Kandenberg-Alt Schmiede

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Kandenberg-Alt Schmiede
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Johannes Irmscher

Kandenberg-Alt Schmiede

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Inhalt

Das Treffen

Die Bar

Der Weg

Der Club

Der Döner

Der Strand

Impressum neobooks

Inhalt

Das Treffen

Januar, Studentenwohnheim. Das kleine Zimmer wurde von einer Deckenlampe ausgeleuchtet. Die Jalousie war vor das Fenster gezogen. Das Bett, der Schrank, der Schreibtisch und die Wände waren weiß und an einigen Stellen befleckt. Das grelle Licht schien die Unreinheiten noch zu betonen. Auf dem Boden lagen ein paar Chipstüten, mehrere Stifte und Blätter. Auf dem Fernseher neben dem Bett versuchte Gabriel Jesus seine Freundin anzurufen, niemand ging ran.

„Scheiß auf WL!“

Terrier hätte seinen Controller gerne durch den Raum geworfen. Doch er hatte nur noch den Einen, da konnte er nichts riskieren, außerdem war die Wahrscheinlichkeit, in diesem kleinen Zimmer den Bildschirm zu treffen, ziemlich hoch. Und für einen neuen Fernseher reichte sein Bafög erst recht nicht aus. Er begnügte sich damit, seinen Gegner mit grenzwertigen Beleidigungen zu überhäufen. Sein Team trug das Wappen von ADO Den Haag. Vier Minuten Nachspielzeit wurden angezeigt und Butland fing gerade zum achten Mal einen Kopfball seines Verteidigers auf. Der Schiedsrichter pfiff ab.

„Ja der dumme Spasti, ey!“

Terrier schaltete die PlayStation aus. Er schaute auf die Uhr und merkte, dass er spät dran war. Terrier hatte eine unwahrscheinlich große Armbanduhr mit einem schwarzen Lederarmband. Wenn es bei einem Gespräch um Uhren ging, war er nie zu spät. Er konnte Stunden über das Ticken reden. Irgendwann verkrümelte er sich immer mit Astra in eine Ecke und redete über Uhren.

Er nahm sich noch eine Gabel Nudeln und stellte den Teller dann neben den Fernseher. Der grüne Pesto klebte am Rand. Dort wurde er fest. Auch wenn das Fifaspiel etwas anderes vermuten ließ, war kulturelle Sensibilität für den Terrier ein Thema. Aus dem Nutellastreit hielt er sich trotzdem heraus. Er mochte Schokolade ohnehin nur aus dem Kühlschrank.

Um in das Bad zu gelangen, musste er aufpassen nicht zu stolpern. Er tat einen großen Schritt und lehnte sich dabei schon beinahe an die Flurtür. An der Badtür hing eine angeklebte Leiste mit zwei Jacken. Er legte sein Portmonee und eine Kaugummipackung in die Außentaschen, dann ging er in das Bad. Ganz im Gegensatz zu seiner Bude, waren die weißen Fliesen, die ebene Dusche und der Spiegel blitzblank geputzt. Er hatte sich schon umgezogen, aber merkte, dass auf seinem T-Shirt ein grüner Fleck war. Er zog es aus, beugte sich nach hinten und warf es auf das Bett. Die Runde Fifa hatte ihn ein bisschen schwitzen lassen und so sprühte er sich Deo unter die Achseln. Er bekreuzigte sich mit Parfüm.

Terrier nahm ein anderes T-Shirt aus seinem Schrank, es war dem Trikot eines Basketballteams nachempfunden. Bevor er es anzog, stellte er sich noch einmal vor den Spiegel und ließ beim Zähneputzen die Brustmuskeln wackeln.

Seine Haare musste er nicht richten. Vor drei Tagen war er beim Barbier gewesen und hatte sich zum ersten Mal die Haare ganz kurz schneiden lassen. Bart und Haupthaar hatten jetzt fast die gleiche Länge. Nur unter der Nase ließ er die Haare ein bisschen stärker sprießen. Terrier war auf seinen Bart besonders stolz. Bis auf ein paar Stellen unter dem Kinn, war er lückenlos. Er holte gerade die Jacke vom Haken und wollte in den Flur hinaustreten, als er jedoch Stimmen hörte, verharrte er mit der Türklinge in der Hand in seinem Zimmer. Das Studentenwohnheim war natürlich ein Ort für zufällige Begegnungen, aber die Leute aus seiner Etage mochte der Terrier nicht. Die Stimmen verstummten und er trat hinaus in den Flur. Sein Schlüsselbund klapperte fast gar nicht, da an dem Ring nur ein einziger Schlüssel befestigt war.

