Dolomitenladinisch - Sprachgeschichte und hochschuldidaktische Aspekte

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

„Sono state romanizzate assai profondamente le valli più importati (Adige, Isarco, Pusteria) ed è tale tipo di romanità che è poi rifluita nelle valli del Sella forse a partire dai secoli X e XI e anche dopo; tali valli in epoca anteriore erano sostanzialmente prive di abitatori stabili. [...] L’area delle Dolomiti ove si continuano a parlare (spesso parzialmente) dialetti «retoromanzi» presenta dunque una romanità importata dalla Val d’Isarco (attraverso le valli laterali) ed in parte dalla Pusteria.“

Freilich ist mit der Feststellung, dass die späteren ladinischen Täler vor der Jahrtausendwende „sostanzialmente prive di abitatori stabili“ waren, noch lange nicht gesagt, dass dorthin nicht gelegentlich im Sommer Menschen kamen und die Weiden nutzten, vielleicht auch religiöse Riten vollzogen, von deren Inhalt wir nichts wissen; es handelte sich auf keinen Fall um eine „terra incognita“, um eine Art Antarktis der mittelalterlichen Hirten.

Ein alter Verbindungsweg, der an den Südhängen über St. Ulrich bis Lajen geht, heißt immer noch trói paiàn ‘Heidensteig’ (EWD 5, 141), wobei man bemerken muss, dass heute der Italianismus pagàn für den ‘Heiden’ im religiösen Sinn verwendet wird (EWD 5, 138); abgesehen von der Bezeichnung für den alten Saumpfad bedeutet das ladinische Appellativum paiàn ‘Zimmermannsbeil’, was sich daraus erklärt, das mittelhochdeutsch heiden sowohl den ‘Heiden, Sarazenen’ als auch die ‘Axt der Zimmerleute’ bezeichnet (Lexer 1969, 83), genauer ‘eine Axt des Zimmermanns mit langem schmalem Eisen’ (Grimm, Jakob & Grimm Wilhelm, 1877, 804). Die Bezeichnung für den Grödner Saumpfad reflektiert noch die alte Bedeutung von paiàn: ‘ein Weg, den die Heiden vor der Christianisierung gebahnt haben’.

Für die Siedlungstätigkeit im Gadertal macht der Mannheimer Professor Rainer Loose folgende Bemerkungen (1996, 708-709):

„Beginnen wir mit einer Feststellung! Verglichen mit anderen Tälern Südtitols sind bis heute keine Zeugnisse bekannt geworden, weder direkte noch indirekte, die Anhaltspunkte liefern, wo wir die Anfänge der heutigen Siedlungen suchen müssen. Die vor- und frühgeschichtlichen Siedlungsplätze haben bisher keine Funde freigegeben, die die Siedlungskontinuität von der Endbronzezeit (ca. 850 v. Chr.) bis ins frühe Mittelalter belegen. Diese relative „Fundleere“ kann wohl nicht nur auf das Konto zu geringer archäologischer Nachforschungen und Ausgrabungen gehen, sondern dürfte auch einen substantiellen Grund haben. Denn es wird in der römischen und spätantiken Zeit nicht zu einer intensiven Durchsiedlung der Dolomitentäler gekommen sein, auch nicht in der Zeit der bajuwarischen Landnahme, sondern nur zu einer episodischen oder periodischen Landnutzung. Die Anfänge der ältesten Siedlungen Ennebergs und des Gadertales sind vermutlich erst im 9. bis 10. Jahrhundert gelegt worden. Dieser Ansicht widersprechen nicht die Funde von römischen Münzen, steinernen Büsten- und Altarstelenfragmenten, die eher ein Anzeichen für ein gelegentliches Aufsuchen der Hochtäler sind.“

Rainer Loose hat herausgearbeitet, dass aus der Verwendung des Schlüsselbegriffs forestis für einen „Bannbezirk im rechtsgeschichtlichen Sinn“, der „ein wenig durchsiedeltes Waldgebiet meint, in dem Menschen Waldnutzungen nachgehen, also Baumharz (Pech), Honig und Wachs gewinnen, die Waldweide und Jagd ausüben, wertvolle Hölzer einschlagen sowie Erze und andere Bodenschätze suchen und schürfen“ (Loose 1996, 709). Der karolingische König hatte die Ausbeutung dieser Bannbezirke normalerweise an getreue Gefolgsleute gegen Zinsleistung verliehen oder verschenkt. 893 wird in Lüsen die forestis ad Lusinam genannt, 1027 auf dem Ritten oberhalb von Bozen die forestis iacens in monte Ritena, um 999 wird ein forestum ad Gredine urkundlich erwähnt. Um die Nutzung des Waldbestandes zu ermöglichen, „ließen die Inhaber und Nutznießer der forestis die Errichtung von Hütten und einfachen Behausungen zu, die sich jedoch bei dauernder Anwesenheit bald zu festen Gebäuden und Siedlungen entwickelten“ (Loose 2000, 207). Eine feste Siedlung entstand beispielsweise am Platz um die dem Augsburger Patron St. Ulrich (kanonisiert 993) geweihte Kirche, die im Latein der Zeit orticetum ‘Brennesselplatz’ und auf Ladinisch urtijëi genannt wurde, das Etymon des heutigen ladinischen Ortsnamen Urtijëi und seiner italienischen Entsprechung Ortisei.

