Johann Wolfgang von Goethe: Gesammelte Dramen

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CLAVIGO ihn bei der Hand fassend. Mein Freund, mein Bruder, ich bin in einer schrecklichen Lage. Ich sage dir, ich gestehe dir: Ich erschrak, als ich Marien wieder sah! Wie entstellt sie ist, – wie bleich, abgezehrt! O das ist meine Schuld, meiner Verräterei! –

CARLOS. Possen! Grillen! Sie hatte die Schwindsucht, da dein Roman noch sehr im Gange war. Ich sagte dir's tausendmal, und – aber ihr Liebhaber habt keine Augen, keine Nasen. Clavigo, es ist schändlich! So alles, alles zu vergessen, eine kranke Frau, die dir die Pest unter deine Nachkommenschaft bringen wird, daß alle deine Kinder und Enkel so in gewissen Jahren höflich ausgehen, wie Bettlerslämpchen. – Ein Mann, der Stammvater einer Familie sein könnte, die vielleicht künftig – Ich werde noch närrisch, der Kopf vergeht mir!

CLAVIGO. Carlos, was soll ich dir sagen! Als ich sie wieder sah: im ersten Taumel flog ihr mein Herz entgegen – und ach! – da der vorüber war – Mitleiden – innige, tiefe Erbarmung flößte sie mir ein; aber Liebe – sieh! es war, als wenn mir in der Fülle der Freuden die kalte Hand des Todes übern Nacken führe. Ich strebte, munter zu sein, wieder vor denen Menschen, die mich umgaben, den Glücklichen zu spielen – es war alles vorbei, alles so steif, so ängstlich. Wären sie weniger außer sich gewesen, sie müßten's gemerkt haben.

CARLOS. Hölle! Tod und Teufel! und du willst sie heiraten? –

CLAVIGO steht ganz in sich selbst versunken, ohne zu antworten.

CARLOS. Du bist hin! verloren auf ewig! Leb wohl, Bruder, und laß mich alles vergessen, laß mich mein einsames Leben noch so ausknirschen über das Schicksal deiner Verblendung! Ha! das alles! sich in den Augen der Welt verächtlich zu machen, und nicht einmal dadurch eine Leidenschaft, eine Begierde befriedigen! dir mutwillig eine Krankheit zuziehen, die, indem sie deine innern Kräfte untergräbt, dich zugleich dem Anblick der Menschen abscheulich macht!

CLAVIGO. Carlos! Carlos!

CARLOS. Wärst du nie gestiegen, um nie zu fallen! Mit welchen Augen werden sie das ansehn! Da ist der Bruder, werden sie sagen! das muß ein braver Kerl sein, der hat ihn ins Bockshorn gejagt, er hat sich nicht getraut, ihm die Spitze zu bieten. Ha! werden unsre schwadronierenden Hofjunker sagen, man sieht immer, daß er kein Kavalier ist. Pah! ruft einer und rückt den Hut in die Augen, der Franzos hätte mir kommen sollen! und patscht sich auf den Bauch, ein Kerl, der vielleicht nicht wert wäre, dein Reitknecht zu sein.

CLAVIGO fällt in dem Ausbruch der heftigsten Beängstigung, mit einem Strom von Tränen, dem Carlos um den Hals. Rette mich! Freund! mein Bester, rette mich! Rette mich von dem gedoppelten Meineid, von der unübersehlichen Schande, von mir selbst – ich vergehe!

CARLOS. Armer! Elender! Ich hoffte, diese jugendlichen so Rasereien, diese stürmenden Tränen, diese versinkende Wehmut sollte vorüber sein, ich hoffe, dich als Mann nicht mehr erschüttert, nicht mehr in dem beklemmenden Jammer zu sehen, den du ehemals so oft in meinen Busen ausgeweint hast. Ermanne dich, Clavigo, ermanne dich!

CLAVIGO. Laß mich weinen! Er wirft sich in einen Sessel.

