Buch lesen: «Und in uns der Himmel»

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Und in uns der Himmel

Impressum

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

XIV.

XV.

XVI.

XVII.

XVIII.

XIX.

XX.

XXI.

XXII.

XXIII.

XXIV.

XXV.

XXVI.

XXVII.

XXVIII.

XXIX.

XXX.

XXXI.

XXXII.

XXXIV.

XXXV.

XXXVI.

Johannes Albendorf

Und in uns der Himmel

Roman

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-077-4

E-Book-ISBN: 978-3-96752-575-5

Copyright (2021) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung und Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung eines Bildes von Dope Squad on Unsplash

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149, 28237 Bremen

Überarbeitete Neuauflage

Alle Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

»It’s so deep I don’t think that I can speak about it«

Kate Bush

Für den Heiligen Sankt Martin

I.

Als Priester zu einer Trauung zu fahren ist an und für sich auch in der heutigen Zeit nichts Ungewöhnliches. Die alltäglich hohen Scheidungsraten wären ohne vorherige Eheschließungen schlussendlich nicht möglich – und erstaunlich viele Menschen träumen immer noch davon, sich in einer Kirche und in weiß und mit einem auf der Orgelempore mehr oder weniger tontreffend gejuchzten »Ave Maria« das Ja-Wort zu geben.

Ungewöhnlicher ist es allerdings, wenn man als Priester für diese Hochzeit einige hundert Kilometer zu reisen hat und noch ungewöhnlicher ist es, wenn man zu einer schwulen Trauung fährt. Um keine euphorischen oder abendlanduntergängerischen Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich reise privat. Ich bin nicht als Zelebrant angefragt, wie auch? Meine Mutter Kirche äußerst sich zu derlei Unterfangen immer noch ablehnend, auch wenn zuweilen mildere und humanere Töne in den Äußerungen von einigen einsichtigen Bischöfen und Kardinälen anklingen.

Nun gut.

Ich reise eh inkognito.

Niemand weiß, wohin die Reise geht, ich wohl auch nicht.

Ich werfe einen Blick auf die große, von schmutzigen Tauben verzierte Uhr an der Bahnhofsfassade. Natürlich bin ich viel zu früh aufgebrochen.

Ich kaufe mir in der Buchhandlung einen Thriller und weiß, ich werde ihn nie lesen. Ich kaufe Brötchen und Kaffee und weiß, ich werde vor Aufregung nichts essen und trinken können.

Denn ich fahre zu dir.

Der Zug ist überfüllt und die Klimaanlage pumpt eisige Luft in die Waggons. Surrend und zuckend rasen wir über die Schienen, laut geführte Handygespräche und nervenzersägender Lärm aus Ohrenstöpseln irritieren mich.

Ich bin als Priester nicht zu erkennen. Oder doch? Ich hätte es sein sollen, doch habe ich den Kragen nicht angelegt, das Silberkreuz nicht angesteckt, es wäre gar zu heikel.

In blühender Frische fliegt die Sommerlandschaft vorbei, so schön und flüchtig, dass es weh tut.

Wir fahren in ein Unwetter hinein und warmer Regen donnert herab, er zaubert irre Tröpfchen- und Schlierenmuster an die Scheiben.

Ich trinke nun doch einen Schluck des pappigen Kaffees, der längst kalt geworden ist.

Die Wolken schweigen über der Weite, als sei ihr Werk noch nicht vollendet und weißer Dampf steigt von der Erde auf.

Müsste ich nicht ein Gefühl von Freiheit verspüren?

Ich kann nicht stillsitzen. Ich blättere im Fahrplan und stoße auf den Namen Burggraf. Natürlich. Ich muss lachen, traurig lachen. Dort haben wir uns kennengelernt. Im Priesterseminar. Klassischer geht es nicht. Schwieriger auch nicht.

