Wer mutig ist, der kennt die Angst

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Warum passte sich Liu Shao-Chi nicht an?

In seiner jahrzehntelangen Machtherrschaft über ein Viertel der Weltbevölkerung war Mao Tse-Tung für den Tod von 70 Millionen Chinesen verantwortlich. 1958 schloss sich ihm Liu Shao-Chi, die Nummer zwei im Staat, an, der ein Jahr später, 1959, zum Staatspräsidenten neben Mao ernannt wurde.

Anders als bei Mao setzte die durch die Misswirtschaft herbeigeführte Hungersnot Liu Shao-Chi persönlich sehr zu. Als er eines Tages sein Heimatdorf in Hunan besuchte, wurde er hautnah mit dem Elend durch die Begegnung mit seiner eigenen Familie konfrontiert. Auf einem Spaziergang durch das Dorf entdeckte er auf einer Mauer die Aufschrift: »Nieder mit Liu Shao-Chi«. Er spürte, wie die Menschen den Kommunismus hassten – und ihn auch! Den Jungen, der die Mauer beschrieb, nahm Liu persönlich in Schutz. Liu zeigte Verständnis für den kleinen Jungen, der durch die Hungersnot sechs Familienmitglieder verlor und dessen Babybruder im seinem Arm verstarb, als er ohne Erfolg nach einer stillenden Frau suchte. Liu erkannte sein eigenes Mitverschulden für dieses Elend, kniete vor den Dorfbewohnern nieder und entschuldigte sich für die Missherrschaft der Kommunisten.

Von da an war er nur noch von dem Wunsch getrieben, der Landbevölkerung zu helfen. Er stellte sich den Behörden quer und veranlasste, dass der Diebstahl von Lebensmitteln nicht mehr verfolgt wurde, und ging bewusst auf Abstand zu Mao.

Als die Erntezeit näher rückte, war Mao im Begriff die Abgabequoten für Lebensmittel festzulegen. Der couragierte Liu drängte Mao, niedrigere Quoten zu bestimmen. Liu war sich bewusst, dass sein Handeln die Spannungen zwischen ihm und Mao vergrößern würde. Mao musste akzeptieren, dass die Abgabequoten um über 34 Prozent niedriger angesetzt wurden, als er die Zahlen Anfang des Jahres festlegte. Durch Lius Maßnahmen sank die Quote der Hungertoten um 50 Prozent. Trotzdem verhungerten noch weitere zwölf Millionen Menschen. Lius Eifer war aber nicht mehr zu stoppen. 1962 legte er Mao einen Hinterhalt, der die Eindämmung der Hungersnot zum Ziel hatte.

Auf der Konferenz der »Siebentausend« in Peking wollte Mao, dass Liu Maos Rede bei der einzigen Plenarsitzung am 27. Januar 1962 vortrug. Zu Maos Überraschung hielt Liu nicht die geplante Rede. Er hielt eine Rede, die sich davon deutlich unterschied. An diesem besagten 27. Januar nahm Liu Shao-Chi seinen ganzen Mut zusammen. Er wagte es, vor den 7000 Spitzenfunktionären Maos Politik anzugreifen. Liu klärte über die Hungersnot und das herrschende Elend auf. Er regte die Leute an, über Maos Politik kritisch nachzudenken. Lius Rede löste, wie erwartet, stürmische Reaktionen beim Publikum aus. Nun aber wussten die Delegierten, dass der Präsident, Liu, hinter ihnen stand, und äußerten ungeniert ihre Meinung, verurteilten die alte Politik und bestanden darauf, dass diese auf keinen Fall wiederholt werden dürfe! Mao machte sich nun wohl oder übel an die Schadensbegrenzung, damit keiner auf die Idee kam, die Hungersnot mit seiner Person zu verbinden. Er war gedrängt, am 30. Januar 1962 vor versammeltem Saal das erste Mal seit seiner Machtergreifung 1949 Selbstkritik zu üben. Mao war gezwungen, die fatalen Quoten der Lebensmittelabgaben abzuschaffen, die für 1962 und später vorgesehen waren. Millionen von Menschen blieb durch diese Verordnung, die durch Liu ins Rollen gebracht wurde, der Hungertod erspart. Somit wurde das Jahr 1962 zu einem der freiheitlichsten Jahre seit Beginn von Maos Herrschaft.