Terrier wohnte in der ersten Etage des Studentenwohnheims. Das Treppenhaus befand sich in der Mitte und wurde von einer gläsernen Decke begrenzt, an ihr hingen Kunstobjekte. Große, glitzernde Lampen und Bälle. Die Treppen waren breit. Auf der Stufe zwischen dem Erdgeschoss und der ersten Etage lag der Partyraum. An der hölzernen Tür klebte ein Zettel: „Ab 20:00 Uhr reserviert für Geburtstagsparty.“

Es war gerade 19:00 Uhr. Aus dem verschlossenen Aufenthaltsraum drangen bereits ein paar Stimmen, leise Musik und Gläsergeklapper. Der Terrier war nicht zu der Feier eingeladen. Er ging die zweite Treppe hinunter und schaute in seinem Briefkasten nach Post. Auf dem Boden lagen Werbeprospekte für ein Möbelhaus und viele Pizzagutscheine. Dann öffnete er die große Eingangstür und trat in den warmen Winterabend. Der Eingang des Studentenwohnheims war höher gelegen und auf einem Podest neben der Tür saßen zwei rauchende Studenten. Terrier wäre fast an ihnen vorbeigelaufen, wurde dann aber bei seinem Namen gerufen.

„Hey Curry, hab dich gar nicht erkannt“, entschuldigte er sich.

Er kannte Curry nur bei dessen Spitznamen. Den hatte er durch seine legendären Bierpongauftritte verdient. „Curry the sniper“. Für diesen Mann waren perfekte Runden keine Seltenheit. Der Terrier sah Curry selten außerhalb des Partyraumes. Er kannte nicht nur seinen richtigen Namen nicht, sondern wusste auch nicht, was Curry studierte.

Currys Kumpel stellte sich vor, aber der Terrier vergaß seinen Namen in dem Moment, in dem er ausgesprochen wurde.

„Was geht heute Abend bei dir?“, fragte Curry.

„Ich geh jetzt in die Stadt zum Vorglühen und danach gehen wir ins Sägewerk feiern.“

„Nice. Wir haben auch überlegt, ob wir nachher noch hingehen.“

„Seid ihr beim Geburtstag?“

„Jo.“

„Na dann viel Spaß, man sieht sich.“

Der Terrier ging nickend das Podest hinunter. Ein kleiner Pfad führte zum Gehweg. Diesen Winter hatte es wieder nicht geschneit. Doch dafür sehr viel geregnet. Der Weg war gesäumt von Pfützen und der Terrier musste aufpassen, seine weißen Schuhe nicht zu beschmutzen. Der Gehweg führte entlang einer großen Straße, die man auch am Abend nur an der Ampelkreuzung sicher überqueren konnte. Außerdem war am Ende der Straße die Polizeistation von Kandenberg. Die wachsamen Augen des Staates schauten auch auf diese Kreuzung. Der Terrier beobachtete einen unauffälligen Opel Astra, der über die gelbe Ampel fuhr. Sein Blick wanderte ihm nach und er sah, wie das Auto in die Einfahrt des blau angestrichenen Gebäudes fuhr. Terrier erinnerte sich, dass er einmal in der Polizeistation gewesen war. Als Zeuge für eine Schlägerei. Die Vorladung hatte ihm einen freien Tag beschert.

Mit Elif war er vor die Tür des „Sägewerks“ gegangen, sie wollte eine Zigarette rauchen. Der Raucherraum im Club hatte ihr den Atem geraubt. Das „Sägewerk“ war einer von drei Clubs in Kandenberg und lag sehr zentral in der Altstadt, unweit vom Bahnhof. Der Terrier hatte damals gehofft eine Kusschance zu bekommen. Stattdessen küsste ein junger Partygast den Boden. Die Rollsplittsteinchen klebten an seiner aufgeplatzten Lippe. Dann wurde viel geschrien. Der Türsteher war klein. Ohne die Tätowierungen hätte er harmlos ausgesehen. Er wollte den blutenden Partygast nicht so derb schubsen, aber nun war es passiert und er konnte keinen Rückzieher mehr machen. Dafür schauten zu viele zu. Terrier wäre normalerweise nicht zwischen die beiden Streithähne gegangen. Das tat er nur, weil Elif da war und er sie beeindrucken wollte. Mit dem rechten Arm drückte er den kleinen Türsteher weg und mit dem Linken den Partygast. Er spürte wie eine Faust sein Ohr traf. Es tat nicht besonders weh. Das hätte es auch im nüchternen Zustand nicht. Aber Betrunkene mit viel Adrenalin sind quasi unverwundbar. Und wenn die Kraft eines Balzversuches die Muskeln stärkt, lächelt man so eine Faust locker weg.