Und nun, nach all den Jahren, wieder ein Lebenszeichen von dir, ein Brief: An einem gewöhnlichen Morgen die Post sortieren und auf einmal deine Handschrift lesen; sie hat sich meiner Seele eingebrannt wie alles, was mit dir zu tun hat ... meinen Namen also in deiner Schrift. Sofort sah ich dich vor mir, wie du meinen Namen geschrieben hast – und musste lächeln, trotz all meiner Aufregung, in mir hat es seitdem zu zittern begonnen, und es will sich nicht beruhigen.

Ich habe an dem Umschlag gerochen, aber da war nichts, nur Papier, natürlich.

Mein Lächeln verschwand, als ich die Karte aus dem Umschlag zog. Es war die Einladung zu einer Partnerschaftssegnung in Köln.

Zu deiner Partnerschaftssegnung.

II.

Nie werde ich das Gefühl vergessen, das mich jedesmal beim Betreten des Burggrafer Domhügels durchfuhr. Vor allem an jenem ersten Tag vor vielen Jahren, als ich zum Seminar reiste - weder ein schwerer Rucksack noch zwei wuchtige Koffer konnten meine Vorfreude trüben, denn es war, als würde ich in die Dimensionen einer ganz anderen, einer geistigen Welt eintauchen, einer Welt, in der die Uhren langsamer zu ticken schienen und die Zeit nicht in Minuten und Stunden, sondern in Jahrzehnten und Jahrhunderten gemessen wurde.

Zunächst führte mein Weg durch den von hohen Häusern beengten Dominikanergang mit seinen scharfen Kurven und dem glitschigen Kopfsteinpflaster, doch nach der letzten Biegung tat sich ein riesiges Plateau auf: Unvermittelt stand ich vor dem mächtigen und zugleich verspielt wirkenden Burggrafer Dom mit seinen prächtigen Mittelschiffen und dem gotischen Paradies, alles bewacht von einem barocken Türmchen über der Vierung. Paradiesisch auch die dort vorherrschende Stille; der Lärm der Stadt war nur mehr eine Ahnung, vom melancholischen Gesang einer Amsel verweht. Üppig bepflanzte Blumenkübel verströmten einen geradezu verstörend sinnlichen Duft.

Ich ging um die gewaltige Westfassade des Doms herum und da lag es, mein Ziel, das erzbischöfliche Priesterseminar mit der benachbarten katholischen Fakultät.

Mein ganzes Leben schien mit einer meist fließenden Selbstverständlichkeit auf diesen Moment hin gelebt worden zu sein, denn ich war in Gott verliebt, anders kann ich es nicht formulieren – und ich bin es heute noch, trotz allem.

Oder gerade deswegen.

Erfüllt von Vorfreude und gleichzeitig vom Frieden des Ankommenden durchströmt, schleppte ich mein Gepäck durch das blutrot gestrichene Eingangstor des Seminars, welches von einem reich geschmückten Wappen gekrönt war.

In der großen Eingangshalle war die Pförtnerloge unbesetzt und es war kühl. Sofort tat sich eine Tür am hinteren Ende des langen Ganges auf und der Herr Regens trat heraus und begann, wie ein Rollschuhläufer auf mich zuzuschweben.

Einigermaßen erstaunt stellte ich meine Koffer ab. Als Leiter des Priesterseminars ist der Regens eine überaus würdevolle Respektperson, er hat die Oberaufsicht sowohl über die wirtschaftlichen Belange des Seminars als auch für die Beurteilung der Weihekandidaten.

Zudem war Anton Kotulla damals ein Mann in den späten Fünfzigern. Eher von schmaler Statur rollschuhte er also leicht vornübergebeugt auf mich zu, mit den ruckartigen Bewegungen einer Elster, die sich in einer für sie völlig fremden Umgebung verirrt hat und sich nun mit verkrampfter Gesamtmotorik und skeptischen Blicken zurechtzufinden sucht. Sein weißer Haarkranz war von gelblichen Flecken durchzogen und sein Brillengestell war zu filigran für eine grobporige Nase, die aussah, als hätte Hochwürden des öfteren mal eine verpasst bekommen.

Seine rechte Gesichtshälfte verzog sich in Richtung Stirn, was sich mit einigem guten Willen als Willkommenslächeln interpretieren ließ. Ich reichte ihm meine Hand und er wich unmerklich zurück, umfasste sie flüchtig mit geübtem Händedruck.

