1964 unter dem Titel „Leben 250 Naziführer unter falschem Namen?“ weiter unter Druck geraten, ersucht die Staatspolizei, Abteilung 2 C, um neue Ermittlungen.
Am 18. August 1964 spricht ein Polizeibeamter mit Lore Globocnik, Friedrich Plöb und Helmut Köfler, der über seine Beobachtungen Folgendes „niederschriftlich“ zu Protokoll gibt: „An einem Tage gegen Ende Mai oder anfangs Juni 1945, der nähere Zeitpunkt ist mir nicht mehr erinnerlich, war ich auf einem Felde innerhalb des Gemeindegebietes von Paternion, ‚In der Sautratten‘, mit landwirtschaftlichen Arbeiten am Grundstücke meines außerehelichen Vaters Johann Santer beschäftigt. Ich konnte bemerken, dass 2 ungarische Soldaten, welche sich offensichtlich in englischer Kriegsgefangenschaft befanden, auf einer Wiese, die mit englischem Kriegsmaterial, Panzern und Fahrzeugen belegt war, ein Loch ausschaufelten. Kurze Zeit danach kam ein englischer Militärwagen zum ausgehobenen Erdloch. Es war ein Dodge-LKW. Ich sah auch einige englische Militärpolizisten. Einige Männer öffneten sodann die rückwärtige Bordwand und hoben eine männliche Leiche vom Plateau. Die Leiche wurde sofort in das bereitstehende Grab gelegt. Das Grab wurde zugeschaufelt, jedoch rollte ein mit englischen Soldaten besetztes Raupenfahrzeug sofort mehrmals über das Grab. Im Herbst 1945 war eine Herbstbestellung des Gebietes „In der Sautratten“ nicht mehr möglich, weil das gesamte Gebiet mit englischen Fahrzeugen bedeckt war. Es ist mir erinnerlich, dass ich im Juni 1946 mit einer Pferde-Mähmaschine auf dem Grundstück, wo sich das Grab befindet, Mäharbeiten verrichtete.
Selbst ein Kreuz hielten die Briten nicht für angemessen: die Sautratten heute.
Als ich auf der Mähmaschine saß, spürte ich auf der Stelle, wo seinerzeit die Leiche beigesetzt worden war, eine deutliche Vertiefung. Es ist mir noch erinnerlich, dass am gleichen Tage, als die vorgeschilderte Beerdigung stattfand, innerhalb der Gemeinde Paternion öffentlich davon gesprochen wurde, dass ‚sich der Gauleiter Globocnik im Schlosshof Paternion vergiftet hatte‘.
Aus diesem Grunde nahm ich an und bin auch gegenwärtig der Meinung, dass im gegenständlichen Grabe Gauleiter Globocnik beigesetzt worden war. Die Bevölkerung von Paternion sprach zwar öffentlich davon, dass Globocnik ‚auf der Sautratten‘ beerdigt wurde, den genauen Platz kannte jedoch niemand. Ich habe auch niemals bemerkt, dass nach dem Krieg das Grab gepflegt worden war. Offensichtlich kennen auch die nächsten Verwandten des Globocnik das Grab desselben nicht.
Ich war bis zum Jahre 1952 bei meinem Vater Johann Santer als landwirtschaftlicher Arbeiter beschäftigt. Aus diesem Anlass habe ich jährlich die Umgebung des Grabes mehrmals betreten und die Feldbestellung durchgeführt. Es ist mir niemals eine Veränderung in der Umgebung des Grabes aufgefallen, weshalb mit ziemlicher Bestimmtheit angenommen werden kann, dass niemals eine Exhumierung stattfand. Es ist auch kaum anzunehmen, dass irgend jemand anderer die Stelle kannte und eventuell den Leichnam eigenmächtig entfernte.
