Und in uns der Himmel

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V.

Auch Jeremias würde zu Deiner Segnung kommen. Wir hatten immer noch Kontakt und sahen uns hin und wieder – soweit der Terminplan eines Priesters dies eben zulässt. So wie ich war auch er Priester geworden, geriet aber mit dem Zölibat zuweilen in kleinere Konflikte; sie hatten sich im Laufe der Jahre nicht verringert. Früher hätte ich es nicht für möglich gehalten, aber in den Gemeinden gibt es durchaus Frauen, die es darauf anlegen, einen Priester zu knacken - und sitzt ein Priester erst einmal in seiner Gemeinde fest, ist er diesen Frauen ausgeliefert wie Benedikt XVI. der linksliberalen Presse.

Zum Glück gab es neben dem Regens Kotulla auch andere Lehrer im Seminar. Unser Spiritual hieß Pater Seliger – es hätte keinen treffenderen Namen für ihn geben können. Er war für mich der lebende Beweis dafür, wie der priesterliche Weg zur menschlichen Vervollkommnung führen und wie ein vom Priestertum durchwirktes Leben gelebt werden kann. Aufmerksam und wohlgesonnen behielt er einen jeden von uns im Auge, drängte seine Hilfe aber nicht auf.

Er riet mir, mich nicht zu sehr in den Büchern zu vergraben, nicht zu ehrgeizig zu sein, meine Erfahrungen nicht nur aus dem Gelesenen zu gewinnen, also aus dem, was andere erkannt und aufgeschrieben haben, sondern auch mein eigenes Er-Leben zu beachten. Unsere Religion sei keine Buchreligion, uns gebe der revolutionäre Glaube Zuversicht, dass Gott mit uns Kontakt aufnehmen will und sich nach uns sehnt – aber wir müssten, könnten und dürften ihm auch die Chance geben, uns anzusprechen, denn seine Stimme sei leise, und es sei eine Lebenskunst, ihr in Geist und Herz zu lauschen.

»Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen« - Ich habe dieses Zitat des Philosophen Wittgenstein oft beherzigt, gerade wenn es um eigene Glaubenserlebnisse ging und geht. Sie sind oft zu groß, um in Worte gefasst zu werden, zu tief, zu erschütternd oder zu leise; die hochentwickelte menschliche Sprache scheint zu profan, das menschliche Vorstellungsvermögen zu eindimensional, um dieser Schönheit einen angemessenen Ausdruck verleihen zu können.

Ich selber fühle mich manchmal unangenehm berührt, wenn gar zu schwärmerisch von spirituellen Einsichten geschwärmt wird. Gott wird so oft als angebliche Begründung für Attentate, Spott, Krieg, Diskriminierung und Unterdrückung missbraucht. Nicht das Gesprochene, sondern die Taten zählen.

Allerdings stehen dem Wittgenstein-Zitat die Worte der Apostel Petrus und Johannes in der Apostelgeschichte entgegen: »Wir können unmöglich schweigen über das, was wir gesehen und gehört haben!«

Es gilt also abzuwägen.

Im Burggrafer Dom liebte ich besonders die Sakramentskapelle. Unbeschadet hatte sie die Bombardierungen im zweiten Weltkrieg überstanden, ihre Kuppel hatte etwas Sphärisches, die Fresken etwas Zauberhaftes: Einst übertüncht waren sie nach all den Jahren wieder freigelegt worden, auf Augenhöhe zwar fast vollkommen verblasst, tönten jedoch zum Scheitelpunkt der Kuppel hin in immer kräftigeren Farben, all die Heiligen und Engel in die Lichtherrlichkeit schauend. Geduldig hatten sie jahrhundertelang unter all der barocken Tünche ausgeharrt.

Sonnenkranzartig umgaben Goldfiligran und Edelsteine die Monstranz, das Allerheiligste und Unbegreiflichste.

Ein sich selbst gebender Gott. Der mein Herz erfüllte, mein ganzes Sein bewegte, der rief, mich rief: Komm! Ja, genau DICH meine ich!

Das ergriff mich zutiefst. Ewig wollte ich in dieser Kapelle bleiben; die Stunden in ihr sind sicherlich zum Fundament meines ganzen Seins geworden. Ich schaute - und wurde angeschaut. Ich war gemeint.