»Ah, unser letzter Neuzugang! Kommen Sie, ich werde Ihnen ihr Zimmer zeigen. Dort können Sie sich ein bisschen frisch machen, nicht wahr! Um viertel nach sechs findet in der Seminarkirche die Vesper statt und danach treffen wir uns im Refektorium zum Essen. Kommen Sie, kommen Sie!«

Ich wollte ihm folgen – und wäre beinahe ausgerutscht. Endlich verstand ich seine Art der Fortbewegung. Also passte ich mich an und rollschuhte in rhythmischer Eintracht hinter ihm her – bis wir zu einer ausladenden und gerundeten Treppe gelangten und abrupt bremsen mussten. Die Treppe führte zu den Zimmern der Priesteramtskandidaten im zweiten Stock.

»So, da wären wir schon.« Schwungvoll öffnete Kotulla dort oben die hinterste Tür auf der rechten Seite des von der Treppe wegführenden Gangs und breitete seine Arme aus.

»Ich bin gleichsam wie Jesus, der Ihnen die Pforten zum Paradiese öffnet, nicht wahr?!«

Pflichtschuldigst schmunzelte ich über diesen, wie ich fand, überaus anmaßenden Vergleich.

»Das also wird Ihr Zimmer sein. Unsere Stille kann man als klausurmäßig und streng bezeichnen und das ist gut so, denn die Stille ist das Tor zum Himmel.«

Das war mir klar und ich nickte.

»… und das gilt für einen noch unerleuchteten Priesteramtskandidaten natürlich in besonderem Maße!«

Kurz nickte er mir zu und verschloss die Tür – von außen.

Nach einer verdutzten Minute stellte ich mein Gepäck ab und trat als erstes an die große Fensterfront. Alle Zimmer des obersten Stockwerks waren durch einen langen, durchgehenden Balkon miteinander verbunden. Ich trat auf denselbigen und atmete tief durch. Vor meinen Augen tat sich ein fast mediterran flirrender Innenhof auf. Sein plätschernder Brunnen fing die Strahlen der Sonne auf und ein uralter Kastanienbaum flutete beruhigendes Grün bis in die obersten Stockwerke. Ein Rabe saß auf der Balkonrüstung und beobachtete mich mit schräg gelegtem Kopf.

Ich verscheuchte den Vogel und ging wieder hinein, ließ den Sommerwind mein neues Zuhause erkunden: den großen, knarzenden Schrank und das schmale Bett, die Bücherborde und den Schreibtisch, auf dem sich ein Lilienstrauß als Willkommensgruß fand. Über dem Bett hing ein Gemälde des Erzengels Michael und beherrschte den Raum.

Ich entkleidete mich und schlüpfte unter die Dusche im kleinen Badezimmer. Das Wasser rauschte und auf einmal spürte ich jedes Wassermolekül ebenbürtig in mir tosen, wie ein Echo oder vielmehr, als hätte es einen Zwilling oder Spiegel in mir. Ich schüttelte meinen Kopf mit den nassen, blonden Haaren, übersprühte das ganze Bad mit tausenden von Tropfen und als sie die Fliesen und das Spiegelglas herabzufließen begannen, sahen sie aus wie Freudentränen. Ich betrachtete mich im Spiegel und sah einen athletischen, jungen Mann, der studieren würde, viel Sport trieb - und irgendwann heiraten, eine Familie gründen und seine blauen Augen und sein blondes Haar weitervererben würde - so würde jedermann und jederfrau denken oder hoffen – Irrtum! Jahrelanges Schwimmen und Laufen hatten zwar meinen Körper geformt und ich fühlte mich wohl in ihm - dennoch suchte er keine menschliche Ergänzung und ich litt nicht darunter, hatte es selten auch nur bedauert.

Ich rubbelte mich trocken und begann auszupacken, schob als erstes meine Bücher in die Regale, geordnet nach Sachgebieten und persönlicher Vorliebe – Theologie, Spiritualität, Philosophie und Psychologie, Kunst- und Kirchengeschichte, einiges Belletristisches.