Der Terrier hatte an diesem Abend zwar seine Uhr dabei, aber das Zeitgefühl verloren. In seiner Erinnerung kamen die Polizisten allerdings ziemlich schnell. Auch ein Krankenwagen fuhr vor das „Sägewerk“. Die blauen Lichter blendeten ihn und er suchte nach Elif. Die war bereits wieder die Treppe des Clubs hinunter gegangen. Der Terrier stand alleine neben Polizisten vom doppelten Türsteherformat. Er wurde befragt und sollte seine Personalien angegeben. Der blutende, junge Mann wurde mit dem Krankenwagen in das Krankenhaus gefahren. Dann löste sich der Menschenpulk vorm Club auf und die aufgehende Sonne stahl den Blaulichtern die Show. Der Terrier schaute auf seine Uhr. Er stellte fest, dass es an der Zeit war ins Bett zu gehen.

„Du bumst heute nicht mehr“, sagte er sich.

Wenn man heimkommt und es schon wieder hell wird, kann das auch ganz schön scheiße sein. Der Tag hat schon begonnen und man selber muss jetzt schlafen gehen. Die zwitschernden Vögel lachen einen aus, weil man allein in Richtung Studentenwohnheim geht.

 

Heute würde der Terrier nicht alleine nachhause gehen, das schwor er sich, obwohl er sein Zimmer nicht aufgeräumt hatte.

Der Terrier ging über die Straße und das Polizeigebäude verschwand aus seinem Blickfeld.

Die Straße, auf der er jetzt lief, führte lange gerade aus, hinein in die Stadt. Doch zunächst über zwei Brücken. Unter einer der Brücken war ein Flüsschen und unter der anderen der ausgetrocknete Stadtgraben. Die Stadtmauer war nicht mehr erhalten. Die moderneren Häuser wichen Umgebinde- und Fachwerkhäusern. Von, mit schwarzen Fensterläden umrahmten, Glasscheiben reflektierte das Licht der Straßenlaternen und blendete in den Augen des Terriers. Der junge Mann benötigte eigentlich eine Brille. Vorhin beim Zocken hatte er diese auch noch aufgehabt, doch damit feiern gehen wollte er nicht. Den Weg kannte er gut genug, um ihn blind ablaufen zu können. Er war nur zwanzig Kilometer von Kandenberg entfernt aufgewachsen. Mit seinen Eltern war er nicht oft hier gewesen, aber doch schon ab und zu. Kandenberg war auf jeden Fall eine Reise wert. Aber nach einem Wochenende hatte man alles Sehenswerte gesehen. Doch selbst wenn Terrier die Strecke nicht schon auf einem Dreirad abgefahren wäre, hätte er den Weg gefunden. Denn schließlich war das der schnellste Weg in die Altstadt und da es nur dort Möglichkeiten gab auszugehen, war es die Pilgerstrecke durstiger Studenten.

Der Terrier sah die Umrisse eines Kinderwagens. Er blieb stehen und ließ die Frau passieren. Der Weg war so schon eng und wurde dazu noch von einem E-Roller versperrt. Die Frau lächelte ihn an. Wenn die Gesichter nah waren, erkannte er sie. Probleme hatte er nur bei Sachen auf langer Sicht. Er wollte nicht wissen, wie oft ihn schon der Ruf eines arroganten Sacks angehängt wurde. Terrier, der Nichtzurückgrüßende. Aber was sollte er denn auch machen, wenn er sie einfach nicht sah? Nicht für jeden Menschen haben Bäume Blätter.

Die hölzernen Stämme am Rand der Straße waren noch überraschend dick angezogen. Der Terrier kniff die Augen zu und meinte sogar einzelne Blüten an den Bäumen zu erkennen. Bunt und Grün waren verschieden. Er machte sich Sorgen, um die Pflanzen. Ein plötzlicher Kälteeinbruch und sie würden hart getroffen werden.

Die Sonne war schon lange unter gegangen, aber es war immer noch warm. Viel zu warm. Bestimmt um die elf Grad Celsius und das in einer Januarnacht. Der Terrier musste den Reißverschluss seiner Jacke aufmachen. Er versuchte nun das Tempo seiner Schritte zu drosseln, um nicht ins Schwitzen zu geraten.