Nun ja, ich kann mir vorstellen, dass sich nun bestimmt einige Herzen vor Peinlichkeit zusammengezogen haben, die eine oder andere Augenbraue hochgezogen wurde, meine Geschichte nun mit spitzen Fingern in den Händen gehalten wird – denn, nun ja, jede Religiosität erscheint heute prinzipiell irgendwie als verdächtig und jede Beschreibung spiritueller Erfahrungen als obskur, aber so ist es eben: Wenn ein Priester seine Erlebnisse erzählt, muss davon die Rede sein!

VI.

In den Semesterferien des ersten Sommers fuhr ich allein nach Hiddensee. Ich sehnte mich nach dem Meer und hielt es im Inneren des Landes nicht mehr aus. Ich lief den Sandstrand entlang, mit den Füßen in den Wellen, wollte zum Horizont am Ende der Insel gelangen.

Dann lag ich nackt in den Dünen und blickte in von Strandhafer umkränzte Himmelsausschnitte. Ich aß nach Sommer duftende, überreife Pfirsiche. Ihr Saft lief mein Kinn herab, über Hals, Schlüsselbein und Brust, tropfte auf die Seiten meines Buches, von dem ich nicht einmal eine halbe Seite gelesen hatte; überall schienen Sand und Wind und Pfirsichsaft zu sein und ich wurde erregt wie noch nie in meinem Leben. Ich vergrub die Kerne im Sand und musste über die Vorstellung lachen, dass eines Tages in den Dünen Pfirsichbäume mit salzigen Früchten sprießen würden.

Dann sprang ich die Dünen herab und rannte windumtost und nackt - mich kennt hier ja keiner, so dachte ich - in die sich brechenden Wellen des Meeres. Die Gischt spritzte auf und ich ließ mich von der Brandung umgarnen. Das Meer und ich. Es fühlte sich so natürlich an, so vertraut, es drückte sich an mich und wollte meine Nähe, zog sich aber sofort wieder zurück, und es perlte an mir und um mich herum und durch mich hindurch, es erfrischte, trieb, heilte, erhob und überspülte mich und ich überließ mich seinem Tun; seine Wellen machten mich süchtig nach ihrer Berührung und nach ihrer Nähe, ich kam im Meer.

Gereinigt und gesalzen tauchte ich aus dem Wasser auf, schwebte ans Ufer wie ein Phönix aus der Asche – und stand unversehens vor Herrn Gundlach, dem milchigen Vorsitzenden des Kirchenvorstands aus meinem Heimatort, und seiner immer leicht vertrocknet dreinschauenden Ehegattin. Beide in identische Windjacken gehüllt und mit je einem Regenschirm bewaffnet.

Es folgte ein äußerst gezwungenes Gespräch, in welcher Ortschaft man denn wohnen würde – gefolgt von gepressten Ausrufen in »Oh« und »Ah« für die Natur und die Aussicht (womit in beiden Fällen bestimmt nicht ich gemeint war) und – endlich – einem erlösenden »Na, dann noch gute Erholung für Sie.«

Ich ging zurück in die Dünen, zog mir Turnschuhe und Shorts an und lief am Meer entlang bis die Sonne unterging. Ich lief gegen den Wind und spürte keine Erschöpfung – bis ich mich umdrehte. Da fühlte ich mich getragen. Und ausgelaugt.

VII.

Funktioniert habe ich an dem Tag, an dem ich deinen Brief bekam. Ich hatte ihn in die Innentasche meines Jacketts gesteckt, ich wollte dich an meinem Herzen wissen, ich trug dich wie ein Schild mit mir herum.

Regen prasselte auf die Blätter der alten Bäume im Pfarrgarten und nasse Klammheit hatte sich auf die steilen Straßen rund um das Pfarrhaus gelegt. Die Erde schien sich mit feuchtem Dampf verhüllen zu wollen, nur noch transpirieren zu können.

Ich unterrichtete an der Grundschule, verbrannte mir den Mund an heißem Kaffee und musste im Klassenzimmer die grellen Neonröhren anschalten. Eine Stunde, zwei Stunden, an die Themen kann ich mich nicht mehr erinnern, die Kinder höchstwahrscheinlich auch nicht. In der dritten Stunde konnte ich mich nicht mehr konzentrieren und ließ einen Test schreiben. Früher habe ich meine Lehrer für so etwas gehasst.