Ich bin jederzeit in der Lage, die Stelle des Grabes aufzufinden. Sonst habe ich meinen Angaben nichts Wesentliches mehr hinzuzufügen.“
Für den ermittelnden Polizeibeamten, der sich von Köfler den Platz in der „Sautratten“ zeigen lässt, ist es „mit Rücksicht auf die von Köfler geschilderten Umstände wahrscheinlich, daß an dieser Stelle das Grab Globocniks liegt“; da in den von Lore Globocnik bereitwillig zur Verfügung gestellten Augenzeugenberichten britischer Offiziere – darunter auch ein Schreiben des Commanding Captain, Squadron 4th Queen’s Own Hussars, vom 16. Januar 1949 – der Selbstmord des Naziführers bestätigt wird, resümiert die Staatspolizei am 4. September 1964, dass „mit großer Wahrscheinlichkeit“ angenommen werden könne, „daß der ehemalige SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei, welcher als SS- und Polizeiführer Lublin das ausführende Organ Himmlers für die millionenfachen Morde an Juden im Raume von Lublin gewesen ist, am 31. 5. 1945 sich durch Selbstmord gerichtet“ habe. Mit dieser Erkenntnis werden die Nachforschungen eingestellt, von einer Exhumierung der Leiche wird trotz letzter Zweifel schließlich abgesehen; für das offizielle Österreich stellen sich keine Fragen mehr.
Es ist eine körperliche Erfahrung, die Helmut Köfler über lange Jahre hinweg an das Vorhandensein des Globocnik-Grabes erinnert: Bei den Mäharbeiten in der „Sautratten“, so erzählt er uns, habe er die Unebenheit im Gelände immer wieder deutlich gespürt …
Sie waren treue Diener des Kaisers in Wien: Rochus Globotschnig, der Urgroßvater Globocniks, war Arzt in Neumarktl (Tržič) in Oberkrain, einer deutschen Sprachinsel unweit der Kärntner Grenze gelegen, und nahm 1809 als Wundarzt am Feldzug der Österreicher gegen Napoleon teil. 1825 wurde dem Kriegsveteranen der Sohn Franz Johann geboren, der es zum Professor am Realgymnasium in Laibach brachte. 1870, im Alter von 45 Jahren, wurde Franz Johann Globotschnig Vater eines Sohnes, den man auf den Namen Franz taufte. Franz Globotschnig, der sich nun schon „Globočnik“ schrieb, schlug die Laufbahn eines aktiven Offiziers in der k. u. k. Armee ein. Als Franz Anna Pecsinka, die Tochter eines Beamten aus Werschetz (heute das serbische Vrsac) im Banat, kennen lernte und beschloss sie zu heiraten, musste er sich in den Stand der Reserve zurückversetzen lassen: Aus dem Oberleutnant wurde ein Postbeamter – es war dem jungen Paar unmöglich, die geforderte „Kaution“, die zum Ausscheiden aus der Armee berechtigte, aufzubringen. Anna und Franz Globočnik heiraten am 28. Oktober 1898 und lassen sich zunächst in Triest nieder; ihre Wohnung befindet sich in der Via della Caserma Nr. 9, heute die Via XXX Ottobre. Hier wird ihnen als drittes Kind nach der früh verstorbenen Tochter Hildegardis (geb. 1900) und der Tochter Lydia (geb. 1901) am 21. April 1904 ein Sohn geboren, der am 19. Juli dieses Jahres in der Kirche San Giovanni Decollato auf den Namen „Odilo Lothar Ludovicus“ getauft wird; Taufpaten sind Ludovicus und Elisa Hullerl, vermutlich Verwandte der Familie. Der erste Vorname „Odilo“ ist ein Programm, niemand in der Familie hat bisher so geheißen: Da schwingt, nicht zuletzt in der Verbindung mit den beiden König- und Kaisernamen „Lothar Ludovicus“, altdeutsch-germanische Heldenmystik mit; Odilo hieß ein Bayernherzog aus dem Geschlecht der Agilolfinger (vor 700 – 748), der Name selbst leitet sich wohl von odhil („Gut, Besitz“) her. Und er zeichnet sich durch Vokalharmonie mit dem Familiennamen aus – für Franz und Anna Globočnik daher die perfekte Lösung.
Im Herbst 1910 beginnt Odilo in Triest die Volksschule zu besuchen. Der Unterricht findet in italienischer Sprache statt; der Sohn der Globočniks, die streng darauf achten, dass in der Familie nur Deutsch gesprochen wird, muss daher Italienisch lernen. Der aufgeweckte Junge hat damit jedoch keine Schwierigkeiten; er bringt durchwegs gute Noten nach Hause und ist außergewöhnlich ehrgeizig – eine Charaktereigenschaft, die später immer wieder genannt werden wird.