Fassen wir zusammen: Die kategorische Behauptung von Carlo Battisti (1941, 36), dass „è impossibile dimostrare e ammettere, che le valli ladine siano state colonizzate stabilmente prima del secolo XII“, ist sicherlich in dieser Form nicht korrekt, genauso unkorrekt ist es aber, aus Einzelfunden und möglichen Gräberfeldern (Col de Flam in Gröden, Vigo de Fassa) eine Siedlungskontinuität rekonstruieren zu wollen. Das Gebiet, das später die ladinischen Täler konstituieren sollte, hatte in vorgeschichtlicher Zeit wie alle anderen Gebiete, die höher als etwa tausend Meter lagen, keine wirkliche Bedeutung, und gelegentliche Besuche von Einwohnern der niedriger gelegenen Gebieten führten auf keinen Fall zu einer dauerhaften Ansiedlung, die auch das Winterhalbjahr erfasste.

Für die möglichen Relikte des vorlateinischen Wortschatzes in den dolomitenladinischen Idiomen bedeutet diese Feststellung aber, dass sie nicht als direkte, in loco von Generation zu Generation weitertradierte Elemente angesehen werden können, sondern dass sie Bestandteile eines größeren Gebietes sein müssen, in dem das entsprechende Wort einheimisch ist oder war. Was immer ursprünglich mediterranes, rätisches, venetisches, keltisches Wortgut war, es hat sich im Ladinischen nur dann erhalten können, wenn es zuvor zum Bestandteil einer auf größerem Gebiet auftretenden Romanität geworden war. Es handelt sich also streng genommen um vorlateinische Elemente, die im Lateinischen des Voralpenlandes erhalten blieben und dann aus dieser Latinität an das entstehende Romanische der ladinischen Täler um das Sella-Massiv weitergegeben wurden.

Die Wortschichten, die uns im Ladinischen entgegentreten, sind also (Kramer 2000, 839):

1 Die hispano-kaukasische oder mediterrane Schicht;

2 Die etruskische und para-etruskische (rätische) Schicht;

3 Die indogermanische (venetische, keltische, parakeltische) Schicht.

Im Folgenden soll an einigen zufällig herausgegriffenen Elementen exemplifiziert werden, wie einige vorlateinische Wörter ihren Platz im Ladinische behaupten.

baràntl ‘Legföhre, abgehauener Ast’. Dieses Wort gibt es in allen ladinischen Varietäten (buch. barancle, fass. barànchie) (EWD 1, 226–228), außerdem im Cadorinischen, im Bellunesischen und in Friaulischen (LEI 4, 1500–1501). Als vorlateinisches Etymon ist *barranculum anzusetzen: Im LEI 4, 1570 ist der Ausgangspunkt „il tipo preromano *bar(r)-/*ber(r)-/*bir(r)-/*br- ‘ciò che germoglia, spunta; cespo’“: „Si è usi ritenere *barro- un celtismo (irl. barr ‘vertice, cima’, cimr. bar, bret. barr– ‘cima; ramo’ [...], amettendo spesso che la parola avrebbe desinato originariamente un cippo o una pianta che segnava il confine“. Gegen eine Verbindung mit dem Keltischen spricht allerdings die Tatsache, dass der Worttyp *barranculum im Westen nicht vertreten ist (Elwert 1943, 205), so dass die Verbindungen mit dem vorindogermanischen Substrat an Wahrscheinlichkeit gewinnen (Battisti 1936, 567; Hubschmid 1965, 53 und 102–103). Das Urteil kann nur sein, dass wir es sicherlich mit einem vorlateinischen Element zu tun haben, dass aber dessen Zuordnung zu den verschiedenen in Frage kommenden Wortschichten mehr als ungewiss ist.