Eine Runde Fifa, ein zehnminütiger Spaziergang oder ein Gespräch mit Elif; der Terrier kam immer schnell ins Schwitzen und das, obwohl er sportlich war.

Auch wenn er nicht wusste, dass Blätter am Baum schön aussahen, war ihm die Natur sehr lieb. Trotzdem konnte er nicht mit dem Rad zur Uni fahren. Denn egal, ob es fünf oder fünfzig Minuten wären; der Terrier würde schwitzen.

Manchmal wünschte er sich ein Raucher zu sein. Dann hätte er nicht nur einen Grund mit Elif vor die Tür zu gehen, dort, wo bekannterweise die besten Gespräche stattfanden, sondern auch einen Grund, um mal eine Pause einzulegen. Sich mal hinzusetzen. In Kandenberg gab es zwar kaum Rentner, dafür aber viele Sitzmöglichkeiten. Dabei gab es in Deutschland eigentlich immer viel zu wenig Sitzmöglichkeiten gab. Sitzmöglichkeiten und öffentliche Frauentoiletten, daran mangelte es in Deutschland am meisten. Doch das war den Terrier egal, denn er rauchte ja nicht und musste an den Betonblöcken nicht stehen bleiben. Gewürfelte Privilegien aus gezinkten Bechern.

Hinter den zwei Blöcken, auf deren Kopf jeweils drei Holzleisten eingelassen waren, erhob sich das Kandenberger Stadtmuseum. 2014 wurde es erneuert und dementsprechend hässlich sah es aus.

Eine überdimensionale Glasfensterwand zog sich quer über zwei Altbauhäuser. Stärkere Disharmonien als beim Kurzhanteltraining des Terriers.

Die Straße machte dann eine leichte Linkskurve, vorbei an einer Grundschule. Die Rollläden waren natürlich schon nach unten gezogen. Schließlich war der Sandmann schon in den Wohnzimmern gewesen und am Wochenende gehörten die Kinder noch mehr als sonst auf die Spielplätze und nicht auf die Schulbänke. Die Straße kreuzte und Terrier musste an der nächsten roten Ampel warten. Er hielt Abstand zu seinen Vordermännern, die ihm mit der lauten Musik und den Bierflaschen in der Hand etwas suspekt vorkamen. Nur deshalb ließ er seinen Blick wandern und entdeckte, dass im zweiten Stock der Schule noch ein Licht brannte. Der Terrier kniff wieder die Augen zusammen, versuchte etwas zu erkennen. Schemenhaft meinte er eine Person durch den Raum flitzen zu sehen. Ob es sich dabei um einen Mann oder um eine Frau handelte, konnte er nicht erkennen. Dass es eine Rolle spielen würde, glaubte er nicht. Abgelenkt von dem Schattenspiel verpasste er die Grünphase. Die leiser werdende Musik war ihm nicht aufgefallen. Ein Opel hupte, da war es aber schon wieder Rot.

„Na, hätte er sich auch sparen können“, dachte sich Terrier.

Er stand jetzt immer noch an der Ampel, diesmal weiter vorne und wartete auf die zweite Grünphase, weil er ein Trottel war. Er schaute sich in der Sorge um, dass auch andere das mitbekommen hatten. Nun ließ er den Blick nicht wandern. Konzentriert wie ein Pferdemädchen in der Grundschule auf der anderen Straßenseite, schaute er auf die Ampel. Es wurde Grün. Der Lichtkegel harmonisierte mit den Weihnachtskränzen, welche ab hier, an jeder Straßenlaterne angebracht waren.

Hinter der Kreuzung begann die Einkaufsstraße von Kandenberg. Überraschend viele Läden hatten sich gehalten und dem Internetbestellmarkt getrotzt. Darunter waren nach der Meinung des Terriers auch richtig unnötige Ramschläden, die sich auf Sachen wie Regenschirme, Socken oder Einlegesohlen aus kubanischen Zwergwachtelfell spezialisiert hatten.

Der Terrier wusste nicht einmal, wo Kuba lag. Zwergwachteln mochte er jedoch, besonders die viereckigen. Bei denen musste man nie Angst haben, dass sie zur Seite fielen.