Am 26. August 1913 erfolgt Franz Globočniks (in der Folge: Globocnik) letzter Karriereschritt – er wird von der k. k. Post- und Telegrafendirektion für Triest, Küstenland und Krain zum Postoberoffizial ad personam mit der Einreihung in die IX. Rangklasse der Staatsbeamten ernannt. Sein Jahresgehalt legt die hohe Behörde mit 2.800 Kronen fest, dazu kommt er noch in den Genuss einer „Aktivitätszulage“ von jährlich 960 Kronen.
Odilo hat vier Klassen Volksschule absolviert, als die Schüsse von Sarajevo den Auftakt zum Untergang der Welt von gestern markieren. Als Reserveoffizier erhält auch der Postoberoffizial Franz Globocnik den Einberufungsbefehl, wegen eines Magenleidens bleibt ihm die Front erspart; Einsatzort ist die ungarische (heute slowakische) Gemeinde Cseklész (Landschütz, heute Bernolákovo) in der Nähe von Pressburg, wo er in der Etappentrain-Werkstätte Nr. 100 tätig ist. Der Vorteil dieser Regelung: Er kann die Familie nach dem Norden mitnehmen.
Auch wenn Franz Globocnik nur in der Etappe eingesetzt wird, so würdigt man doch seine Verdienste um das Vaterland: Am 1. November 1917 wird er zum Hauptmann ernannt, 1918 zum Rittmeister. Eine Offizierskarriere in der Armee des Kaisers sieht Franz Globocnik offenbar auch für seinen Sohn noch immer als erstrebenswert an und so wird der elfjährige Odilo nach St. Pölten geschickt, wo dieser am 13. Dezember 1915 nach bestandener Aufnahmsprüfung in die Militär-Unterrealschule eintritt. Er erhält als Sohn eines Offiziers einen „ganz freien Ärarialplatz“ zugesprochen, die Kosten werden also vom k. k. Ministerium für Landesverteidigung übernommen; es bleibt pro Schuljahr ein bescheidenes Schulgeld von 28 Kronen zu bezahlen. Das Ziel der Ausbildung: Die Schüler sollen im Laufe von vier Jahren für die weitere Ausbildung an einer Militärakademie vorbereitet werden. Die Militär-Unterrealschule in St. Pölten, die seit 1875 als solche geführt wird, genießt durchaus einiges Ansehen; ihr bekanntester Schüler, Rainer Maria Rilke, der hier von 1886 bis 1890 militärischem Drill unterzogen wird, spricht allerdings in einem Brief an einen seiner ehemaligen Lehrer von den „St. Pöltener Gefängnismauern“, vom „Block eines undurchdringlichen Elends“, der damals über „die zartesten Keimblätter“ seines Wesens gewälzt worden sei. Die Vergewaltigung seiner Kindheit wird Rilke zeit seines Lebens als „Fibel des Entsetzens“ in Erinnerung behalten; die Jahre in St. Pölten bleiben „abgelehnte Vergangenheit“, er habe die Militär-Unterrealschule als ein „Erschöpfter, körperlich und geistig Mißbrauchter“ verlassen.
Der junge Odilo Globocnik scheint mit den Herausforderungen der Militärerziehung besser zurechtgekommen zu sein. Eine im Österreichischen Staatsarchiv, Kriegsarchiv, erhaltene Abschlussklassifikation für das Schuljahr 1916/1917 zeichnet das Bild eines Musterschülers: Unter 49 Zöglingen des Jahrgangs wird Odilo der 8. Rang zugesprochen; seine „Gemütsbeschaffenheit“ wird mit „willig, ruhig, ehrgeizig, strebsam“ beschrieben, die „Geistesgaben“ klassifiziert die Schule mit „recht gut begabt, fleißig“, die Umgangsformen mit „anständig und gefällig“, die „Adjustierung“ des Schülers Globocnik qualifiziert man als „musterhaft“. Unter der Rubrik „Besondere Kenntnisse und Geschicklichkeiten“ vermerkt der Klassenkatalog „Violinspieler“. Zusammenfassend heißt es unter „Bemerkungen zum allgemeinen Verhalten“ am 2. Februar 1917: „ruhig, begabt, strebsam“; am 8. Juni 1917 notiert der Klassenvorstand: „ernst, willig, verläßlich“. In den militärischen Fächern Turnen und Exerzieren sowie im Fach „Dienstvorschriften und Anstandslehre“ wird er durchgehend mit „sehr gut“ beurteilt.