bëna ‘geflochtener Mistkorb als Wagen- oder Schlittenaufsatz’ gehört der keltischen Schicht an. Das Wort ist in der Antike bei Festus belegt (24, 1: „benna lingua Gallica genus vehiculi appellatur, unde vocantur conbennones in eadem benna sedentes“) und liegt in allen ladinischen Idiomen sowie im Cadorinischen, Bellunesischen, Trentinischen und Bündnerromanischen vor (EWD 1, 268); eine weite Verbreitung ist im Galloromanischen (FEW 1, 325–329) und im Nord- und Mittelitalienischen gegeben (LEI 5, 1171–1182). Treffend ist die Bemerkung von Grzega 2001, 81: „Es werden zahlreiche Wortwanderungen stattgefunden haben“.

crëp ‘Fels’. Johannes Hubschmid hat das „Wort klap, das in romanischen Mundarten der Ostalpen, insbesondere im Friaul, ‘Stein, Fels’ bedeutet“ (Hubschmid 1951, 11), mit einem „schon in vorromanischer Zeit von dem noch weiter verbreiteten Verbalstamm *klapp- ‘spalten’ (Hubschmid 1951, 12) in Verbindung gebracht und damit den „vorromanischen Stamm *krippo- ‘Fels’“ verbunden (Hubschmid 1951, 13); „nicht speziell alpine Bedeutungen wie ‘Spalte, Scherbe’ lassen sich für die durch Kreuzung mit vorrom. *krippo- + vorrom. *klappo- entstandene Variante *krappo- (woher surselv. crap ‘Stein’, engad. crap ‘Stein, Fels’) nachweisen’ (Hubschmid 1951, 13). Zu diesen angenommenen Etyma stellt Hubschmid eine beachtliche Reihe von Formen aus Sprachen, die genetisch nichts miteinander zu tun haben. Die Schlussfolgerung ist: „Vorrom. *klappa lässt sich nicht mit indogermanischem Sprachgut verknüpfen; es stammt wahrscheinlich aus einer vorindogermanischen Sprache“ (Hubschmid 1950, 46). Battisti 1936, 568, denkt an *carpa ‘sodaglia, pietrame’ im Rätischen und Lepontischen. Der Worttyp *klappa könnte lautmalend sein, wenn Walther von Wartburg, FEW 2, 737, das auch für „unwahrscheinlich“ hält, „weil klappa, wo es lebt, sehr stark verwurzelt erscheint, und weil es auch in Ortsnamen schon früh auftritt“. Fazit: *klappa ist wohl vorlateinisch, aber trotz der schier unübersehbaren Menge von wirklichen oder scheinbaren Parallelformen ist eine Zuweisung zu konkreten vorrömischen Sprachen nicht gelungen.

 

dàscia ‘Nadelholzzweige, Streu’. Dieses viel diskutierte vorlateinische Element (Battisti 1936, 568) taucht westlich der Dolomiten mit dem stimmhaften Sibilanten ž auf, während östlich, also auch im Ladinischen, der stimmlose Sibilant š herrscht (EWD 3, 25–26). Im ersten Fall ist das direkte Etymon *dasia, im zweiten Fall *daxia (Elwert 1943, 209–210). Johannes Hubschmid hat für beides eine gemeinsame Urform *dágisia postuliert, die er für stammverwandt mit keltisch *dagla hält (1949, 59-65). Ob diese hoch spekulative Rekonstruktion die Wahrheit trifft, kann hier nicht erörtert werden; Grzega 2001, 155 denkt „an genuin mediterrane Herkunft“, wobei ein über das Gallische vermitteltes Wanderwort anzunehmen wäre.

dra ‘Sieb, Getreidesieb’. Dieses Wort wird auf eine Grundform *dragium zurückgeführt (FEW 3,153), die von Wallonien bis nach Friaul entlang der germanisch-romanischen Sprachgrenze mit Weiterungen in ostfranzösischen Dialekten zu finden ist. Das Wort kommt in allen ladinischen Varietäten, in den Alpen Nordostitaliens und im Bündnerromanischen vor (EWD 3, 133–134). Das Verbreitungsgebiet bringt J. Grzega 2001, 161, dazu, „trotz fehlender keltischer Parallelformen die keltische These“ der Herleitung zu befürworten, die ohne nähere Begründung die etymologische Literatur beherrscht.

mót ‘Widder’. Dieses keltische Wort (Grzega 2001, 210–212) liegt in den Dialekten des Gadertals und in Buchenstein als Simplex mót vor, im Fassatal als muton; im Grödnerischen, wo man bagòt sagt, scheint das Wort zu fehlen (EWD 4, 476–477). Die Zweifel von Grzega, ob das Fassanische mutón aus der alten Obliquus-Form *multone zu erklären sei, sind völlig unberechtigt; diese Form liegt in Katalonien, in Frankreich und in Norditalien vor (z. T. mit Ersatz des –l– durch –n–). Im Bünderromanischen fehlt das Wort (mit Ausnahme eines Einzelbelegs aus dem Bergell).