Wäsche und Kleidung kamen in den Schrank, die Waschutensilien in das immer noch von Tropfen übersprühte Bad und die leeren Koffer unters Bett. Dann zog ich mich an – und wartete.

Es war so still. Man könnte meinen, allein im Haus zu sein. Um sechs Uhr ging ich in die Seminarkirche.

III.

Jahre später hält mein Zug wieder in Burggraf. Ich starre aus dem Fenster. Du bist längst nicht mehr dort, aber ich reise dennoch zu Dir. Wir haben in dieser Stadt unsere Spuren hinterlassen, auch wenn außer uns niemand mehr darum wissen kann.

Warum aber schickst du mir diese Einladung, nachdem ich jahrelang nichts von dir gehört habe? Zugegeben, es war meine Schuld, dass wir keinen Kontakt mehr miteinander hatten. Aber dennoch: Willst du mich an deiner Freude teilhaben lassen? Oder mir zeigen, was ich verpasst habe? Das ist unnötig, ich weiß es selber.

Und ich weiß, dass du es weißt. Also hast du es wohl einfach gut gemeint.

Hast du?

Durch das Zugfenster sehe ich in der Ferne die Türme des Doms wieder und weiß neben ihnen das Seminar.

Ich sehe mich wieder in der Seminarkirche sitzen, damals, an meinem ersten Abend als Student, in dieser Kirche, in der das Licht tanzte – ohne dass elektrische Lampen eingeschaltet werden mussten. Die beiden Fensterfronten, die eine in bläulichen Tönen gehalten (»die Nacht«), die andere in Rot (»der Tag«), bündelten ihre Strahlen zu einer zartvioletten Flamme in der Mitte des Raumes.

Ich staunte und nahm kaum wahr, wie sich die Kirche auf geschäftige Weise zu füllen begonnen hatte, so mystisch dieses Leuchten. Das Herz des Beters verging in diesem Licht, alle Wünsche und Anliegen wurden von ihm eingesogen und verwandelt.

Gegenüber von mir nahmen zwei Studenten Platz, offensichtlich gehörten auch sie zu den Neuen, so sehr staunten sie angesichts des Lichts. Der links Knieende vertiefte sich sofort ins Gebet. Seine Haare flossen bis zu seinen Schultern und unterstrichen jede seiner Kopfbewegungen. Er trug einen peinlich genau gestutzten Kinnbart und seine grünen Augen waren von einem melancholischen Glanz durchzogen. Jede Gefühlsregung seines Gebets fand im Mienenspiel seines schön geschnittenen Gesichts einen Widerhall.

Der aschblonde, streng gescheitelte Nachbar rechts von ihm hatte zwar pflichtschuldigst seine teigigen Hände gefaltet, aber seine hellgrauen und wimperlosen Augen huschten unruhig hin und her und saugten alles begierig in sich auf. Auf seine gedrungene und überaus rundliche Gestalt war ein Gesicht gepropft, in der die bleiche Haut im starken Kontrast zu seinen tomatenroten Bäckchen und der ebenfalls geröteten Nase stand.

Als der Langhaarige sein Gebet beendet hatte, wurde er sogleich in ein laut geflüstertes Gespräch gezogen. Die ersten Fragen schien er noch mit höflicher Freundlichkeit zu beantworten, doch alsbald zog er seine Stirn unwillig zusammen und schwieg. Was sein Nachbar nicht gelten lassen wollte, er riss seinen Mund mit den spitzen, kleinen Zähnchen weit auf und wollte ihn durch dezente Ellenbogenstöße in die Seite zum Mitkichern animieren.

Es läutete und die Vesper begann.

Die Vesper wurde mit einer Zeit der Stille beendet. Mein Magen unterbrach wiederum die Stille mit einem vernehmlichen Knurren und um mich herum lachten alle. Also ging es zum Refektorium, dem Speisesaal mit wuchtigem Stuck an der Decke und Flügeltüren, deren hoch angebrachte Klinken mir das Gefühl gaben, wieder ein kleines Kind zu sein.