CARLOS. Weh dir, daß du eine Bahn betreten hast, die du nicht endigen wirst! Mit deinem Herzen, deinen Gesinnungen, die einen ruhigen Bürger glücklich machen würden, mußtest du den unseligen Hang nach Größe verbinden! Und was ist Größe, Clavigo? Sich in Rang und Ansehn über andre zu erheben? Glaub es nicht! Wenn dein Herz nicht größer ist als andrer Herzen, wenn du nicht imstande bist, dich gelassen über Verhältnisse hinauszusetzen, die einen gemeinen Menschen ängstigen würden, so bist du mit allen deinen Bändern und Sternen, bist mit der Krone selbst nur ein gemeiner Mensch. Fasse dich, beruhige dich!

CLAVIGO richtet sich auf, sieht Carlos an und reicht ihm die Hand, die Carlos mit Heftigkeit anfaßt.

CARLOS. Auf! auf, mein Freund und entschließe dich. Sieh, ich will alles beiseitesetzen, ich will sagen: Hier liegen zwei Vorschläge auf gleichen Schalen. Entweder du heiratest Marien und findest dein Glück in einem stillen bürgerlichen Leben, in den ruhigen häuslichen Freuden; oder führest auf der ehrenvollen Bahn deinen Lauf weiter nach dem nahen Ziele. Ich will alles beiseitesetzen und will sagen: Die Zunge steht inne, es kommt auf deinen Entschluß an, welche von beiden Schalen den Ausschlag haben soll! Gut! Aber entschließe dicht – Es ist nichts erbärmlicher in der Welt als ein unentschlossener Mensch, der zwischen zweien Empfindungen schwebt, gern beide vereinigen möchte und nicht begreift, daß nichts sie vereinigen kann als eben der Zweifel, die Unruhe, die ihn peinigen. Auf, und gib Marien deine Hand, handle als ein ehrlicher Kerl, der das Glück seines Lebens seinen Worten aufopfert, der es für seine Pflicht achtet, was er verdorben hat, wieder gutzumachen, der auch den Kreis seiner Leidenschaften und Wirksamkeit nie weiter ausgebreitet hat, als daß er imstande ist, alles wieder gutzumachen, was er verdorben hat: und so genieße das Glück einer ruhigen Beschränkung, den Beifall eines bedächtigen Gewissens und alle Seligkeit, die denen Menschen gewährt ist, die imstande sind, sich ihr eigen Glück zu schaffen und Freude den Ihrigen – Entschließe dich; so will ich sagen, du bist ein ganzer Kerl –

CLAVIGO. Einen Funken, Carlos, deiner Stärke, deines Muts.

CARLOS. Er schläft in dir, und ich will blasen, bis er in Flammen schlägt. Sieh auf der andern Seite das Glück und die Größe, die dich erwarten. Ich will dir diese Aussichten nicht mit dichterischen bunten Farben vormalen; stelle sie dir selbst in der Lebhaftigkeit dar, wie sie in voller Klarheit vor deiner Seele standen, ehe der französische Strudelkopf dir die Sinne verwirrte. Aber auch da, Clavigo, sei ein ganzer Kerl, und mache deinen Weg stracks, ohne rechts und links zu sehen! Möge deine Seele sich erweitern und die Gewißheit des großen Gefühls über dich kommen, daß außerordentliche Menschen eben auch darin außerordentliche Menschen sind, weil ihre Pflichten von den Pflichten des gemeinen Menschen abgehen; daß der, dessen Werk es ist, ein großes Ganze zu übersehen, zu regieren, zu erhalten, sich keinen Vorwurf zu machen braucht, geringe Verhältnisse vernachlässiget, Kleinigkeiten dem Wohl des Ganzen aufgeopfert zu haben. Tut das der Schöpfer in seiner Natur, der König in seinem Staate – warum sollten wir's nicht tun, um ihnen ähnlich zu werden?

CLAVIGO. Carlos, ich bin ein kleiner Mensch.