‘Erdrutsch’. Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts sagte man auch im Hauptteil des Gadertals ròa, wie heute noch in Enneberg, in Buchenstein, in Fassa und in Gröden (EWD 5, 545–546). Die Ausgangsform des romanischen Typs rova oder roa, der vom Bünderromanischen bis zum Friaulischen in den Alpen und Voralpen auftritt, ist wahrscheinlich ein frühes indogermanisches *reu-, das keiner besonderen Sprache zugeordnet werden kann (Hubschmid 1950, 47-49), während für ein mediterranes *rova (Battisti 1936, 572) Anknüpfungspunkte fehlen.

sàla ‘Rinne, Abwassergraben’. Dieses Wort, das in allen ladinischen Varietäten vorkommt, wird von Carlo Battisti, 1936, 572, der vorindogermanischen Sprachsphäre zugerechnet (vgl. auch 1933, 267–277, und C. A. Mastrelli 1966, 70). Das Wort liegt im Ampezzanischen vor und dient im Oberengadin als sela zur Bezeichnung des jungen Inn (RN 2, 298).

tàna ‘Höhle’. In allen ladinischen Idiomen (EWD 7, 30–31), im Bündnerromanischen, im Friaulischen, in ganz Norditalien und sogar in der italienischen Schriftsprache seit Dante (DELI-N 1660) sowie in Südfrankreich (FEW 13, 78–79) gibt es einen Worttyp für ‘Höhle, Loch in der Landschaft’, der auf ein Etymon *tana zurückgeht (die ältere, typische Schreibtischversion *subtana ist inzwischen von allen Forschern aufgegeben worden). Johannes Hubschmid 1991, 144–148, hat überzeugend dargelegt, dass *tana ein vorindogermanisches, also wohl mediterranes, Wort sein dürfte.

tru m. ‘Fußweg’. Dieses Wort, das man auf eine Grundform *trogium (FEW 13 [2], 314) zurückführen kann, ist in der alpinen Toponomastik gut verbreitet (Pallabazzer 1972, 111–112) und ist im Wortschatz in Nordostitalien, in Graubünden, in Friaul und vielleicht sogar in Spanien erhalten. Es könne indogermanisch sein (zum Stamm *tregh-/*trogh- ‘laufen’), es könnte aber auch mittelmeerisch sein.

Was das Auftreten vorlateinischer Elemente im Ladinischen anbelangt, so ist zunächst festzuhalten, dass lediglich in den Fällen keltischer (gallischer) Elemente eine einigermaßen sichere Zuweisung zu bestimmten Worttypen möglich ist; bei den frühindogermanischen und noch mehr bei den vorindogermanischen Elementen kommt man nicht über Vermutungen hinaus, und die unterscheiden sich von Forscher zu Forscher so erheblich, dass es jedenfalls mehr als leichtsinnig wäre, darauf sprachgeschichtliche Gebäude errichten zu wollen. Normalerweise bewegen wir uns in Rekonstruktionen einer Vorgeschichte von Einzelwörtern, und die mediterranen Vorschläge sind trotz der Menge der Belege nicht verifizierbar. Man darf nicht vergessen, dass es sich meistens um Zweisilbler handelt.

1.1.3 Der lateinische Kern des Ladinischen

Mit der Einverleibung ins römische Reich begann für die Zentralalpen eine völlig neue Zeit. Der Sieg der Römer über die karthagischen Eroberer hatte eine Einbeziehung der Bewohner der Po-Ebene in die römische Einfluss-Sphäre zur Folge. Zunächst erhielten die Bewohner einiger Städte nördlich des Po das römische Bürgerrecht, und im Zuge des Bundesgenossenkriegs erhielten alle Städte, die sich loyal gezeigt hatten, das ius Romanum statt des älteren ius Latinum. Verona, Mantua, Brescia, Vicenza, Padua, Feltre und Belluno bekamen das römische Bürgerrecht, und kurz nach dem Tode Caesars, der mit Soldaten aus der Poebene seine Elitetruppen im Gallischen Krieg gebildet hatte, wurde 42 v. Chr. die Gallia cisalpina zu einem Teil Italiens. Tridentum, ein keltisches oppidum am Atesis (Just. 20, 5, 8; Plin. 3, 130, zählt Tridentum zu den Raetica oppida), wurde von Caesar als Zentrum der Tridentini, ausgebaut (Strab. 4, 6, 6) und bei der Regioneneinteilung unter Augustus der Regio X zugeteilt. Eine etwas weniger wichtige Stadt war Aguntum vier Kilometer östlich von Lienz, das erst von Kaiser Claudius seine Anerkennung als municipium erfuhr (Plin. 3, 146). ILS 5016