Über den Läden waren Wohnungen mit winzigen Balkonen. Der Straßenzug war sehr eng und schien auch bei diesem unzauberhaften Wetter etwas Märchenhaftes zu haben. Die Mülleimer waren alle halbvoll und nichts lag auf der Straße. Die Jungs von der Ampel hatten ihre Bierflaschen in die Metallkörbe um den Korb gestellt, denn Pfand gehörte daneben. Der Terrier nahm sich einen Kaugummi aus seiner Jackentasche und blieb in der Mitte der Einkaufspassage stehen. Dann zog er sich die Kopfhörer aus dem Ohr und dachte, in einem kurzen Schockmoment, er hätte die mobilen Daten nicht ausgemacht, denn seine heruntergeladenen Lieblingssongs unterschieden sich von der Playlist „Deutschrap Royal“, im Wesentlichen nur in einmal Phil Collins.

Auf der rechten Seite war das Haus, zu dem er wollte. Er steckte sich den Kaugummi in den Mund und streckte den linken Arm zum Klingeln aus. Dabei bemerkte er, dass seine Uhr zwei Stunden nachging.

Um 17:20 Uhr stand Elif noch unter der Dusche. Obwohl das Bad recht groß war, bot es einige Tücken. Selbst wenn das Fenster geöffnet war, staute sich die warme Luft in dem Raum. Gerade wenn man so lange und so heiß wie Elif duschte, verwandelte sich das Bad in eine kleine Sauna und dementsprechend rutschig wurden die weiß-schwarzen Fliesen. Elif hob das Bein. Sie stieg mit ihrem Fuß auf das Handtuch am Boden. Da die Dusche nicht eben war und einen sehr hohen Einstieg hatte, war der zweite Schritt der gefährlichste. Doch gekonnt und geübt hob sie auch das rechte Bein. Mit einem Handtuch aus ihrem Riminiurlaub trocknete sich Elif ab. Darin eingewickelt öffnete sie vorsichtig die Badtür. Davor saß Theodor Tatze, der Kater ihrer Mitbewohnerin. Er wedelte mit dem Schwanz und schob sich miauend um die Beine von Elif. Die vergewisserte sich, dass Hanna mit ihrem Freund auf ihrem Zimmer war, bevor sie den Flur runter flitzte.

Elifs Zimmer war dreimal so groß, wie die ganze Bude des Terriers. Nun bildeten achtundvierzig Quadratmeter keine Luxuswohnung im eigentlichen Sinne, in Kandenberg war das aber trotzdem kaum zu bezahlen. Deshalb war Elif froh, spendierfreudige Eltern zu haben.

Ihr Fenster zeigte hinaus zur Einkaufspassage. An den Straßenlaternen hingen Weihnachtskränze. Ein paar Nadeln fielen bereits ab. Sie wurden nicht mehr vom Kleber gehalten. Vor dem Fenster stand ihr Schreibtisch. Einen Stuhl hatte und brauchte sie nicht. Sie stand gerne beim Lernen und Arbeiten. „Das sei gut für den Rücken“, sagte sie immer. Sie nahm das Handtuch ab und legte es über den Sessel vor ihrem Fernseher. Hanna und sie hatten auch eine Couch, aber die stand vor dem großen Fernseher im Wohnzimmer.

Sie schaute noch einmal auf ihren Schreibtisch. In der Mitte lag ihr MacBook, rechts daneben stand ein Drucker und links waren in Fächern Ordner verstaut. Stifte hatte sie auf ihren Schreibtisch keine. Sie strich sich mit der Hand über ihren unteren Rücken und spürte wie die Muskelstränge ein Tal bildeten. Die Verstellmechanismen des Schreibtischs funktionierten bestimmt gar nicht mehr.

Elif wollte sich gerade eincremen, da miaute es wieder hinter ihr. Für sie blöderweise, hatte ihre Zimmertür Milchglas in der Mitte. Stand man im Flur, konnte man ihre Umrisse schemenhaft erkennen. Stand man wie sie, in ihrem Zimmer, konnte man erkennen, wie Theodor Tatze vor der Tür wartete. Elif öffnete die seitlich angebrachte Katzenklappe. Der Kater sprang auf das Bett.

Elif machte mit ihrem Handy Musik an, um die Kratzgeräusche von Hanna zu übertönen. „Deutschrap Klassik“ hörte sie da viel lieber. Theodor schien es da ähnlich zu gehen, er kringelte sich auf dem Kopfkissen ein, machte die Augen zu. Elif konnte sich nun ungestört umziehen. Dann setzte sie sich noch kurz zu dem schlafenden Tier.

„Theodor, kann ich so gehen?“, fragte Elif.

Theodor antwortete nicht, da er vom Ausgehen keine Ahnung hatte und ihm der rote Pullover nicht gefiel. Seine Freiheit endete auf dem großen Balkon an der Küche.