Und immer dein Brief bei mir, an mir. Es machte mich wuschig, ihn zu spüren, sogar euphorisch - irgendwann hatte ich das irrige Gefühl, zu unserer Segnung zu fahren, zu deiner und meiner, ich wusste, ich verlor den Boden unter den Füßen, musste mich zur Vernunft rufen: Ich – bin - nur - als - Gast – eingeladen! Und das hatte etwas Sadistisches, was ich aber nicht wahrhaben wollte, was ich nicht ertragen konnte, denn ich würde mir das anschauen, was ich selbst versäumt hatte. Ich wusste genau, ich hatte etwas anderes, wunderbares gewählt und bekommen – und dennoch ...

Wenn man vor einer Weggabelung steht und die Kluft betrachtet, die sich vor einem aufgetan hat, zwei miteinander unvereinbare Lebensentwürfe, die man jedoch, aus tiefstem Herzen sehnend, ineinander verschmolzen zu sehen wünscht und sich dann entscheidet, entscheiden muss, entweder gegen das Herz oder gegen den Herrn ... schlussendlich aber gegen beides, weil keine andere Möglichkeiten gelassen werden ...

Immer wieder wird behauptet, wir Priester entschieden uns doch freiwillig für den Zölibat, für diese Art zu leben; schließlich würde niemand gezwungen, Priester zu werden.

Doch wenn man von Gott zum Priesteramt berufen ist, diese Sehnsucht, dieses nie verstummende Rufen im Herzen verspürt und wenn man aus dieser Berufung heraus leben will, zu leben hat – dann kann man nicht anders.

Man muss Priester werden.

Und hofft, glaubt, meint, mit dieser von der Kirche auferlegten Aufgabe umgehen und fertig werden zu können. Sie lieben zu lernen, wie es gelehrt und zuweilen auch vorgelebt wird.

Man verstehe mich nicht falsch – ich glaube, der Zölibat kann für viele Menschen eine Erfüllung sein, er ist es de facto auch. Aber eben nicht für alle, und somit auch nicht für alle Priester.

Und dabei hatte der Tag wie jeder andere begonnen, nichts darauf hingedeutet, dass seine Wellen besonders hoch an meine Küsten schlagen würden.

VIII.

Als ich von Hiddensee zurückkehrte, geriet ich bei Hamburg in einen kilometerlangen Stau. Ein Tiertransporter war umgefallen und tausende von halb-, schein- oder gänzlich toten Hühnern lagen oder dämmerten auf der Autobahn vor sich hin. Flattern konnten die meisten von ihnen längst nicht mehr.

 

Ich würde es nicht rechtzeitig zur Vesper und zum Aperitif schaffen und rief im Seminar an. Jeremias versprach, auf mich zu warten und mir die Tür zu öffnen.

Es war schon nach Mitternacht, als ich endlich ankam. Jeremias schloss die Tür auf und umarmte mich herzlich. Er nahm mir, jeglichen Widerspruch ignorierend, einen Großteil des Gepäcks ab und öffnete mit breitem Grinsen die Tür zu meinem Zimmer. Er hatte einen kleinen, dreigängigen Imbiss auf dem Schreibtisch aufgebaut. Zum Glück gab es kein Huhn.

Wir entkorkten eine Flasche Grauburgunder und redeten über unsere Erlebnisse während der Ferien.

Mit zwölf neuen Anwärtern sei das Seminar nun ziemlich voll, aber Kotulla hätte in seiner Ansprache wieder düstere Zukunftsperspektiven an die barocken Wände geworfen.

‚Bist du wie Petrus?‘, hätte er wieder und wieder donnernd und mit ausgestrecktem Zeigefinger gefragt, auf den Verrat des Apostels anspielend, auf nahezu jeden Menschen im Raum deutend.

»Er gehört halt zu einer anderen Generation«, meinte ich.

»Sie sind damals wahrhaftig durch eine harte Schule gegangen«, stimmte Jeremias zu, »aber er sollte doch auch etwas Freude darüber zeigen, dass zwölf Neue hier anfangen!«

»Es gehört beides dazu, wie immer. Nichts ist ausschließlich«, sagte ich.

»Vielleicht … wahrscheinlich«, antwortete Jeremias.

Jeremias konnte sich nicht verbiegen. Das wusste jeder – und jeder akzeptierte es, sogar Kotulla. Die Wahrhaftigkeit seines Schülers schien ihn zu beeindrucken.

Und dann geschah es, am nächsten Morgen sah ich dich zum ersten Mal. In der Kirche musst du hinter mir gesessen haben, denn du warst mir nicht aufgefallen. Immer wenn ich darüber nachdenke, bin ich überrascht, wie ein einziger Moment imstande ist, ein ganzes Leben zu verändern – und wie wenig man sich dessen in eben diesem Moment bewusst sein kann.