Augustus beauftragte seine Stiefsöhne Drusus (38 v. Chr. – 14 v. Chr.) und Tiberius (42 v. Chr. – 37 n. Chr.) damit, die Alpenpässe zu besetzen, die Italien mit den Gebieten an Rhein und Donau verbinden. Der römische Historiker Velleius Paterculus (19 v. Chr. – 31 n. Chr.) sah die Betrauung von Drusus (Claudius), der am 14. September 9 v. Chr. starb, und Tiberius (Nero) mit der Eroberung des Zentralalpenraumes als sozusagen erzieherische Bewährungsaufgabe, mit der der römische Kaiser seinen als Nachfolgern designierten Stiefsöhnen militärische Erfahrung als Befehlshaber einer großen Eroberungsaktion (haud mediocris belli mole) verschaffen wollte (2, 95, 1–2):

„Reversum inde Neronem Caesar haud mediocris belli mole experiri statuit, adiutore operis dato fratre ipsius Druso Claudio, quem intra Caesaris penates enixa erat Livia. Quippe uterque divisis partibus Raetos Vindelicosque adgressi, multis urbium castellorum oppugnationibus nec non derecta quoque acie feliciter functi gentes locis tutissimas, aditu difficillimas, numero frequentes, feritate truces maiore cum periculo quam damno Romani exercitus, plurimo cum earum sanguine perdomuerunt.“

Wie so oft schrieb Rom die Schuld am Krieg den äußeren Feinden, in diesem Falle den alpinen Rätern, zu, die angeblich Plünderungen der Orte in der Poebene begangen hatten und noch vorhatten. Die römische Ideologie lehnte Angriffskriege ab – das Reich wehrt sich immer gegen Angriffe von außen und stellt den Frieden wieder her (pacare). So schreibt Kaiser Augustus in seinem Rechenschaftsbericht (res gestae), der uns inschriftlich erhalten ist, im Brustton der Überzeugung davon, dass keinem Volk der Krieg ungerechterweise erklärt wurde (cap. 26):

“Alpes a regione ea, quae proxima est Hadriano mari, [ad Tuscum pacari fec]i nulli genti bello per iniuriam inlato.”

Der Verlauf des Krieges stellt sich in einer modernen Darstellung folgendermaßen dar (Kustatscher/Romeo 2010, 38–39):

„Drusus gelangte vom Raum Trient in das Bozner Becken (vgl. das Toponym Pons Drusi). Von hier aus drang eine Heeresabteilung über das Etschtal bis in den Vinschgau vor, die andere erreichte über das Eisacktal den Brenner. Die Eroberung des gesamten Zentralalpenraumes wurde durch den gleichzeitigen Vorstoß des Tiberius möglich, der von Gallien aus über den Bodensee erfolgte. Von den damals eroberten rätischen Stämmen nennen mehrere Quellen die Venostes (mit hoher Wahrscheinlichkeit im Vinschgau südlich des Reschen ansässig), die Isarci (vielleicht im Etschtal), die Breuni (im oberen Eisacktal), die Vindelici (im Inntal) und die Norici (im Pustertal und im heutigen Österreich südlich der Donau). Nach Angabe einiger Autoren wurden die unterworfenen Völker mit äußerster Härte behandelt. Um Aufstände zu verhindern und die Pax Augusta aufrechtzuerhalten, hätten die Römer einen großen Teil der männlichen Bevölkerung deportiert (vielleicht in Gestalt einer Einverleibung in ihre Hilfstruppen).“

Die Behandlung der eroberten Gebiete erfolgte nach der üblichen Vorgehensweise: zunächst Ausschaltung möglicher Widerstandsnester durch Eliminierung der nicht zur Zusammenarbeit bereiten vorrömischen Elite und andererseits durch Anwerbung von Kollaborateuren, Zuzug von römischen Neusiedlern und Förderung von familiären Bindungen zwischen Frauen aus der einheimischen Elite und zugezogenen Römern. Der griechisch schreibende Historiker Dio Cassius berichtet im 3. Jahrhundert n. Chr. (54, 22, 1–5; Übersetzung von Otto Veh):