Doch Liu wusste, dass ihn Mao nicht einfach so davonkommen lassen würde. Der sonst so zurückhaltende Liu blieb sehr leidenschaftlich und sprach oft über die Not des chinesischen Volkes. Währenddessen plante Mao seine Rache.

Während der Kulturrevolution von 1966 bis 1976 versuchte Mao alles, um Liu und seine Familie zu demütigen. Jedes Mal, wenn sich Liu mit Worten zu wehren versuchte, wurde er von den Maoanhängern mit ihren roten Büchern niedergeschlagen. Liu wurde in seinem eigenen Haus gefangen genommen und gequält. Er bewahrte aber dennoch seine Würde: Im Februar 1968 hatte er eine letzte Verteidigungsschrift verfasst, in der er Mao sogar wegen seines diktatorischen Stils in den zwanziger Jahren angriff. Mao war sehr aufgebracht, weil er Lius Willen nicht brechen konnte, und setzte alles daran, Lius Stimme zum Schweigen zu bringen.

Liu wurde mitten in einer Nacht halb nackt in ein Flugzeug nach Kaifeng verfrachtet. Nachdem die Bitten, Liu in ein Krankenhaus aufzunehmen, abgelehnt wurden, verstarb Liu Shao-Chi.

Resümee: Liu Shao-Chi überlegte sich, was wichtig für ihn war. Karriere oder seine Glaubwürdigkeit? Ihm war das Leben seines Volkes mehr wert als die Konsequenzen, die ihn erwarteten. Sein Leitbild blieb seine persönliche Überzeugung. Mit Liebe gegenüber seinem Volk und Mut gegenüber dem Staatspräsidenten Mao konnte Liu die Authentizität aufbringen, die für seine Auflehnung gegen Mao nötig war. Wenn Liu in dieser Schlüsselszene am 29. Januar 1962 nicht so mutig gewesen wäre, hätten noch viele weitere unschuldige Menschen ihr Leben lassen müssen. Er hat sich und seine ganze Existenz bewusst dafür geopfert, dass andere Menschen ein freieres Leben führen konnten.

Sind wir noch fähig zum Mut?

In meinem Institut stelle ich Klienten seit Jahren immer wieder die gleichen drei Fragen:

Was bevorzugen Sie: Freiheit oder Unfreiheit? Alle antworten: Freiheit!

Was bevorzugen Sie: Sicherheit oder Unsicherheit? Alle antworten: Sicherheit!

Was bevorzugen Sie: Mehr Sicherheit, dafür aber eine Einschränkung an Freiheit, oder mehr Freiheit, dafür aber eine Einschränkung an Sicherheit?

80 Prozent antworten: »Mehr Sicherheit, und dafür im Zweifelsfalle lieber eine Einschränkung an Freiheit!«

Wahrscheinlich gehören Sie und ich zu diesen 80 Prozent. Lohnt es sich, mit so gearteten Wesen über Mut und Zivilcourage zu reflektieren?

Der mutige Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer schreibt am 20. Juli 1944 resigniert und von großen Selbstzweifeln geplagt sein Gedicht »Stationen auf dem Wege zur Freiheit«27:

»Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung misstrauisch gegen die Menschen geworden und mussten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht zynisch geworden – sind wir noch brauchbar?«

Auch der Apostel Paulus stöhnt vor mehr als 2000 Jahren schon in seinem Brief an die Römer verzweifelt:

»Wer will mich erlösen von diesem Leibe des Verderbens? Das Gute, das ich im Grunde tun will, tue ich nicht, und das Böse, das ich nicht tun will, tue ich.«

Zählt heute nur noch der Mut von gestern?

Abba Kovner war der Erste, der die Warschauer Juden zum Aufstand gedrängt hatte. Er lebte als Partisan und wirkte im Untergrund. Ruzka Korczak, eine andere Partisanin, schreibt über ihn: »Abba begriff die Wirklichkeit nicht wie ein Gelehrter, der logische Schlüsse zieht, sondern wie ein Prophet. Ein Prophet ist schließlich nichts anderes als ein Mensch, der sich für einen kurzen Augenblick aus der Geschichte löst, um den Weg zu überblicken, der in den Wald hinunterführt.« Am Silvesterabend 1942/​43 hielt er im Wilnaer Ghetto folgende Rede:

»Jedes Volk hat seine Heldengeschichten. Und diese Geschichten geben ihm die Kraft weiterzumachen. Aber sie dürfen nicht nur Vergangenheit sein, Teil unserer uralten Geschichte. Sie müssen auch Teil unseres realen Lebens werden. Wir müssen jetzt, nicht erst später mit unserem Gewissen ins Reine kommen. Was soll die nachfolgende Generation von uns lernen? Es ist besser, als freier Mensch im Kampf zu sterben, als durch die Gnade seines Mörders weiterzuleben! Wenn du nur dich selbst in Sicherheit bringst, kannst du dann einem Kind der nächsten Generation in die Augen sehen, wenn es fragt: ›Was hast du getan, als man unsere Leute zu Tausenden, zu Millionen abschlachtete?‹ Wirst du ihm gerne sagen: Ich habe mich versteckt und deswegen lebe ich noch?«28

In unserer nachfolgenden Generation hört man zwar gerne eben zitierte Geschichte und bestätigt auch ihre Gültigkeit, kommt aber in unserer pluralistischen Situation nicht auf die Idee, sich selbst ins Geschehen miteinzubeziehen. Die mutigen Menschen, die sich durch Integrität, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Suche nach einem Leben in der Wahrheit auszeichnen, werden gar nicht mehr erwähnt. So spüren viele auch keine Anreize mehr, Mut zu praktizieren.

Im Allgemeinen hält man Zivilcourage für etwas Gutes, solange die Herausforderung in der konkreten Alltagssituation nicht selbst zu meistern ist.

»Manche bewundern sie als Tugend bei anderen und in früheren Zeiten, sehen aber nicht ihre heutige Möglichkeit und Notwendigkeit. Vor weltgeschichtlichen Tragödien gab es zwar immer wieder Mahner, aber ihre Anzahl war stets gering und ihr Wort zählte in der Regel erst lange nach ihrem Tod, dann nämlich, wenn sie von der nachfolgenden Generation zu Helden erhoben wurden.«29

Diese überhöhten Helden, die an herausragender Stelle agierten, die Interessen vieler vertraten, das Heft des Handelns fest in der Hand hatten, die nicht zweifelten, die keine Angst hatten, die keine Dummheiten begingen, die einen festen Charakter und Willen hatten, die sich nur für das Gute einsetzten und das Richtige taten, nimmt die Gesellschaft heute nicht mehr so wahr und auch nicht mehr so an.

Hierin liegt aber auch eine Chance. Gerade weil der Held heute nicht mehr gefeiert wird, gerade weil viele Helden nicht mehr gekannt, erkannt und anerkannt werden, sind wir herausgefordert, uns für ein mutiges Leben zu begeistern, ohne dafür Anerkennung zu bekommen.

 

Macht Demokratie Zivilcourage überflüssig?

»Zivilcourage ist die eigentliche Anfangs- und Entstehungstugend unserer Zivilgesellschaft«

Willy Brandt

Willy Brandt beschrieb es treffend: »Zivilcourage ist die eigentliche Anfangs- und Entstehungstugend unserer Zivilgesellschaft. Demokratie ist aus der Zivilcou rage entstanden (oder erstritten, denn sie wurde ja nicht obrigkeitlich angeordnet) und aus ihr lebt die Demokratie. Zivilcourage ist die demokratische Tugend par excellence. Was für eine Diktatur als Bedrohung empfunden wird, ist für die Demokratie das Lebenselixier: Courage, Wachsamkeit, Kritik, Widerspruch, Abweichung, Unbequemlichkeit.«

Helden im traditionellen Sinne braucht es in einer Demokratie kaum. Das Prinzip der Gewaltenteilung und die Medien machen das Parlament darum leider nur allzu oft zum Tummelplatz derer, die nur auf der Bühne die Mutigen spielen können. Für diese Menschen geht es nicht um Leben und Tod, sehr wohl jedoch um ihr politisches und berufliches Überleben.

Dennoch erstarrt eine Demokratie mit einer passiven, desinteressierten und staatsgläubigen Bevölkerung ohne wirklich mutige Menschen. Es geht nicht nur in der Diktatur, sondern auch in der Demokratie darum, wem im Zweifelsfall mehr zu gehorchen ist, dem Staat oder dem Gewissen. Dieses Spannungsfeld hebt auch eine Demokratie nicht auf.