Die Küche war ein länglicher Raum, ohne Sitzmöglichkeiten. Elif, Hanna und deren Freund Mark aßen bei schönem Wetter auf dem Balkon. Ansonsten vor dem großen Fernseher im Wohnzimmer. Elif kramte etwas aus ihrer Jackentasche. In ihrem Zimmer hatte sie einen Hutständer zu einer Jackengarderobe umfunktioniert. Hanna und sie gingen an den Wochenenden gerne auf Flohmärkte. Hinter der Polizeistation gab es eine große Halle. Früher gehörte sie der Schuhfabrik von Kandenberg, doch die war schon vor der Jahrtausendwende pleite gegangen. Dann stand die Halle lange leer und wurde erst 2013 restauriert. Nun fanden dort verschiedene Veranstaltungen statt, unter anderem auch Flohmärkte. Hanna und Elif waren schon ein paar Mal dort gewesen und wussten nicht, dass es eine ehemalige Schuhfabrik war. Der Schriftzug aus Eisenlettern über dem mächtigen Torbogen war entfernt wurden. Da sie beide nicht aus Kandenberg kamen, kannten sie die alten Geschichten nicht und deuteten die ungesagten Worte um. Erst ein Instagrampost der Stadt hatte sie darauf aufmerksam gemacht. An dem Tag, an dem Elif den Hutständer gekauft hatte, wurden sie das erste Mal von Mark begleitet. Der bekam dann auch gleich die Aufgabe, den schweren Gegenstand in die Wohnung zu tragen. Einwände hatte er keine. Die Felljacke, aus der Elif gerade ihre Zigarettenschachtel zog, hatte sie auch dort gekauft. Das war allerdings ein spezieller Flohmarkttag gewesen. Auf den Tischen waren nur Frauenkleider ausgelegt. Elif konnte sich noch erinnern, dass Mark, als Begleitung von Hanna, der so ziemlich einzige Mann in der ehemaligen Schuhfabrik gewesen war. Damals hatten sie auch ein Foto gemacht und an das Korkbrett im Flur gehangen. Elif öffnete ihre Milchglaszimmertür und ging an diesem Brett vorbei. Theodor Tatze hob den Kopf und sprang vom Bett hinunter, er folgte seiner Mitbewohnerin und blieb vor dem Brett stehen. Der Kater interessierte sich nur für die vielen Bilder, den Putzplan ließ er unbeachtet. Eigentlich alle Bilder zeigten lachende junge Menschen, fast immer mit Flaschen, Bechern oder Gläsern in der Hand. Häufig hatten die feiernden Studenten auch Partyhüte auf. Ein Bild zeigte den Terrier, wie er Mark und Elif Huckepack nahm.

Das Bild war vor dem Podest des Studentenwohnheimes aufgenommen wurden. Alle drei lachten. Elif an der Spitze hielt sich an einem Fahnenmast fest. Theodor Tatze mochte das Bild. Schnurrend drehte er sich um und sah, dass Elif bereits die Küche durchschritten hatte. In dem Moment, in dem sie die Balkontür öffnete, öffnete sich auch die Zimmertür von Hanna und Elifs Mitbewohnerin schlüpfte ins Bad. Die Katze gesellte sich zu Elif. Die setzte sich auf einen der vier Plastikstühle.

 

Der Tisch war aus Holz, der Balkon aus Beton. Man konnte auf einen Innenhof schauen. An einer Wäschespinne hatte jemand seine Bettlaken vergessen. Sie leuchteten weiß. Elif legte ihren Arm auf die Brüstung, ihr Blick wanderte über die alten Häuser, den mit Kopfsteinen gepflasterten Innenhof, hinzu zu einer Lücke. Links und rechts standen zwei Fachwerkhäuser mit weißen Giebeln und verspielten Fenstern. In der Mitte befand sich eine Garage, die kleiner war als die Häuser und einen Blick auf die Kneipengasse frei gab. Eine Bar reihte sich an die andere. Kandenberg hatte zwei von diesen Gassen. Elif würde heute in die andere gehen. Sie wollte sich gerade eine Zigarette aus ihrer Schachtel ziehen, da öffnete sich die Balkontür wieder. Mark schob das Fliegengitter beiseite und setzte sich Elif gegenüber. Theodor Tatze sprang auf seinen Schoß. Auch wenn es nicht den Anschein machte, so war Hanna der absolute Lieblingsmensch von Theodor.