„Drusus und Tiberius waren mit folgenden Unternehmungen beschäftigt: Die Raeter, die zwischen Norikum und Gallien, nahe den Italien anliegenden tridentinischen Alpen, ihre Wohnsitze haben, unternahmen Einfälle in viele Teil des benachbarten Gallien und schleppten sogar aus Italien Raubgut hinweg. Außerdem belästigten sie die Römer oder auch ihre Bundesgenossen, welche ihr Gebiet durchquerten. Nun war zwar ein solches Verhalten irgendwie bei Völkern zu erwarten, mit denen kein Friedensabkommen bestand, die Raeter aber (gingen weiter und töteten unter den Gefangenen alles, was männlichen Geschlechtes war, nicht nur, was bereits in die Welt getreten war, sondern auch was als ungeborenes Leben sich in den Leibern der Frauen befand und durch Wahrsagen als männlich festgestellt wurde. Deshalb schickte Augustus zunächst den Drusus gegen sie, und der schlug rasch eine Gruppe von ihnen, die ihm bei den tridentinischen Bergen entgegentrat, in die Flucht, worauf er den Rang eines Praetors erhielt. Späterhin, als die Feinde zwar von Italien abgedrängt waren, jedoch auch dann noch Gallien heimsuchten, entsandte der Kaiser auch noch den Tiberius. Die beiden Brüder brachen nun von vielen Seiten her gleichzeitig ins Land ein, sowohl persönlich wie auch mit Hilfe der Unterführer, und Tiberius überquerte auf Schiffen sogar den See. So versetzte er die Einwohner, indem sie lediglich auf einzelne Volksgruppenstießen, in Schrecken und überwältigten ohne besondere Mühe nicht nur diejenigen, die sich jeweils zum Kampfe stellten – die Barbaren setzten ja ihre Streitkräfte nicht geschlossen ein –, sondern nahmen auch den Rest, der sich durch das Vorausgegangene geschwächt und entmutigt fühlte, gefangen. Und da die Bevölkerung über viele Männer verfügt und man mit Empörungen rechnen musste, so führten die Römer den Großteil ihrer kräftigsten, im waffenfähigen Alter stehenden Leute außer Landes und ließen nur so viele zurück, dass sie das Gebiet wohl hinreichend besiedeln, nicht aber einen Aufstand wagen konnten.“

Nach dem üblichen Verfahren bei der Einverleibung neuer Territorien ins Imperium Romanum integrierten die Römer die einheimische Aristokratie in ihr System: Cotius, der König der Segusier, erscheint auf dem 8 v. Chr. errichteten Triumphbogen von Susa in der Provinz Turin wie ein römischer Beamter in der Toga und führt ein Opfer zu Ehren von Augustus aus. Die verschiedenen Typen des römischen Bürgerrechts wurden an ausgewählte Familien verliehen. Die Verwaltung in der Friedenszeit, die der Eroberung folgte, sah folgendermaßen aus (Kustatscher/Romeo 2010, 39):

„Nachdem das neu eroberte Gebiet zunächst vermutlich einer Militärregierung unter einem Präfekten unterstanden hatte, wurde der Raum der Zentral- und Ostalpen auf drei Verwaltungseinheiten verteilt: die Provinzen Raetia und Noricum und die 10. Region Italiens (später als Venetia et Histria bezeichnet). Der Verlauf der Grenzen zwischen diesen Sprengeln auf dem Gebiet des nachmaligen Tirol ist nicht sicher feststellbar. Wahrscheinlich umfasste Rätien (mit der Hauptstadt Augusta Vindelicorum / Augsburg) den gesamten Vinschgau bis ins Meraner Becken und das obere Eisacktal. Dort grenzte es an Noricum (mit der Hauptstadt Virunum / Zollfeld in Kärnten); diese Provinz umfasste u. a. das Pustertal und das mittlere Eisacktal. Südlich von Meran bzw. südlich von Klausen lag die Grenze des zum municipium Trient gehörigen Gebietes, das zur 10. Region Italiens gehörte.“

 

Zeitlich wurde zunächst ein Militärdistrikt Raetia et Vindelicia et Alpes Graiae et Poeninae geschaffen, der zunächst von einem Praefectus geleitet wurde, aber ab 16/17 n. Chr. einem Procurator ritterlichen Standes unterstand. Unter Kaiser Claudius wurde unter Abtrennung der prokonsularischen Provinz Alpes Graiae et Poeninae eine Provinz Raetia mit der Hauptstadt Augusta Vindelicum (Augsburg) gegründet. Das östlich davon gelegene Noricum war nominell ein verbündetes Königreich, das erst unter Claudius in den Status einer Provinz gebracht wurde. Unter Kaiser Diokletian (284–305) und seinem Nachfolger Konstantin I. (306–337) kam es zur Reorganisation des Provinzsystems, in dem Raetia in zwei Provinzen geteilt, Raetia Prima im Westen mit der Hauptstadt Curia (Chur) und Raetia Secunda im Osten mit der Hauptstadt Augusta Vindelicum; auch Noricum wurde geteilt in Noricum Ripense und Noricum Mediterraneum. Im 5. Jahrhundert wurde Noricum Ripense ein wichtiger Schauplatz der Völkerwanderung, in deren Verlauf Hunnen und germanische Stämme die Provinz in Mitleidenschaft zogen. Bischof Severinus verhinderte den totalen Zusammenbruch des römischen Systems, aber sechs Jahre nach seinem Tod ließ Odoaker 489 die Romanen nach Italien evakuieren; größere Gruppen blieben allerdings als Romani tributales in der alten Heimat zurück. In der westlich angrenzenden Provinz Raetia secunda blieb der Name vallis Norica.