CARLOS. Wir sind nicht klein, wenn Umstände uns zu schaffen machen, nur, wenn sie uns überwältigen. Noch einen Atemzug, und du bist wieder bei dir selber. Wirf die Reste einer erbärmlichen Leidenschaft von dir, die dich in jetzigen Tagen ebensowenig kleiden als das graue Jäckchen und die bescheidene Miene, mit denen du nach Madrid kamst. Was das Mädchen für dich getan hat, hast du ihr lange gelohnt; und daß du ihr die erste freundliche Aufnahme schuldig bist – Oh! eine andre hätte um das Vergnügen deines Umgangs ebensoviel und mehr getan, ohne solche Prätensionen zu machen – und wird dir einfallen, deinem Schulmeister die Hälfte deines Vermögens zu so geben, weil er dich vor dreißig Jahren das Abc gelehrt hat? Nun, Clavigo?

CLAVIGO. Das ist all gut; im ganzen magst du recht haben, es mag also sein; nur, wie helfen wir uns aus der Verwirrung, in der wir stecken? Da gib Rat, da schaff Hülfe, und dann rede!

CARLOS. Gut! Du willst also?

CLAVIGO. Mach mich können, so will ich. Ich habe kein Nachdenken; hab's für mich!

CARLOS. Also denn. Zuerst gehst du, den Herrn an einen dritten Ort zu bescheiden, und alsdann forderst du mit der Klinge die Erklärung zurück, die du gezwungen und unbesonnen ausgestellt hast.

CLAVIGO. Ich habe sie schon, er zerriß und gab mir sie.

CARLOS. Trefflich! Trefflich! Schon den Schritt getan – und du hast mich so lange reden lassen? – Also kürzer! Du schreibst ihm ganz gelassen: Du fändest nicht für gut, seine Schwester zu heiraten; die Ursache könnte er erfahren, wenn er sich heute nacht, von einem Freunde begleitet und mit beliebigen Waffen versehen, da oder dort eins finden wolle. Und somit signiert. – Komm, Clavigo, schreib das! Ich bin dein Sekundant und – es müßte mit dem Teufel zugehen –

CLAVIGO geht nach dem Tische.

CARLOS. Höre! Ein Wort! Wenn ich's so recht bedenke, ist das ein einfältiger Vorschlag. Wer sind wir, um uns gegen einen aufgebrachten Abenteurer zu wagen? Und die Aufführung des Menschen, sein Stand verdient nicht, daß wir ihn für unsersgleichen achten. Also hör mich! Wenn ich ihn nun peinlich anklage, daß er heimlich nach Madrid gekommen, sich bei dir unter einem falschen Namen mit einem Helfershelfer anmelden lassen, dich erst mit freundlichen Worten vertraulich gemacht, dann dich unvermutet überfallen, eine Erklärung dir abgenötigt und sie auszustreuen weggegangen ist – das bricht ihm den Hals; er soll erfahren, was das heißt, einen Spanier mitten in der bürgerlichen Ruhe zu befehden.

CLAVIGO. Du hast recht.

CARLOS. Wenn wir nun aber unterdessen, bis der Prozeß eingeleitet ist, bis dahin uns der Herr noch allerlei Streiche machen könnte, das Gewisse spielten, und ihn kurz und gut beim Kopfe nähmen?

CLAVIGO. Ich verstehe, und kenne dich, daß du Mann bist, es auszuführen.

CARLOS. Nun auch! wenn ich, der ich schon fünfundzwanzig Jahre mitlaufe und dabei war, da den Ersten unter den Menschen die Angsttropfen auf dem Gesichte standen – wenn ich so ein Possenspiel nicht entwickeln wollte! Und somit lässest du mir freie Hand; du brauchst nichts zu tun, nichts zu schreiben. Wer den Bruder einstecken läßt, gibt pantomimisch zu verstehen, daß er die Schwester nicht mag.

CLAVIGO. Nein, Carlos: es gehe, wie es wolle, das kann, das wird ich nicht leiden! Beaumarchais ist ein würdiger Mensch, und er soll in keinem schimpflichen Gefängnisse verschmachten um seiner gerechten Sache willen. Einen andern Vorschlag, Carlos, einen andern!