Er hatte sie sich quasi ausgesucht. Hanna war in einem Dorf an der Nordsee groß geworden. Ihr Kinderzimmerfenster ging zum Deich hinaus. Der Blick war weit, bis eines Tages eine Familie das Grundstück vor Hannas Elternhaus kaufte. Sie brachten Theodor Tatze mit. Das Tier durfte den ganzen Tag herumlaufen, aber wollte das nicht. In neun von zehn Fällen saß er vor der Haustür. Bibbernd auf die Klinke schauend. Der Schuhabtreter bot ihm nur geringen Schutz vor der Kälte. Dem Regen war er ausgesetzt. Hanna konnte sich das nicht gut ansehen. Häufig lockte sie den Kater auf das Grundstück ihrer Eltern, streichelte ihn lange. Ab und an gab sie ihm sogar ein Stückchen Leberwurst. Theodor lernte schnell, dass es auf der anderen Seite schöner war. Dann stritten sich seine Herrchen immer öfter und vergaßen ihn auch am Abend reinzulassen. Eine Katzenklappe gab es nicht, für ihn auch keine Seitliche. Das Pärchen trennte sich und sie zogen aus. Alleine konnten sie das Haus nicht finanzieren. Anscheinend konnten sie sich auch nicht bezüglich des Sorgerechts für Theodor Tatze einigen. Der hatte sich da allerdings schon aus dem Staub gemacht und bei Hanna eingenistet. Jetzt saß er bei ihrem Freund auf dem Schoß und beobachtete ihn argwöhnisch. Er passte auf seine Hanna auf. Zur Warnung holte er ein paar Mal die Krallen aus. Doch Mark war schon versorgt. Er hatte sich nur eine Strickjacke drüber geworfen. Der Hals war frei. Elif erkannte die roten Striemen auf der Haut. Sie beugte sich vor. Mit der Hand fuhr sie über die aufgekratzte Stelle.

„Na, dafür wart ihr aber trotzdem ziemlich laut“, lachte Elif.

Sie zog dann endlich ihre Zigarette aus der Verpackung.

„Du kannst Eine von mir haben“, sagte sie zu Mark. Der war wegen ihrer Bemerkung so rot geworden, dass die Striemen nicht weiter auffielen. Er bedankte sich, war er doch auch nur für die Zigarette „Danach“ herausgekommen. Da es nicht sehr kalt war, verflog der Rauch schnell in der dunkelblauen Luft.

„Du hast dich aber heute hübsch gemacht“, sagte er.

Elif brauchte tatsächlich nur eine Jeans und einen engen Pulli um perfekt auszusehen.

„Ach Dankeschön, wie lieb. Ich werde ja ganz rot“, scherzte sie.

„Wann machst du los?“, fragte Mark.

Elif schaut auf ihr Handy. Es war gerade 18:45 Uhr.

„In einer halben Stunde“, sagte sie dann.

Man hatte das Gefühl sie wollte noch mehr sagen, aber dann öffnete sich die Balkontür zum dritten Mal. Hanna kam heraus und setze sich zu den beiden. Sie selber rauchte nicht. Die WG redete über unverfängliche Themen, Elif schaute oft auf die Uhr. Sie hatte wirklich Lust auszugehen, aber die Zeit schien nicht verstreichen zu wollen. Dann klingelte es endlich und sie verabschiedete sich von Mark und Hanna.

Der Treppenaufgang ihrer Wohnung war leicht verwirrend. Zunächst musste man einen langen L-förmigen Flur hinunter gehen. Eine neue Treppe führte dann zwei Stockwerke hinab. Und dann musste man diesen Weg noch einmal andersherum gehen. Elif ging an einem Fenster vorbei, das wieder auf den Innenhof zeigte und bemerkte eine rote Pflanze auf dem Fensterbrett. Auch wenn Elif meilenweit davon entfernt war Biologie zu studieren, erkannte sie den Weihnachtsstern. Sie wunderte sich, da dieser ihres Wissens, eine teure Pflanze war, der allein im Flur nicht stehen sollte. Wertvolle Sachen waren doch selten allein. Elif hatte beinahe vergessen, dass der Terrier unten auf sie wartete, so schön fand sie die roten und grünen Blätter.

„Ich habe mal ein bisschen den Flur geschmückt. Ich fand ihn zu grau und gerade jetzt in der dunklen Jahreszeit tut so ein Farbtupfer ziemlich gut, nicht?“, sagte eine Frau, die gerade auf Elif zugelaufen kam.

„Ah Hallo, Frau Trauricht, ja so sieht der Flur wirklich schöner aus. Aber ist so ein Weihnachtsstern nicht eine sehr sensible Pflanze. Hoffentlich geht sie hier nicht ein?“, fragte Elif.