Jahrgangsrang 7 unter 49 Schülern: „Abschlußklassifikation“ der Militär-Unterrealschule St. Pölten, Schuljahr 1917/1918.
Wann genau der Zögling Globocnik die Schule und das Internat in St. Pölten verlassen hat, ist unbekannt; zu Beginn des Schuljahres 1918/1919 wird er jedenfalls noch als Schüler des 4. Jahrgangs geführt. Mit dem Zusammenbruch der Monarchie ist der Traum von einer glanzvollen Offizierslaufbahn im Dienste des Kaisers dahin – gut möglich, ja wahrscheinlich, dass sich der 14-Jährige, der nun zu den inzwischen nach Klagenfurt übersiedelten Eltern zurückkehren muss, die Argumentation der in rechten Kreisen populären Dolchstoßlegende zu eigen macht: Die „vaterlandslosen Gesellen“ des internationalen Judentums und der Sozialdemokratie seien schuld an der militärischen Niederlage der Mittelmächte; das Feinbild „Jude“ bekommt so wohl bereits jetzt Konturen und verfestigt sich. Es wächst die Bereitschaft, etwas gegen diesen „Feind“ zu unternehmen.
Die Familie entscheidet sich für ein neues Ausbildungsziel – man wechselt vom Offizier zum Techniker: Ab 1919 wird Odilo die Höhere Staatsgewerbeschule für Maschinenbau in Klagenfurt besuchen. Inzwischen haben sich jedoch die Ereignisse überschlagen: Ab Anfang November 1918 besetzen SHS-Truppen, die Hilflosigkeit der eben erst gegründeten Republik ausnützend, das Gebiet südlich der Drau und das Lavanttal bis St. Paul; die provisorische Landesregierung Kärntens, geleitet von Landesverweser Arthur Lemisch, beschließt den bewaffneten Widerstand; Oberstleutnant Ludwig Hülgerth als Landesbefehlshaber und Oberleutnant Hans Steinacher organisieren den „Abwehrkampf“, dem sich nicht nur kriegserfahrene Soldaten, sondern auch junge Freiwillige anschließen – zu ihnen will auch Odilo Globocnik gezählt haben. Glaubt man einer biografischen Skizze, die anlässlich seiner Ernennung zum Gauleiter im Mai 1938 an diverse Zeitungsredaktionen verteilt wird, so gehörte auch er „den freiwilligen Schutzabteilungen an und machte die Gefechte bei Grafenstein und Bleiburg mit, bei denen kleine deutsche Schutzabteilungen einer großen jugoslawischen Übermacht gegenüberstanden. Für sein tapferes Verhalten in den Kämpfen um Bleiburg wurde er mit dem Kärntner Kreuz ausgezeichnet.“ Die Namenslisten der Träger des Kärntner Kreuzes sind im Kärntner Landesarchiv erhalten, der Name Globocnik fehlt allerdings. Nicht ganz überraschend, wenn man bedenkt, dass Odilo im Winter 1918/19 noch nicht einmal 15 Jahre alt ist – was mag er an „tapferem Verhalten“ geleistet haben? Vermutlich taucht der Absolvent der Militär-Unterrealschule tatsächlich im Kampfgebiet auf, übertreibt aber später seine „Leistung“, die eher im Bereich Nachschub und Kommunikation gelegen haben mag. Für einen knapp 15-Jährigen auch dies keine Selbstverständlichkeit. Er will etwas bewegen und engagiert sich; in der erwähnten biografischen Skizze heißt es weiter: „Während der Vorbereitungen für die Volksabstimmung in Kärnten war Globocnik bereits als ‚illegaler‘ Propagandist tätig, indem er das von jugoslawischen Sokoln besetzte Kärntner Gebiet jenseits der Demarkationslinie aufsuchte, um dort Plakate und Anschriften, die für die deutsche Sache werben sollten, anzubringen.“ Das klingt glaubwürdig und passt zum Profil Odilos, der sich in der Rolle des jugendlichen Kämpfers für Heimat und Deutschtum offenbar zunehmend wohlfühlt. Daneben muss er ja auch zur Schule gehen, es kommt, nicht verwunderlich, zu Konflikten – laut Beschluss der Lehrerkonferenz vom 30. April 1921 wird ihm der Ausschluss von der Staatsgewerbeschule angedroht, es bleibt allerdings bei der Androhung; in der Folge konzentriert er sich aufs Lernen, am 11. Juli 1923 maturiert er mit Auszeichnung.