 

CARLOS. Pah! pah! Kindereien! Wir wollen ihn nicht fressen, er soll wohl aufgehoben und versorgt werden, und so lang kann's auch nicht währen. Denn siehe, wenn er spürt, daß es Ernst ist, kriecht sein theatralischer Eifer gewiß zum Kreuz, er kehrt bedutzt nach Frankreich zurück und dankt auf das höflichste, wenn man ja seiner Schwester ein jährliches Gehalt aussetzen will, warum's ihm vielleicht einzig und allein zu tun war.

CLAVIGO. So sei's denn! Nur verfahrt gut mit ihm!

CARLOS. Sei unbesorgt! – Noch eine Vorsicht! Man kann nicht wissen, wie's verschwätzt wird, wie er Wind kriegt, und er überläuft dich, und alles geht zugrunde. Drum begib dich aus deinem Hause, daß auch kein Bedienter weiß, wohin. Laß nur das Nötigste zusammenpacken. Ich schicke dir einen Burschen, der dir's forttragen und dich hinbringen soll, wo dich die heilige Hermandad selbst nicht findet. Ich hab so ein paar Mauslöcher immer offen. Adieu.

CLAVIGO. Leb wohl!

CARLOS. Frisch! Frisch! Wenn's vorbei ist, Bruder, wollen wir uns laben.

Guilberts Wohnung.

Sophie Guilbert. Marie Beaumarchais, mit Arbeit.

MARIE. So ungestüm ist Buenco fort?

SOPHIE. Das war natürlich. Er liebt dich, und wie konnte er den Anblick des Menschen ertragen, den er doppelt hassen muß?

MARIE. Er ist der beste, tugendhafteste Bürger, den ich je gekannt habe. Ihr die Arbeit zeigend. Mich dünkt, ich mach es so? Ich ziehe das hier ein, und das Ende steck ich hinauf. Es wird gut stehn.

SOPHIE. Recht gut. Und ich will Pailleband zu dem Häubchen nehmen! es kleid't mich keins besser. Du lächelst?

MARIE. Ich lache über mich selbst. Wir Mädchen sind doch eine wunderliche Nation: kaum heben wir den Kopf nur ein wenig wieder, so ist gleich Putz und Band, was uns beschäftigt.

SOPHIE. Das kannst du dir nicht nachsagen; seit dem Augenblick, da Clavigo dich verließ, war nichts imstande, dir eine Freude zu machen.

MARIE fährt zusammen und sieht nach der Tür.

SOPHIE. Was hast du?

MARIE beklemmt. Ich glaubte, es käme jemand! Mein armes Herz! O, es wird mich noch umbringen. Fühl, wie es schlägt, von dem leeren Schrecken!

SOPHIE. Sei ruhig. Du siehst blaß; ich bitte dich, meine Liebe!

MARIE auf die Brust deutend. Es drückt mich hier so. – Es sticht mich so. – Es wird mich umbringen.

SOPHIE. Schone dich!

MARIE. Ich bin ein närrisches, unglückliches Mädchen. Schmerz und Freude haben mit all ihrer Gewalt mein armes Leben untergraben. Ich sage dir, es ist nur halbe Freude, daß ich ihn wiederhabe. Ich werde das Glück wenig genießen, das mich in seinen Armen erwartet; vielleicht gar nicht.

SOPHIE. Schwester, meine liebe Einzige! Du nagst mit solchen Grillen an dir selber.

MARIE. Warum soll ich mich betrügen?

SOPHIE. Du bist jung und glücklich und kannst alles hoffen.

MARIE. Hoffnung! O der süße einzige Balsam des Lebens bezaubert oft meine Seele. Mutige jugendliche Träume schweben vor mir und begleiten die geliebte Gestalt des Unvergleichlichen, der nun wieder der Meine wird. O Sophie, wie reizend er ist! Seit ich ihn nicht sah, hat er – ich weiß nicht, wie ich's ausdrücken soll – es haben sich alle großen Eigenschaften, die ehemals in seiner Bescheidenheit verborgen lagen, entwickelt. Er ist ein Mann worden, und muß mit diesem reinen Gefühle seiner selbst, mit dem er auftritt, das so ganz ohne Stolz, ohne Eitelkeit ist, er muß alle Herzen wegreißen. – Und er soll der Meinige werden? – Nein, Schwester, ich war seiner nicht wert – Und jetzt bin ich's viel weniger!