„Ich kenne mich mit Pflanzen doch sehr gut aus. Am Kaffeetisch habe ich gerade eine neue Orchidee hingestellt. Dabei fällt mir ein, dass ihr doch mal zu Kaffee und Kuchen vorbeikommen wolltet“, sagte Frau Trauricht.

„Ja Frau Trauricht, das machen wir auch noch. Versprochen. Aber jetzt gerade ist schlecht, ich muss jetzt auch hinunter, weil da jemand auf mich wartet. Ich vergesse die Einladung nicht. Sie haben ja mal gesagt, dass sie und ihr Mann die besten Gärtner*innen in der Stadt waren, davon muss ich mich doch überzeugen“, lachte Elif.

Luna Trauricht lachte auch. Es klang wie ein Taube. Sie war traurig. Jetzt hatte sie sich endlich mal getraut die nette Nachbarin zu fragen und sie hatte die zweite Einladung abgelehnt. Für Luna war das anstrengend gewesen. Sie war noch nie ein Mensch, der gut mit Menschen konnte. Manchmal sammelte man den Mut sinnlos.

Ohne von Frau traurichts Gedanken zu erfahren, ging Elif zur Haustür. Kurz bevor sie die erreichte, öffnete Frau Balg von außen die Tür. Der Schlüssel klapperte noch im Schloss. An dem letzten Ring hing ein abgewetztes Stofftier. Die ältere Dame trug einen Getränkekasten. Elif sah, wie der Terrier hinter dem Rücken von Herrn Balg, der auch eine Kiste hatte, stand und nicht wusste, ob er helfen sollte.

„Warten sie Frau Balg, wir können ihnen helfen“, sie winkte den Terrier zu sich, „sollen die Flaschen in den Keller?“

Frau Balg blieb oben an der Treppe stehen und bedankte sich überschwänglich bei Elif und Terrier. Dann kam Frau Trauricht und sah, wie sich Elif und Frau Balg unterhielten.

„Das sieht gut aus mit deinen Haaren, lass mich mal anfassen“, Elif strich, ohne Gegenwehr vom Terrier zuzulassen, über den kurzgeschorenen Kopf.

Die beiden Studenten gingen nun gemeinsam die Einkaufsstraße entlang.

„Wie geht es Hanna?“, erkundige sich Terrier.

„Die macht sich mit Mark heute einen schönen Pärchenabend. Mittlerweile gehen sie ja fast gar nicht mehr raus. Wir waren dieses Jahr, also genau genommen letztes Jahr, nur einmal auf dem Weihnachtsmarkt. Kannst du dir das vorstellen? Hanna, die Nichtstuende? Früher waren wir ja eigentlich jeden Abend unterwegs. Aber jetzt, macht sie nur noch Sachen mit Mark. Wir kochen ja noch nicht einmal mehr zusammen. Wenigstens die Flohmärkte sind uns geblieben. Schau mal, was sagst du zu der Jacke? Kubanisches Zwergwachtelfell. Habe ich auf dem Flohmarkt hinter der Polizei gekauft. Hat mich nur fünf Euro gekostet. Ich habe die beiden ja gefragt, ob sie heute Abend mitkommen wollen, aber was habe ich denn auch erwartet. Ist ja schon erstaunlich, dass sie am Wochenende da sind. Ich wollte ja eigentlich auch nachhause fahren, musste dann aber heute früh noch etwas für die Hausarbeit machen. Was hast du heute so gemacht?“

Elif und der Terrier waren jetzt ungefähr auf der Hälfte ihrer Strecke und mussten unter einem Baugerüst hindurchgehen. Da ihnen ein Pärchen entgegenkam, mussten sie voreinander laufen.

Das gab Terrier Zeit um nachzudenken.

„Ich bin gestern erst spät ins Bett gekommen und habe deshalb heute ziemlich lange geschlafen. Bin dann erst gegen zwei Uhr wachgeworden, weil Lion mich angerufen hat. Er hat gefragt, ob heute alles klappt. Dann habe ich mir Essen gemacht und bis jetzt gerade habe ich noch für die Uni gelernt“, log der Terrier.

„Du bist aber auch wirklich ein Langschläfer. Was hast du dir zu Essen gemacht? Ich habe heute die selbstgemachten Reispuffer mit Brokkoliauflauf gegessen. Weißt du noch? Die, die dir immer so gut geschmeckt haben. Wenn du denn mal rechtzeitig genug wach geworden bist.“