Einige zeitgenössische Zeugnisse berichten uns, wie die Einbeziehung der lokalen Eliten in das römische Wertesystem vor sich ging. Leider ist keines dieser Zeugnisse aus dem Alpenraum, aber es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass die Schritte überall dieselben waren. In der Biographie seines Schwiegervaters Agricola berichtet Tacitus (22), wie im Winter 78/79 n. Chr. die Elite Britanniens an die römische Kultur und Zivilisation herangeführt wurde, damit so alle Gedanken an einen Widerstand unmöglich würden:

„Sequens hiems saluberrimis consiliis adsumpta. Namque ut homines dispersi ac rudes eoque in bella faciles quieti et otio per voluptates adsuescerent, hortari privatim, adiuvare publice, ut templa fora domos extruerent, laudando promptos, castigando segnes: ita honor et aemulatio pro necessitate erat. Iam vero principum filios liberalibus artibus erudire, et ingenia Britannorum studiis Gallorum anteferre, ut, qui modo linguam Romanam abnuebant, eloquentiam concupiscerent. Inde etiam habitus nostri honor et frequens toga; paulatimque discessum ad delenimenta vitiorum, porticus et balinea et conviviorum elegantiam. Idque apud imperitos humanitas vocabantur, cum pars servitutis esset.“

Das Rezept der Romanisierung war klar: Die Söhne der Elite (principum filii) mussten an die liberales artes herangeführt werden, so dass sie, die soeben noch die Sprache der Römer abgelehnt hatten (qui modo linguam Romanam abnuebant), die kunstvolle römische Redekunst antrebten (eloquentiam concupiscerent). Die jungen Britannier begannen, sich, wie die Römer in die – unbequeme – Toga zu kleiden, an aufwändigen Festgelagen teilzunehmen und Säulenhallen sowie Bäder (porticus et balinea) zu erbauen. Der kritische römische Historiker wusste aber, dass diese anscheinende humanitas nur ein pars servitutis war.

Ein weniger ausführliches Zeugnis, wohl aus persönlicher Erfahrung gewonnen, betrifft Pannonien, also die östliche Nachbarprovinz von Noricum. Velleius Paterculus, der legatus des Tiberius in der Zeit der Abwehrkämpfe der Pannonier gegen die Römer war, beschreibt die Aufständischen mit einer gewissen Bewunderung (2, 110, 5):

„In omnibus autem Pannoniis non disciplinae tantummodo, sed linguae quoque notitia Romanae, plerisque etiam litterarum usus et familiaris animorum erat exercitatio: itaque hercules nulla umque natio tam mature consilio belli bellum iunxit ac decreta patravit.“

Hier ist die Anpassung der pannonischen Aufständischen an die römische Lebensart schon weit gediehen: Man hat die römische disciplina übernommen, man hat Kenntnis der lateinischen Sprache, auch in ihrer schriftlichen Form, und man ist vertraut mit dem intellektuellen Leben der Römer (familiaris animorum exercitatio). Fazit: Aufständische sind umso gefährlicher, je mehr sie sich an die römische Lebensweise angepasst haben.

Insgesamt aber bereitete das zentrale Alpengebiet den Römern wenig Sorgen. Die Grenze des Reiches gegen die Germanen verlief weit nördlich der Alpen, entlang des Donaulaufes, und Noricum, das angeblich von seinem letzten König an Augustus vererbt worden war, war eines der ruhigsten Gebiete. Auch die italische Regio Venetia et Histria wurde kaum von den Überfällen angrenzender Stämme und auch nicht von den internen Konflikten innerhalb des Reiches berührt.