Die familiäre Situation hat sich indes dramatisch geändert: Am 1. Dezember 1919 stirbt sein Vater Franz Globocnik, erst 49 Jahre alt, in Klein Sankt Paul an einer „Krankheit, die er sich im Krieg zugezogen hat“; für Anna Globocnik, die nun mit drei unversorgten Kindern allein dasteht, beginnt ein verzweifelter Kampf ums Überleben. Die ihr regulär zustehende Witwenpension beträgt jährlich nur 1.200 Kronen, für die drei Kinder erhält sie zusätzlich je 240 Kronen „Erziehungsbeitrag“, das bedeutet ein Monatsbudget von 160 Kronen. Zu Weihnachten 1919 schreibt sie daher an die Postdirektion Klagenfurt und bittet um Unterstützung, „weil ich aller Mittel entblößt, mitten unter fremden Leuten mit meinen drei Kindern dem Hungertode anheimfallen müßte“. Anna Globocnik steht auf dem Standpunkt, dass ihr Mann schon in die VIII. Rangklasse vorgerückt gewesen sei und ihr daher auch eine höhere Pension zustünde, eine Behauptung, die sich allerdings nicht beweisen lässt, da entsprechende Unterlagen aus Triest nicht mehr zu erhalten sind. Schließlich schaltet sie in dieser Angelegenheit den Klagenfurter Hof- und Gerichtsadvokaten Dr. Josef Pflanzl ein, der tatsächlich bei Postdirektor Hofrat Dr. Sveceny interveniert: Die Lage der Frau Globocnik sei „derart bedauernswert, dass es tatsächlich unbedingt notwendig ist, dass so rasch als möglich Abhilfe geschaffen wird“. Die Frage der Pensionshöhe für Anna Globocnik wird zum bürokratischen Exzess – eindrucksvoll dokumentiert durch den Akt über Franz Globocnik im Kärntner Landesarchiv.
Odilo, der diesen Überlebenskampf hautnah miterlebt, fühlt sich von nun an als einziger „Mann“ in der Familie für seine Mutter und für seine jüngere Schwester Erika verantwortlich. Da auch seine ältere Schwester Lydia, die später den Fotografen Karl Pommerhanz heiraten und Mutter einer Tochter Henny (Henrica Maria) wird, noch zu Hause wohnt, sind die räumlichen Verhältnisse in der Wohnung der Globocniks in der Klagenfurter Getreidegasse 3 sehr beengt. Um das knappe Familienbudget zu entlasten, verdient sich Odilo durch Koffertragen am Klagenfurter Bahnhof zumindest sein Schulgeld. Und er betätigt sich weiterhin politisch – die Parolen der extremen Rechten sind längst auch die seinen geworden: Der Kaiser, für den zu kämpfen er noch gedrillt worden ist, ist Vergangenheit, er ist bereit für radikale Lösungen und die Szene in Klagenfurt bietet ihm dazu entsprechende Aktionsfelder. Innerhalb des aus den Abwehrkämpfen hervorgegangenen „Heimatschutzes“ bildet sich eine „nationalsozialistische Sturmabteilung“, eine „erste Kärntner SA“, die auf dem Heimwehrhut bereits das Hakenkreuz trägt. Und auch eine erste nationalsozialistische Partei formiert sich, die „Deutschnationalsozialistische Arbeiterpartei“ (DNSAP), eine „auf dem Boden des Volksfreistaates fußende deutscharische Arbeiter- und Volksreform-Partei“, wie es ihr Programmatiker Theodor Denk formuliert. Unermüdlich trommelt die DNSAP, unterstützt vom Kärntner Volkswillen, dem Sprachrohr der Partei, ihre Hassparolen: Es gibt zwar in Kärnten kaum Juden, dennoch sollen sie es sein, die „das Volk bis in den Kern