Es geschah auf dem Weg ins Refektorium. Alexander hatte sich an meine Seite gedrängt und schwatzte laut von seinen Ferienerlebnissen in Rom. Vor uns gingen drei oder vier der neuen Studenten, du in ihrer Mitte. Auf einmal drehtest du dich um, blicktest zuerst auf Alexander und dann wanderte dein Blick zu mir. Nur ganz kurz schautest du, ein vielleicht irritiertes Aufblitzen oder Innehalten, dann konzentriertest du dich wieder auf das Gespräch mit deinen Kameraden. Ich hatte zum ersten Mal in deine klaren, braunen Augen gesehen – und fühlte mich mit einem Male so lebendig wie im Meer am Strand von Hiddensee.

Das Frühstück begann und ich sah dich am Tisch der Neuzugänge sitzen. Ich beteiligte mich nicht an den Gesprächen über die Ferien, das kommende Semester, die Erkundung der neuen Fächer und die Vertiefung der alten.

Ich holte meine Bücher und ging zur Philosophievorlesung in die Fakultät hinüber.

Beim Mittagessen saß ich so, dass ich dich nicht sehen konnte. Das würde mir nicht noch einmal passieren!

Am Nachmittag versuchte ich mich aufs Lernen zu konzentrieren.

Am Abend geschah nichts Außergewöhnliches, nicht beim Essen, nicht während der Heiligen Messe, nicht bei einem Spaziergang durch die ins sanfte Abendlicht getauchte Stadt. Im Bett las ich noch in einem Erzählband, war es Thomas Mann, war es Thomas Bernhard?, dann knipste ich das Licht aus und schlief ein und konnte mich am nächsten Morgen nicht an meine Träume erinnern.

Es war, als sei gar nichts geschehen.

Am nächsten Tag aber liefst du im Gang an mir vorüber, offensichtlich wolltest du zum Joggen. Du hattest einen MP3-Player dabei, entferntest den Stöpsel aus deinem linken Ohr, um mich zu grüßen und ich erkannte die Musik, es war Fleetwood Macs »Go your own Way« und ich beeindruckte dich, als ich sagte, es handele sich um die Live-Version von 1979 (mein Bruder hatte sie oft gehört, bis zum Erbrechen, ich erkannte das ekstatische Gitarrensolo).

Da – erst da! - bemerkte ich, wie schön dein Gesicht geschnitten war: Die schwarzen Brauen, die sich leicht ironisch über deine leuchtend braunen Augen wölbten. Und der Mund, dessen Oberlippe leicht vorsprang und sich entspannt und voll geschwungen auf die untere schmiegte; deine Wangenknochen, männlich, aber edel moduliert, und deine vollen, schwarzen Haare, die feine, intelligente Stirn.

Ich schaute.

Zu intensiv - es konnte kein richtiges Gespräch fließen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, nicht einmal meinen Namen konnte ich nennen. Wahrscheinlich habe ich doch etwas gesagt, aber schon während ich es sagte, hatte ich es vergessen.

Du hoffentlich auch.

»Ich bin übrigens Christian«, sagtest du.

Den ganzen Tag über ging mir das Lied nicht mehr aus dem Kopf – und vorher hatte ich es nicht einmal besonders gemocht.

IX.

Am Abend dann, es war nach 21 Uhr, begannen die hebräischen Buchstaben vor meinen Augen zu tanzen. Ich klopfte bei Jeremias und fragte ihn, ob wir noch eine Runde durch die Altstadt drehen wollten? Natürlich entging Alexanders inquisitorischem Spürsinn unser Gespräch auf dem Gang nicht und kaum hatte ich mein Zimmer verlassen, da fragte er scheinheilig, bereits gestiefelt und gespornt aus seiner Türe lugend, ob wir nicht zufälligerweise auch das Verlangen nach ein wenig frischer Luft verspürten?!

Leichter Nieselregen bestäubte die Stadt und dennoch waren die Sommerdüfte noch nicht verflogen. Mit hochgezogenen Schultern liefen wir durch die mittelalterlichen Gassen und kehrten, nicht weit vom Domhügel entfernt, ins Café Rio ein. Bambus an den Wänden, getrocknetes Schilf an der Decke, große geschnitzte Indianerstatuen zwischen den Palmen im ganzen Café.