Die gesamte Belegschaft des Seminars begann sich um das Buffet zu gruppieren. Sogleich verstummte alles Scharren und Tuscheln und ein erwartungsvolles und hungriges Schweigen legte sich über die Schar.

Anton Kotulla trat vor: »Meine lieben Brüder und Schwestern, ich will nicht lange reden!«

Ein Seminarist neben mir verdrehte wissend die Augen und ein anderer schien sich daran zu machen, mit seiner altmodischen Taschenuhr die Zeit stoppen zu wollen. Verstohlen sah ich mich nach den genannten »Schwestern« um und entdeckte vier fröhliche Nonnen des Carl Borromäus-Orden; offenkundig kümmerten sie sich um die Belange des Seminars.

»Da steht ihr hier, fromm wie die Erstkommunionkinder ...«

Ich war überrascht über diese allzu gemütvoll erscheinende Wortwahl und ließ meine Blicke über all die Leckereien wandern, entdeckte Salate, Antipasti, warme Speisen und Desserts.

Nach einer mit allerlei Ermahnungen und Wehklagen gespickten halbstündigen Rede wurde ein Glas Sekt kredenzt, welches mir sofort zu Kopf stieg. Endlich eröffnete Kotulla das Buffet und ich setzte mich mit einem vollbeladenen Teller an einen der langen Tische. Zu spät bemerkte ich den kugeligen Mitbruder in spe, er reichte mir, ohne sein geräuschvolles Kauen zu unterbrechen, seine Hand: »Salve, mein Name ist Alexander. Alexander Milz.«

Unter dem Tisch wischte ich unauffällig meine Hand ab.

Er plapperte und kaute weiter: »Na, wenn das Essen immer so ist, lässt es sich hier ja aushalten. Eigentlich wollte ich in Rom studieren. Aber hier gibt es ja auch Frutti di Mare!«

Ich lachte gezwungen (ich hasse Smalltalk), wodurch Alexanders Enthusiasmus jedoch zu meinem Erstaunen unverhältnismäßig befeuert wurde:

»Haha, kennst du den? Was ist eine Predigt?«

Ich zuckte mit den Schultern. Inzwischen hatte sich auch der Langhaarige zu uns gesetzt.

»Ein Schlafmittel für müde Christen!«, prustete Alexander und lachte mit weit aufgerissenem Mund und nickenden Kopfbewegungen. Kneternd erklang hierbei ein nicht näher definierbares Geräusch aus den Tiefen seiner Kehle.

»Entschuldigung, Schwester!«, rief er gleich darauf einer der warmherzigen Nonnen zu. »Gehen Sie doch bitte zur Seite, ich sehe das Fenster nicht ... sonst haben wir eine partielle Nonnenfinsternis!«

»Du willst nach Rom?«, versuchte der Langhaarige ihn zu bremsen.

»Ja, natürlich. Ich trage sogar schon Socken von Gammarelli!«, erklärte Alexander. »Hier« - und erstaunlich behände beugte er sich vor, lupfte seine braune Cordhose und präsentierte stolz die Socken mit dem edlen Schriftzug.

»Wow!«, kam es vom Langhaarigen mit starrer und unbewegter Miene, nur ein kurzes Aufblitzen seiner grünen Augen verriet ihn und er stach seine Gabel in ein Stück Weißwurst. Dann wandte er sich an mich :

»Hallo, ich heiße Jeremias!«

»Und ich Jonas!«

»Lauter Propheten!«, kommentierte Alexander und unterdrückte erfolglos einen Rülpser.

»Und du bist nach dem Borgia-Papst benannt?«

Beinahe hätte er sich verschluckt. Ich widerstand der Versuchung, ihn mit aufgerissenem Mund und nickendem Kopf zum Mitlachen zu animieren. Jeremias erging es ebenso.

Irgendwann wusste ich nicht mehr, mit wem ich über was gesprochen hatte. Es waren zuviele Eindrücke und in meinem Kopf begannen sich die Gesichter und die eventuell dazugehörenden Namen und Geschichten zu verdrehen.