Wenige realisieren, dass unsere Demokratie gefährdet und bedroht ist und durchaus durch Mutige geschützt werden muss. Die Bedrohung der demokratischen Freiheit kommt nicht in erster Linie von den nicht-demokratischen Regierungsformen, weil uns diese Bedrohung präsent ist. Die Bedrohung liegt vielmehr in den marktwirtschaftlichen Zwängen, die unerkannt ihre Expansion vorantreiben können, indem sie demokratische Grundwerte in kleinen Schritten an die Wand drücken. Sie tragen den Gesichtsausdruck der Freiheit, während sie in Wirklichkeit unsere Freiheit und unser Recht auf persönliche Integrität untergraben.

Erhard Eppler erinnert sich an die Nachkriegszeit: Die Amerikaner sagten uns: »Im Nationalsozialismus seien die Menschen um des Staates willen da gewesen, in der Demokratie gebe es den Staat nur um der Menschen willen.« Wir müssen uns fragen, ob diese Aussage heute auch für die von der globalisierten Marktwirtschaft beherrschten Demokratien noch gilt.

Es besteht ein Spannungsfeld zwischen der Freiheit der Demokratie und der Freiheit des Marktes. Ich bin überzeugt, dass die Marktwirtschaft entartet, wenn die Demokratie nicht durch ständige Zivilcourage lebendig gehalten wird.

Früher zeigte sich die Marktwirtschaft – im Bild gesprochen – wie ein Bock, der den Gärtner bei der Gartenarbeit unterstützt hat. Heute haben wir es mit völlig abgehetzten Gärtnern zu tun, die vom Bock durch den Garten gejagt werden! Wenn sich das marktwirtschaftliche System aufgrund vernachlässigter Zivilcourage in der Politik so weiterentwickelt, dann sehe ich langfristig eine Gefahr für den Bestand der Demokratie, weil sich die Freiheit, des Marktes für einige effizienter und effektiver durch eine autoritäre Regierungsform umsetzen lässt. Dann könnte die Zeit zum Handeln bereits abgelaufen sein.

So meint der Basler Unternehmensberater Kasper Müller: »Wichtige Kernelemente einer dauerhaft funktionierenden Demokratie sind das Maß (Metrum, Ausgewogenheit) und der friedliche Ausgleich der Macht. Gerade heute aber verlieren wir das Maß und fördern damit ein gefährliches Machtungleichgewicht.« Gilt der frühere Anspruch der katholischen Kirche »Extra ecclesiam nulla salus« nun in einem anderen Sinn: »Außerhalb der Marktwirtschaft kein Heil«?

Wenn wir uns die amerikanische Unabhängigkeitserklärung vor Augen halten, sollten wir uns überlegen, wie viel uns die Freiheit noch bedeutet, die uns in unseren demokratischen Verfassungen rein theoretisch garantiert ist. »We hold this truth to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their creator with certain unalienable rights, that among these are life, freedom and the pursuit of happiness.«–»Wir halten diese Wahrheiten für offenbar und keines weiteren Beweises bedürftig: dass alle Menschen gleich sind, von Geburt an, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen, unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, zu denen Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören – dass, um diese Rechte zu sichern, Regierungen unter den Menschen eingerichtet sind, welche ihre rechtmäßige Gewalt von der Zustimmung der Regierten herleiten« (Amerikanische Unabhängigkeitserklärung, 1776).

Wir stehen vor der ethisch-politischen Gretchenfrage, ob wir am Anfang dieses Jahrhunderts noch den politischen Willen aufbringen, das unüberbotene, freiheitlich-demokratische Ideal einer Bürgergesellschaft und seine Voraussetzung der Chancengleichheit unter veränderten Umständen neu zu überdenken und Reformen zu seiner Erneuerung anzupacken. Oder ob wir das Ganze unreflektiert der Dominanz des Marktes überlassen?

Der Zeitgeist macht ja bekanntlich blind. Das ungehemmte Treiben der Kapitalgesellschaften, der verschärfte Wettbewerb auf einem globalen Verdrängungsmarkt, der Abbau der sozialen Sicherungssysteme, Überregulierung etc. steigern langsam unmerklich den Druck auf den Einzelnen. Wir haben uns an eine neue Bedrohung unserer demokratischen Freiheit nur deshalb gewöhnt, weil wir ihr täglich begegnen und weil alle involviert sind.