Wir setzten uns an einen der alten Holztische. Jeremias bestellte ein Weizenbier, Alexander einen Rotwein »mit fruchtigem Abgang« und ich Bitter Lemon. Wir sprachen über die neuesten Ereignisse in der Kirche und über die Bistumspolitik, klammerten aber persönliche und theologische Themen aus – wie immer, wenn Alexander mit von der Partie war.

Die Tür des Cafés flog auf und du kamst herein, begleitet von einem Studenten aus deinem Jahrgang. Ich erkannte dich schon aus dem Augenwinkel heraus an deiner gelb-roten Windjacke. Du grüßtest uns und ihr setztet euch an den einzig frei gebliebenen Tisch, nur durch eine kleine, niedrige Wand aus Bambus von dem unsrigen getrennt.

Unter dem Tisch versuchte ich, Alexanders Knie auszuweichen, es schien bereits überall dort zu sein, wohin ich meine Beine platzieren wollte. Auf einmal hörte ich deine Stimme dicht an meinem Ohr, so warm und humorvoll und dabei gleichzeitig leicht ironisch und schön klingend, ich wollte darin ertrinken. Dabei fragtest du lediglich nach der Getränkekarte auf unserem Tisch.

Übereifrig wollte ich sie dir reichen und stieß dabei mein Glas um, aufzischend spritzte Bitter Lemon über den Tisch und auf Alexanders Oberschenkel. Verlegen reichte ich dir die nun triefende Karte und du lachtest, etwas unsicher, glaube ich.

Der Kellner wischte den Tisch ab, brachte dir ein Becks und mir eine neue Bitter Lemon.

»Christian, das brauchst du nicht«, hörte ich mich sagen, zum ersten Mal sprach ich deinen Namen aus, und er war mir so vertraut, als hätte ich meinen eigenen gesagt.

Dieses Gefühl kannte ich nicht.

Doch du winktest ab, prostetest mir mit deinem Bier zu. Ich spürte es in meinen höchstwahrscheinlich hochrot angelaufenen Ohren und Wangen kribbeln, Jeremias prostete gelassen mit seinem Hefeweizen in die Runde und Alexander müffelte nach Bitter Lemon.

Während der nächsten Tage und Wochen begann ich, bei den Mahlzeiten nach dir Ausschau zu halten und zu hoffen, in der Kirche neben dir sitzen zu können. Ich bemerkte, dass du es bemerktest.

Ich sehe dich noch vor mir, wie du mir zum ersten Mal zulächeltest, ich weiß noch genau, wo es geschah, denn es ist ein heiliger Ort für mich geworden und niemand weiß davon, nicht einmal du!

Im Schwimmbad war ich vor Alexander sicher, zumeist jedenfalls. Von den anderen Studenten wurde es nur selten genutzt, so dass ich dort oft alleine war und diese Einsamkeit genoss.

Es war nicht das Meer, aber in der Sehnsucht nach dem Ozean tanzten abertausend Lichtreflexe im Aquamarinblau. Ich liebte es, sie durch meinen Kopfsprung und meine Schwimmzüge in Bewegung zu setzen, sich erst am Beckenrand brechende Wellenkreise zu erzeugen.

Ich hörte ihr Plätschern und seufzte wohlig auf.

Prompt öffnete sich die Tür zum Schwimmbad mit ihrem Schwipp-Schwapp-Ton.

»Bitte nicht«, dachte ich – und mein Stoßgebet wurde erhört. Kein Alexander trippelte auf feinen Ledersohlen vorsichtig über die Fliesen, nein, du warst es. Überrascht lächeltest du und verschwandest in der Umkleidekabine.

Ich schwamm weiter und gab vor, meine trainierte Gleichmäßigkeit nicht unterbrechen zu wollen. Ich schwamm auch weiter, als du wiederkamst, nur mit einer blauen Badehose bekleidet. Ich konnte deinen Wuchs sehen, deine schlanken, definierten Muskeln, die schwarzen Härchen, kräftig an deinen Beinen, fein an deinen Armen, ich fand alles schön an dir und versuchte, meine Blicke nicht zu lange auf dir ruhen zu lassen.

Du lachtest und riefst irgendetwas von einem Weltrekord, den ich zu erreichen suchte.

Ich kraulte weiter.

Auch du begannst, mit ruhigen Zügen durch das Nass zu gleiten und deine Wellen umspielten meinen Körper, ich ertrug es kaum.