In der Nacht trat ich noch einmal auf meinen Balkon. Das Licht des Vollmonds umhüllte kühl die Kastanie im Hof, schien die alten Dächer und Mauern zu fragen, ob sein Streicheln genehm sei.

IV.

Und so startete meine klerikale Laufbahn. Je mehr ich im ersten Jahr auf dem Seminar lernte, desto intensiver wurde mir klar, was es noch alles zu erforschen gab. Immer weitere Felder taten sich auf, überall. Es war eine Zeit des Erkundens, nicht nur im »Äußeren«, im Studium, sondern auch im »Inneren«, in mir. Ich wollte mich Gott schenken, diese Gewissheit wuchs kontinuierlich mit jedem Tag. Ich hatte keine Zweifel, nur den, ob ich es schaffen, ob ich genügen würde.

Der Tagesablauf war streng strukturiert, was beim Studieren unglaublich half. Der Morgen begann mit der Laudes, gefolgt vom Frühstück und den Vorlesungen in der Fakultät. Im Seminar standen uns eine hervorragend sortierte Bibliothek und ein Lesezimmer mit allen wichtigen Wochenmagazinen und Tageszeitungen zur Verfügung.

»Zur körperlichen Ertüchtigung«, wie es Kotulla mit geschürzten Lippen nannte, befand sich ein herrliches Schwimmbad im Keller des Seminars. Ich nutzte es täglich.

Seltsam, aber wenn ich an das erste Jahr zurückdenke, dann kommen mir vor allem die Witze von Alexander in den Sinn, und ich muss noch heute, im Zug zu Dir, die Augen verdrehen:

»Was ist eine Pastorale?«, so fragte er etwa beim Essen, den Vorgang des gabelnden Schaufelns nur für den Bruchteil einer Sekunde unterbrechend.

Jedermann schüttelte routiniert den Kopf oder zuckte mit den Schultern.

»Die Frau eines Pastors!«, prustete er, wobei sich zu den bereits vorhandenen Soßenspritzern um seinen Teller herum einzelne Kasseler- oder Sauerkrautpartikel drapierten.

Und so ging es weiter: Ein Prälat? Ein katholischer Dompfaff.

Ein Bischof im vollen Ornat? Eine Prozession auf zwei Beinen.

Gott bewahre mich davor, jemals einen dieser Witze zum besten zu geben, und sei es nur aus Verzweiflung!

Alexander war wie ein Vampir, der kein Blut, sondern Energie und letzte Nerven aus den Menschen saugte, und wie alle anstrengenden Menschen war er auf nicht näher beschreibbare Weise omnipräsent. Egal, wo immer ich war, ob ich im Schwimmbad meine Bahnen zog, in meinem Zimmer lernte oder sogar auf meinen Jogging-Runden – immer wieder tauchte Alexander auf und gab einen neuen Prälatenwitz zum besten, zumindest erscheint es mir im Rückblick so. Wo er diesen Unsinn nur herhatte? Ob er das wirklich lustig fand?

Nur wenn der Erzbischof im Seminar weilte, war ich vor Alexander sicher. Dann scharwenzelte er um die ihm mehr oder weniger ausgelieferte Eminenz herum und schnappte begierig Informationen über alles und jeden auf, denn Wissen, so raunte er mir verschwörerisch zu, Wissen sei Macht.

Einmal - da war er allerdings betrunken und hatte »Am Tag als der Regens kam« gesungen - gab er zu, eine Karriere in der Kurie anzustreben. Als ob ihn seine Gammarelli-Socken nicht längst verraten hätten.

Inzwischen war es Winter geworden.

Besonders befreundete ich mich mit Jeremias. Im Gegensatz zu mir empfand er den Ruf, Priester zu sein, nicht vornehmlich als Erfüllung, sondern als Herausforderung. Oft plagten ihn Zweifel und er fragte sich, ob das, was er hier tat, das war, was Gott von ihm wollte. Was, wenn das Ganze ein gewaltiger Irrtum war?