Man genoss, kurz gesagt, die Segnungen der pax Romana. Manchmal wurden sogar unzuverlässige Truppen nach Rätien versetzt, um sie von den Brennpunkten der historischen Entwicklungen abzuziehen (Tacitus, ann. 1, 44, 4):

„Veterani haud multo post in Raetiam mittuntur, specie defendendae provinciae ob imminentis Suebos, ceterum ut avellerentur castris trucibus adhuc non minus asperitate remedii quam celeris memoria.“

Das Hauptaugenmerk der Römer galt der Errichtung eines sicheren, möglichst ganzjährig zu benutzenden Straßennetzes. Die via Claudia Augusta verband Altinum an der nördlichen Adria durch die Valsugana bzw. Hostilia und Verona durch das Etschtal mit Tridentum. Im Bozner Becken teilte sich danach die via Claudia Augusta in zwei Äste, von denen einer dem Lauf der Etsch folgte und über den Reschen-Pass den Hauptkamm der Alpen querte, während der andere dem Eisacktal folgte und über den Brenner den Norden erreichte. Eine weniger wichtige Seitenverbindung verband Veldidena (bei Innsbruck) über Littamum (Innichen/S.Candido) mit Aguntum bei Lienz. Meilensteine folgten dem Verlauf der Straße, und sie sind naturgemäß nur zufällig erhalten; die etwa zwanzig Meilensteine, von denen wir wissen, sind von Maria Außerhofer 1976 ebenso wie die Weihesteine und die Grabsteine der Region veröffentlicht worden.

Der älteste Meilenstein, der 1552 in Rabland im Vinschgau gefunden wurde, befindet sich jetzt im Stadtmuseum von Bozen. Er wurde 46 n. Chr. von Kaiser Claudius aufgerichtet und ehrt seinen Vater Drusus, den römischen Erbauer der Via Claudia Augusta. Der Meilenstein hat folgenden Wortlaut (CIL 5, 8003):

„Ti(berius) Claudius Caesar | Augustus German(icus) | pont(ifex) max(imus) trib(unicia) pot(estate) VI | co(n)s(ul) desig(natus) IIII imp(erator) XI p(ater) p(atriae) | [vi]am Claudiam Augustam | quam Drusus pater Alpibus | bello patefactis derexserat | munit a flumine Pado at | flumen Danuvium per | m(ilia) p(assuum) CCCL.

Tiberius Claudius Caesar, Augustus Germanicus, Pontifex maximus, zum 6. Male Inhaber der tribunicischen Gewalt, zum 4. Male designierter Konsul, zum 11. Male Imperator, Vater des Vaterlandes, hat die Via Claudia Augusta, die sein Vater Drusus nach der kriegerischen Erschließung der Alpen errichtet hatte, befestigt vom Fluss Padus (Po) bis zum Fluss Donau auf einer Länge von 350 Meilen.“

Die Schwierigkeiten, die die Römer beim Straßenbau in den Alpen hatten, schildert der in griechischer Sprache schreibende Geograph Strabon (63 v. Chr.– 23 n. Chr.) in eindringlichen Worten (6, 4, 4 = 204BC, Übersetzung von Stefan Radt):

„Oberhalb von Comum, das am Fuß der Alpen liegt, wohnen auf der einen Seite, gen Osten, die Räter und die Vennonen, auf der anderen die Lepontier, die Tridentiner, die Stoner und mehrere kleinere Völker, die in früheren Zeiten, räuberisch und arm wie sie waren, Italien mit Beutezügen heimsuchten. Heute sind sie teils vernichtet, teils völlig domestiziert, so dass die durch ihr Land führenden Gebirgsübergänge, die früher gering an Zahl und schwer passierbar waren, heute aus vielen Richtungen zugänglich, sicher vor den Leuten und außerdem, soweit möglich, durch den Ausbau gut begehbar sind. Caesar Augustus hat nämlich im Anschluss an die Niederwerfung der Räuber die Straßen ausbauen lassen – soweit das möglich war; denn es ist nicht möglich, überall die Natur zu bewältigen, wo der Weg über enorme Felsen und Bergwände führt, die teils über die Straße emporragen, teils unter ihr abfallen, so dass, auch wenn man nur ein wenig von der Straße abweicht, man unweigerlich Gefahr läuft, in abgrundtiefe Schluchten zu stürzen Der Weg ist stellenweise so schmal, dass er sowohl den zu Fuß Gehenden als den Saumtieren, die es nicht gewohnt sind, Schwindel macht (die einheimischen Saumtiere tragen die Lasten sicher). Dagegen ist also nichts zu machen, ebenso wenig wie gegen die von oben herabrutschenden enormen Eisschichten, die eine ganze Gesellschaft von Reisenden abschneiden und in die Schluchten unterhalb stoßen können: es liegen nämlich viele Schichten aufeinander, da der Schnee immer wieder zu Eis gefriert, und die oberen Schichten lösen sich leicht von den tieferen, bevor sie in der Sonne ganz zergehen.“