Nach einer Weile schwamm ich an den Beckenrand. Du hieltest neben mir, sahst mich schelmisch an, strecktest deine Hände nach meinen Schultern aus, tauchtest mich unter, es gelang dir, weil ich so überrascht war. Prustend kam ich wieder an die Oberfläche. Du lachtest und tauchtest mich noch einmal unter. Und noch einmal.

Ich musste lachen.

So sehr, wie ich seit Monaten nicht mehr gelacht hatte. Ich konnte gar nicht mehr aufhören, mich selbst auf dem Weg zu meinem Zimmer nicht beruhigen, fühlte mich erfrischt wie noch nie nach einem Bad. Komisch.

Und schön …

X.

Du würdest deine Liebe segnen lassen.

Deine Liebe zu einem anderen Mann. Ein anderer, mir fremder Mensch würde dich halten, dich lieben, dir Trost spenden und Kraft geben, sich dir schenken, ganz und gar. So vieles, was ich aus deinem Leben nicht mehr weiß.

Im Internet hätte ich nach ihm suchen können, ich habe es nicht getan. Ich wollte nichts wissen und nichts sehen, nichts vergleichen. Dabei habe ich seinen Namen geschrieben, als ich dir antwortete, um meine Teilnahme an eurer Feier zu bestätigen. Ich weiß nicht, was er tut, weiß nicht, wie er aussieht, will nicht, dass es ihn gibt.

Morgen also werde ich dich sehen, nach all den Jahren wiedersehen! Was du wohl gerade tust? Ob du gerade auch an mich denkst?

Auf den Plätzen mir gegenüber sitzt ein junges Liebespaar und ich sehe in ihren Augen das, was ich einst in deinen Augen gesehen habe und was du in meinen Augen gesehen haben musst.

Verlegen blicke ich zur Seite, was mir aber nicht viel nützt, denn die Augen der beiden spiegeln sich umso heller in der Fensterscheibe des Zuges und jagen mich von dort aus mit ihrem Leuchten.

Jeder von uns angehenden Priestern war verpflichtet, während seiner Ausbildung eine Art Praktikum im kirchlichen oder sozialen Leben des Bistums zu absolvieren und konnte sich hierfür zwischen Altenheimen, Kindergärten, Krankenhäusern oder Behinderteneinrichtungen entscheiden. Meine Wahl war auf ein Jugendzentrum am östlichen Ende der Stadt gefallen. Die Jugendlichen wurden dort mit ihren Sorgen ernst genommen.

Der Regens hatte auch dir die Liste mit den in Frage kommenden Einrichtungen gegeben und so tauchtest du eines Abends im Jugendzentrum auf. Ich war überrascht, dich plötzlich im Türrahmen zu sehen, in deinen Haaren noch der Wind vom Fahrradfahren.

Eine neue Gruppe für junge Erwachsene war ins Leben gerufen worden und, um einander kennenzulernen, stellten wir uns im Kreise auf. Der Gruppenleiter Cornelius hielt ein grünes, etwas verfilztes Wollknäuel in seinen elfenartigen Händen:

»So, ihr Lieben, jeder sagt seinen Namen, ja, und erzählt ein bisschen was über sich, okay? Woher er kommt, was er sucht, was er sich von der Gruppe hier verspricht. Und dann wirft er das Knäuel zum nächsten.«

 

»Und was machen die Frauen?«, meldete sich ein Mädchen in Batikkleidung und Birkenstocks, klackende Muscheln um den Hals gebunden.

»Die sollen froh sein, dass sie mitmachen dürfen«, sagte Cornelius.

Verdutztes Schweigen in der Runde, lediglich die Schnappatmung der Birkenstock-Frau ließ sich nach ungefähr fünf Sekunden in der Stille vernehmen.

»Ein Scherz, nur ein Scherz«, sagte Cornelius und alle lachten, etwas gezwungen schließlich auch das Mädchen. »Ist doch klar, ich meine alle, tut mir leid, aus Einfachheit sage ich das einfach so, wir sitzen sonst ja doppelt so lange hier und schaffen halb so viel. Also, wie gesagt, mein Name ist Cornelius und ich freue mich auf euch, auf jede und jeden von euch. Ich möchte hier neue Impulse bekommen, gerne auch Hilfestellungen geben.«

Cornelius warf das Knäuel zu dem immer noch leicht verkniffen wirkenden Birkenstock-Mädel. Situativ war dies die einzig mögliche Wahl.