Einmal, als wir von einem unserer langen Spaziergänge zurückkehrten, waberte ein kaltblauer Himmel über dem Domhügel.

»Hast du eigentlich nie Zweifel?« fragte er mich.

»Ganz selten«, antwortete ich. »Ich wollte immer Priester werden, schon als Kind … wenn man das so sagen kann.«

»Ist nicht dein Ernst!«

»Doch! Ich habe schon als Kind das Segnen geliebt. Die Priester haben mich sehr beeindruckt, wie sie den Segen vom Himmel auf die Erde brachten. Für mich drückten diese schönen und würdevollen Handbewegungen wirklich etwas aus und waren keine Attitüde. Umso größer aber mein Erschrecken, als unser Pfarrer in einer Predigt sagte, ein Mangel an Segen wirke auf den Menschen wie ein Mangel an Sonne und an Liebe, ja sogar an Vitaminen!«

»Das hat er gesagt? Mit den Vitaminen?«

»Ja, das verstand doch jeder – sogar ich als Kind. Denn Vitamine stecken in Orangen und wenn ich die nicht esse, würde ich krank werden, so hatte ich es ja schon im Kindergarten gelernt.«

»Bestechend.«

»Ja, nicht wahr? Außerdem hatte ich gelernt, dass der Segen, quasi wie die Orangen, Gutes tun oder Wunder bewirken soll, für die Menschen und für die ganze Schöpfung. Also musste hier gehandelt werden!«

Wir lachten.

»Hey, es war eine Kinderpredigt! Also, ich bin vollkommen ernsthaft durch die Straßen gezogen und habe alles gesegnet, was mir unter die Augen, beziehungsweise Finger gekommen ist. Nichts und niemand war vor mir sicher, weder Mensch noch Tier.«

»Und was haben die Leute gesagt?«

»Einige waren ganz freundlich, sogar gerührt, aber einige waren auch richtig böse. ‚Scheiß-Katholen‘, haben sie mir hinterher gerufen. Selbstverständlich ließ ich mich nicht beirren! Und die Alten und die Tiere schienen auf geheimnisvolle Weise zu verstehen.«

Jeremias blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an.

»Und der Zölibat?«, fragte er unvermittelt.

Über dieses Thema hatten wir noch nie gesprochen, auch im Seminar wurde es - bis zu diesem Zeitpunkt – überaus selten angeschnitten, allenfalls in dezenten Witzen oder in Worten wie »Mysterium«, »Erhabenheit« und »Geschenk«.

»Ja, du meine Güte«, sagte ich, »in jeder Kultur gibt es Zölibatäre, bei den Urvölkern, bei den Buddhisten … Nur hierzulande wird darum so ein Brimborium gemacht.«

»Das ist sicher richtig. Aber wie gehst du persönlich damit um? Ich meine, der Regens behauptet, sogar Selbstbefriedigung sei sündhaft. Doch, das hat er mir gesagt, ich habe ihn gefragt. Und früher, wenn ‚es‘ ihn gejuckt hat, hat er immer einen Apfel gegessen oder eine kalte Dusche genommen!«

»Dann müssten sie ja eine Obstplantage im Innenhof anlegen! Scherz beiseite, das ist doch ein etwas vorkonziliares Priesterbild. Mir fehlt einfach nichts. Ich will den Zölibat nicht nur akzeptieren, sondern ihn wirklich wollen.«

»Hast du es schon einmal getan?«

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Es war mir, für mich überraschend, nun doch etwas peinlich, so direkt gefragt zu werden. Einst hatte ich eine Freundin gehabt, wenn auch nur für ein oder zwei Jahre. Wir hatten geknutscht und uns gestreichelt und so weiter und ich hatte alles ganz nett gefunden, es aber nicht wahnsinnig nötig gehabt ... ich weiß nicht, wie ich das anders ausdrücken soll.

Jeremias drückte die Zigarette aus und wir gingen ins Seminar zurück.

»Wir können über alles reden. Aber das weißt du ja«, sagte er.

Ich nickte.

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