seiner arisch-deutschen Seele vergiften“, die „deutsche Männer“ zwingen würden, sich „an den Mammonismus der Juden zu verkaufen“. „Verjudet“ seien aber auch Sozialdemokratie und Bolschewismus, ja, die Demokratie selbst; es gebe nur einen Weg zur völkischen Gesundung: sich von dieser „artfremden Geißel“ zu befreien. Zum Judenhass gesellen sich der Hass auf die Slowenen, die das „deutsche Kärnten“ bedrohen würden, und eine ausgeprägt antikapitalistische Haltung – es sind genau diese radikalen Parolen und Feindbilder, die dem jungen Globocnik zur politischen Heimat werden. Für einen Schüler der Staatsgewerbeschule nicht ungewöhnlich, wird er zudem Mitglied der Klagenfurter Burschenschaften „Marcomannia“ und „Teutonia“; sein von Antisemitismus und Antislawismus bestimmtes politisches Weltbild findet hier Bestätigung und neue Nahrung.
Ein verzweifelter Hilferuf: das Schreiben Anna Globocniks an die Postdirektion Klagenfurt.
Dennoch bleibt auch Zeit für Vergnügungen: Irgendwann im Laufe des Jahres 1922 besucht der nunmehr 18-jährige Schüler einen Tanzabend im Café Lerch in der Wiener Gasse in Klagenfurt. Et trägt einen dunklen Anzug, der etwas seltsam aussieht: geschneidert aus der Uniform seines verstorbenen Vaters. Der Aufzug Odilos erregt die Aufmerksamkeit zweier Mädchen, die mit ihrem Vater, dem bekannten Abwehrkämpfer Emil Michner, Oberstleutnant a. D., gekommen sind. Grete und Herta Michner machen sich über den „unmöglichen“ Anzug Odilos derart lustig, dass es schließlich dem aufrechten Oberstleutnant zu viel wird – empört lässt er „demonstrativ jenen Odilo Globocnik“ zu sich an den Tisch bitten; zwei Schulkollegen, die Söhne eines mit Michner bekannten Offiziers, stellen Odilo dem Abwehrkämpfer vor. Man versteht sich sofort gut, Michner gefällt die politisch stramme Haltung des Achtzehnjährigen und auch bei den beiden Mädchen kommt Odilo trotz seines merkwürdigen Tanzanzugs gut an, besonders bei der 16-jährigen Grete, geboren 1906 in Maria Saal. Man trifft sich bald regelmäßig, schließlich verlobt sich Odilo mit Grete. Und Emil Michner nützt seine Kontakte und verschafft Odilo eine Arbeitsstelle: Der Oberstleutnant a. D. setzt sich bei Adolf Wolf, dem Direktor der KÄWAG (Kärntner Wasserwirtschafts-AG) für ihn ein, prompt wird Globocnik angestellt, sein erster Auftrag 1924: ein Kraftwerksbau in Frantschach im Lavanttal. Als Bauleiter ist er in der Folge auf verschiedenen Baustellen für die KÄWAG im Einsatz, dann, im Sommer 1925, beschließt er, es doch noch mit einem Studium zu versuchen. Der 21-Jährige geht nach Wien und findet einen Platz im Studentenheim Grinzing in der Grinzinger Allee 7. „Student“ steht nun auf seinem Meldezettel, er besucht Vorlesungen und versucht sich in der Großstadt zu orientieren. Das akademische Zwischenspiel ist jedoch rasch zu Ende: Noch vor Weihnachten, am 17. Dezember 1925, verlässt er das Studentenheim und kehrt nach Klagenfurt zurück. Was bewegt ihn, das Studium so rasch abzubrechen? Will er seine Mutter und die beiden Schwestern nicht im Stich lassen? Überfordert ihn das Studium? Oder fehlt es einfach nur an den finanziellen Mitteln?