Birte hieß das Mädchen und sie freue sich »im Prinzip« auf die Gemeinschaft der Gruppe, sie hatte die gepiercte Nase voll von Esoterik und Astrologie und suchte nach entscheidenden und tiefen Antworten oder zumindest Fragen, nach »den letzten Dingen«, wie sie es formulierte. Besonders gern wolle sie über die Rolle der Frau in der Kirche diskutieren, sie habe da einige Fragen, aber das nur nebenbei. Ich mochte ihr unsicheres Lächeln.

Sie warf das Knäuel zu Oleg aus Polen. An seinem Revers trug er einen Anstecker mit dem Konterfei Johannes Pauls II.

Zwischen den beiden würde es zu heiteren Diskussionen kommen, soviel war klar.

Oleg warf das Knäuel zu dir. Es fiel zu Boden, kullerte auf dich zu. Du nahmst es, deine linke Augenbraue zog sich ein wenig nervös nach oben, diese Bewegung sollte ich später besonders an dir lieben lernen.

»Ich bin Christian. Ich komme aus dem Priesterseminar und ich suche einen Ort, an dem ich mein Praktikum absolvieren kann und möchte.«

Die Runde schwieg beeindruckt (Oleg) und verunsichert (Birte), man/frau war sich nicht gänzlich im klaren darüber, wie viel Maß an Ehrfurcht (Oleg) und prinzipiellem Argwohn (Birte) einem Priesteranwärter gegenüber angemessen sei.

Und so ging es weiter.

Am Ende der Gruppenstunde ging ich gemeinsam mit Cornelius nach draußen, unterhielt mich noch kurz mit ihm. Du folgtest uns, bliebst bei uns stehen, gabst Cornelius die Hand, bedanktest dich.

»Kommst du wieder?«, fragte er dich. Du wolltest dich noch ein wenig weiter umschauen, sagtest du. Cornelius schloss die Tür und da standen wir, du und ich und ich und du.

Verlegen vergrub ich meine Hände in den Hosentaschen.

»Bist du auch mit dem Fahrrad da? Wollen wir zusammen fahren?«

Es war schon spät geworden. Wir gingen zu den Fahrradständen.

»Mein Rad ist gestohlen!«, rief ich, mehr erstaunt als entrüstet.

Du hattest inzwischen dein Rad aufgeschlossen, richtetest dich auf, kamst zu mir herüber.

»Hier hat es gestanden!«

»Dann setz dich auf meinen Gepäckträger!«, schlugst du vor. Wir betrachteten dein Fahrrad genauer und mussten lachen, denn der Gepäckträger schien nur noch – hochgerechnet!- an eineinhalb Schrauben befestigt zu sein.

Noch heute, im Zug nach Köln, muss ich darüber lächeln, wie komisch wir das fanden.

»Wohl doch keine so gute Idee«, sagtest du schließlich, woraufhin eine kurze Pause intensiven Überlegens folgte.

»Du kannst dich hier auf die Stange setzen! So seitlich, wie es Kinder tun. Das wird schon gehen, komm, wir müssen los!«

Ich setzte mich also auf die Stange, du dich hinter mir auf den Sattel. Wir fuhren leicht schlitternd und schlingernd und lachend los, verstummten erst, als wir unser Gleichgewicht gefunden hatten. Ich spürte deine Arme, die mich umschlossen, während du den Lenker hieltest und, um gut sehen zu können, dein Gesicht über meine rechte Schulter schobst.

Wir fuhren durch die ruhigen Straßen, das Seminar war noch fern und über der nebligen Stadt wölbte sich irgendwo der Sternenhimmel.

Mein Kopf lag an deiner Schulter, es war einfach passiert, ich hatte es nicht bemerkt.

Es war alles so still.

Wir erreichten den Domhügel und bogen in den holprigen Dominikanergang, mussten absteigen.

Was war da geschehen - etwas Neues, Ungewohntes, etwas sehr, sehr Schönes?

Halbschlafversunken vernahm ich am nächsten Morgen ein scharrendes Geräusch und meinte, der große Hibiskus habe wieder einen seiner welk gewordenen Kelche auf die Erde fallen lassen. Schleichende Schritte hörte ich, wie aus einer anderen Welt. Ich sank zurück in Traumlandschaften, aus denen mich wenig später das Klingeln meines Weckers riss.

Sofort stand ich auf, taumelte in die Dusche und hielt zuerst nur meinen Kopf, dann meinen ganzen müden Körper unter den kalten Strahl, verrichtete meine Morgentoilette in immer noch halbwachem Zustand, mit automatisierten Bewegungen.