Der scheinbar wachsende Anspruch des »Marktes« auf die Seele der Menschen, ihr Familienleben, ihre Freizeit, ihre Pläne, auf die Frage, wo und wie sie leben sollen, das ist das neue Gesicht des Marktes, das anders ist als früher. Es ist das Werk unserer Zeit, das Werk unserer Gesellschaft, das Werk Ihrer und meiner Hände. Es trägt unsere Handschrift, die Handschrift des vernachlässigten Mutes.

Im Nationalsozialismus hat es Zivilcourage gebraucht: Denn der Nationalsozialismus hat durch seine Dominanz die Werte der Dienstbereitschaft und Treue missbraucht und pervertiert.

Im Sozialismus war Zivilcourage notwendig: Denn der Sozialismus hat ebenso vereinnahmend die Werte soziale Gerechtigkeit, Frieden und Gleichheit durch seinen Freiheit raubenden Machtanspruch missbraucht.

Im Kapitalismus ist Zivilcourage notwendig: Denn der wirtschaftliche Geist missbraucht mit seinem dominanten Anspruch auf die Freiheit des Marktes und das Recht auf Selbstverwirklichung des Einzelnen im Grunde gerade die Werte der persönlichen Freiheit. Der Grund für seine Dominanz liegt in der vernachlässigten Zivilcourage und in dem abhandengekommenen Mut des Einzelnen.

Alle drei Ideologien fordern Anpassung, und deswegen benötigen sie als regulierendes Prinzip Menschen mit Zivilcourage. In der heutigen Epoche ist die Dominanz des Zeitgeistes auf den Einzelnen am besten kaschiert und somit am schwersten erkennbar.

Zivilcourage ist ein Attribut der Freiheit und die wichtigste Voraussetzung zu ihrer Erhaltung. Wo Menschen ihre Eigenverantwortung nicht wahrnehmen oder diese sich abnehmen lassen, leben sie nicht frei, sondern bevormundet.

Heinrich Böll sagt: »Je mehr Bürger mit Zivilcourage unser Land hat, desto weniger Helden brauchen wir einmal.«

Es gibt leider die irrige Auffassung, dass unser heutiges ziviles Leben kein Feld für Bewährung und persönlichen Mut ist. Viele meinen irrtümlich, dass in der Demokratie und der Marktwirtschaft die Tugend des persönlichen Mutes überflüssig sei. Die Gefahren, die mit einer solchen Haltung verbunden sind, haben wir deswegen in diesem Abschnitt benannt.

Unsere Demokratie ist eine repräsentativ verfasste Demokratie.

Dies ermöglicht theoretisch, dass die zu fällenden Entscheidungen qualitativ sehr gut ausfallen können. Dann nämlich, wenn es wirklich die Besten, die Sachkundigsten sind, die sich in den parlamentarischen Gremien versammeln.

Ohne gelebte Zivilcourage verfällt unsere Demokratie in charakterlose Mittelmäßigkeit.

Die Praxis sieht jedoch anders aus. Statt der Herrschaft der Überdurchschnittlichen ist das phantasiemüde, risikoscheue Politmanagement der überdurchschnittlich Durchschnittlichen angeder charakterlosen Mittelmäßigkeit, wo echte Zivilcourage ein Fremdwort ist. Wo aber gelebte Zivilcourage nicht mehr erforderlich ist, wächst die Bedrohung, dass notwendige Innovationen zu lange auf sich warten lassen und dass sich die bestehenden Systeme »dominant« entfalten können. Schon Theodor Fontane (1819 – 1898) prägte den Satz: Am Mute hängt der Erfolg. Der politische Prozess braucht beides: Couragierte Bürger, die sich einmischen, und mutige Parteien und Politiker, die den Bürgern das Zumutbare auch zumuten.

Wenn das Volk in einer so kompliziert gewordenen Welt sich das Mitspracherecht über seine Zukunft erhalten will, dann muss es sich Zivilcourage, Sachkompetenz, Urteil und moralische Sensibilität neu erwerben. Was also macht die Funktionsschwäche der repräsentativen Demokratie unserer Tage aus? Wir haben nicht nur mäßige Parteien, die vor der Komplexität der Probleme einknicken, wir selbst sind auch mäßig geworden, weil wir den Parteien ihre repräsentativen Führungsqualitäten längst nicht mehr überzeugend abverlangen.