Erst als ich mich angezogen hatte und zum Morgengebet gehen wollte, bemerkte ich einen DinA-4–Umschlag aus braunem Packpapier vor meiner Tür. Überrascht hob ich ihn auf, wendete ihn in meinen Händen, fand weder Absender noch Adressat.

Ich zog einige Bögen Papier heraus: »Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre an die Bischöfe der katholischen Kirche«.

Überrascht las ich weiter, versuchte, Schlaf und Müdigkeit aus Augen und Geist zu vertreiben. Was mochte das bedeuten? Wurden solche Dokumente neuerdings auf diese Weise im Seminar verteilt? Aber warum - dies war ein altes Schreiben (von 1986!) über die »Seelsorge für homosexuelle Personen«.

Ich begann zu lesen, zunächst überrascht, dann einigermaßen bestürzt über den harschen und rüden Ton, der mit jedem Satz aus den Bögen hervorschoss.

In der Zeit, als Aids zuerst unter den Schwulen zu wüten begann, tausende qualvoll starben und einem frühen Tode ins Angesicht schauen mussten, hatte ihnen die Kongregation solche Sätze um die Ohren gehauen. Ein denkbar schlechter, unsensibler Zeitpunkt, um – vielleicht auch zum Teil notwendige? – Dinge klarzustellen.

Ich legte die Bögen auf meinen Schreibtisch, machte mich auf den Weg zur Kirche und traf Jeremias.

»Hast du auch dieses 1986-er Schreiben der Glaubenskongregation bekommen?«, fragte ich ihn.

»Du hast Post von der Inquisition?!«, scherzte er.

»Ja, so kann man es wohl nennen.«

Ich erzählte ihm von dem Brief und Jeremias meinte, da habe sich jemand bestimmt einen Scherz erlaubt – »Oder ein Versehen«, sagte ich mir und vergaß das Schreiben. Es verschwand in den tiefen Schubladen meines Schreibtischs.

Nur eine leise Irritation blieb. War das die Kirche, die ich kannte – und liebte?

Am Abend gingen wir Studenten des Seminars zu einer Adventsfeier ins Jugendzentrum, du und ich, auch Jeremias, Alexander und noch einige andere. Kotulla hatte uns die Erlaubnis gegeben; offenbar war er der Auffassung, in einem katholischen Jugendzentrum könnten uns keine häretischen Läuse über die klerikalen Lebern laufen.

Zuerst sangen wir, dann hörten wir Musik und die Jugendlichen und jungen Erwachsenen – und auch wir!- begannen zu tanzen. Irgendwann lief »The Power of Love« von Frankie goes to Hollywood. Du saßest neben mir und obwohl du so nah warst, verspürte ich ein unglaublich großes Sehnen nach dir. Ich lehnte meinen Kopf an die Wand und stellte mir vor, es wäre deine Schulter, und schloss meine Augen.

Schnaufend ließ sich Alexander auf den Stuhl zu meiner Linken fallen, er hatte bereits einige Biere zuviel in sich hineingeschüttet.

»Was singen die denn da?«, meckerte er so dicht an meinem Ohr, dass Speicheltröpfchen an meine Wange regneten und mich erschaudern ließen. »The power of love – a furz from above?!?«

Da fingst du neben mir zu lachen an, du konntest so lachen, wie ich noch nie jemanden vor dir je hab lachen hören. Wer konnte so lachen? Du lachtest so laut und ich stimmte ein, aber nur leise schmunzelnd.

Erst weit nach Mitternacht brachen wir im sanften Schein der alten Laternen auf, es hatte zu schneien begonnen, und der Schnee verschluckte unsere Schritte. Diese Altstadtidylle wurde durch Alexander empfindlich gestört: Er war weiter aus dem Rahmen gefallen und dazu übergegangen, lateinische Titel verschiedener päpstlicher Enzykliken vor sich hinzulallen. Jeremias und ich hatten ihn eingehakt. So leise wie nur irgend möglich schlüpften wir ins Seminar und schoben, zogen und stemmten den immer schwerer – weil müder - werdenden Alexander die Treppe rauf. Er war mit seinem Enzykliken-Latein am Ende und inzwischen dazu übergegangen, den – Gott sei Dank tief schlafenden – Regens unflätig als Kot-Ulla zu beschimpfen. Jeremias und ich brachten ihn auf sein Zimmer, setzten ihn auf seine Bettkante und zogen ihm die Schuhe aus.

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