Wenn wir unsere Bereitschaft zur Zivilcourage in der Politik nicht behaupten, wird auch unsere Marktwirtschaft, ohne zukunftsorientierte Zivilcourage und Gemeinsinn, zurück in den Raubtierkapitalismus ihrer Anfänge fallen.

Warum sind Situationen, die unseren Mut herausfordern, bedeutungsvoll?

Viel zu viel notwendige Stellungnahme wird nur gedacht und nicht gesagt. Das fördert psychische Fehlentwicklungen, produziert schlechte Stimmungen und belastet permanent Beziehungen. Es ist eine Illusion, zu meinen, bei verbreiteter Lüge und herrschendem Unrecht innere Freiheit, Wahrhaftigkeit und Rechtsgesinnung einfach innerlich einzuschließen und dadurch bewahren zu können. Unrecht, das nicht angegriffen, Unwahrheit, die nicht widerlegt, falsche Vorurteile, die nicht revidiert werden, werden damit legalisiert und weiterverbreitet.30

Kürzlich berichtete mir ein hochbegabter junger Manager eines Deutschen Telekommunikationskonzerns, dass sich sein oberster Chef in einer Führungskräfteveranstaltung erheblich verbal vergriffen hatte. »Ich wusste genau, dass ich widersprechen musste, habe das aber natürlich nicht gemacht aus Rücksicht auf meine Familie, die bei einer möglichen Entlassung als Folge meines Widerspruchs natürlich höchst gefährdet wäre.« Ich antwortete ihm, dass Mut in diesem Moment bedeuten würde, es trotzdem zu tun.

Der Mut, Mut zu praktizieren und nicht nur als Möglichkeit zu denken, ist der Schlüssel zum authentischen Leben und Erleben.

Wer nicht Mut wagt, schlittert in ein reaktives statt proaktives Lebensmuster hinein. Sein Leben besteht mit der Zeit nur noch aus Reaktionen auf die Vorgaben anderer. Er weiß genau, wie er reagieren muss, um nicht aus einem Anpassungsschema zu fallen. Am Anfang spürt er die Fehlentwicklung noch nicht. Viele reaktiv lebende Menschen landen irgendwann im Burnout, weil sie eines Tages die externen Dienstanweisungen an ihr Leben, deren Legitimierung sie zu wenig hinterfragen, nicht mehr erfüllen können. Sie werden älter, die Kräfte lassen nach, die Energieabgaben stehen in keinem Verhältnis mehr zum Nachschub. So werden sie oft zu Getriebenen, und Angst vor Verlust und fehlender Anerkennung prägt ihr Leben. Ähnliche Symptome eines durch vernachlässigten Mut geprägten Lebens sind Langeweile, Überdruss und irgendwann das Gefühl von Sinnlosigkeit. Diesen Menschen passiert nichts Bewegendes, aber durch diese Menschen passiert auch nichts Bewegendes. Sie hinterlassen keine Markenzeichen, keine Spuren.

Nur durch Lebenssituationen, die Mut herausfordern, erkennen wir, welche Menschen in unserer Umgebung Freunde und welche Mitläufer sind. Die Mitläufer werden sich nie zu uns bekennen, wenn sie dadurch in Situationen kommen, die ihnen Nachteile bringen könnten. Es gehört aber zu den schönsten Erfahrungen für den, der einmal außerhalb der Konvention gestanden hat, wenn er einige wenige neue Freunde, die Treue unter Druck bewiesen haben, gewinnt. Er wird für den Verlust vieler oberflächlicher Saisonfreundschaften durch die wenigen verlässlichen Freundschaften reichlich entschädigt.

Halten wir uns auch vor Augen, dass nur Menschen mit Zivilcourage in der Menschheitsgeschichte Türöffner für innovative Entwicklungen waren.

 

Ohne Zivilcourage gegen den Zeitgeist gab es und gibt es keine Innovation.

Mut bedeutet: Nein sagen können, auch wenn das Unrecht von oben kommt, nicht schweigen, wenn ein anderer gedemütigt wird, nicht mitmachen bei Aktionen, die man als unheilvoll erkennt, auch wenn man sich Sympathien verdirbt. Mut bedeutet protestieren, wenn Schwache benachteiligt werden, und ihnen durch unsere spürbare Sympathie Hilfe geben.

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