SOPHIE. Nimm ihn nur und sei glücklich! – Ich höre deinen Bruder!

Beaumarchais kommt.

BEAUMARCHAIS. Wo ist Guilbert?

SOPHIE. Er ist schon eine Weile weg; lang kann er nicht mehr ausbleiben.

MARIE. Was hast du, Bruder? – Aufspringend und ihm um den Hals fallend. Lieber Bruder, was hast du?

BEAUMARCHAIS. Nichts! Laß mich, meine Marie!

MARIE. Wenn ich deine Marie bin, so sag mir, was du auf dem Herzen hast!

SOPHIE. Laß ihn! Die Männer machen oft Gesichter, ohne just was auf dem Herzen zu haben.

MARIE. Nein, nein. Ich sehe dein Angesicht nur wenige Zeit; aber schon drückt es mir alle deine Empfindungen aus, ich lese jedes Gefühl dieser unverstellten, unverdorbenen Seele auf deiner Stirne. Du hast etwas, das dich stutzig macht. Rede, was ist's?

BEAUMARCHAIS. Es ist nichts, meine Lieben. Ich hoffe, im Grunde ist's nichts. Clavigo –

MARIE. Wie?

BEAUMARCHAIS. Ich war bei Clavigo. Er ist nicht zu Hause.

SOPHIE. Und das verwirrt dich?

BEAUMARCHAIS. Sein Pförtner sagt, er sei verreist, er wisse nicht, wohin; es wisse niemand, wie lange. Wenn er sich verleugnen ließe! Wenn er wirklich verreist wäre! Wozu das? Warum das?

MARIE. Wir wollen's abwarten.

BEAUMARCHAIS. Deine Zunge lügt. Ha! Die Blässe deiner Wangen, das Zittern deiner Glieder, alles spricht und zeugt, daß du das nicht abwarten kannst. Liebe Schwester! Er faßt sie in seine Arme. An diesem klopfenden, ängstlich bebenden Herzen schwör ich dir. Höre mich, Gott, der du gerecht bist! Höret mich an, alle seine Heiligen! Du sollst gerächt werden, wenn er – die Sinne vergehn mir über dem Gedanken – wenn er rückfiele, wenn er doppeltes gräßliches Meineids sich schuldig machte, unsers Elends spottete – Nein, es ist, es ist nicht möglich, nicht möglich – Du sollst gerächt werden!

SOPHIE. Alles zu früh, zu voreilig. Schone ihrer, ich bitte dich, mein Bruder!

MARIE setzt sich.

SOPHIE. Was hast du? du wirst ohnmächtig.

MARIE. Nein, nein. Du bist gleich so besorgt.

SOPHIE reicht ihr Wasser. Nimm das Glas!

MARIE. Laß doch! wozu soll's? – Nun meinetwegen, gib her.

BEAUMARCHAIS. Wo ist Guilbert? Wo ist Buenco? Schick nach ihnen, ich bitte dich. Sophie ab. Wie ist dir, Marie?

MARIE. Gut, ganz gut! Denkst du denn, Bruder –?

BEAUMARCHAIS. Was, meine Liebe?

MARIE. Ach!

BEAUMARCHAIS. Der Atem wird dir schwer?

MARIE. Das unbändige Schlagen meines Herzens versetzt mir die Luft.

BEAUMARCHAIS. Habt ihr denn kein Mittel? Brauchst du nichts Niederschlagendes?

MARIE. Ich weiß ein Mittel, und darum bitt ich Gott schon lange.

BEAUMARCHAIS. Du sollst's haben, und ich hoffe, von meiner Hand.

MARIE. Schon gut.

Sophie kommt.

SOPHIE. Soeben gibt ein Kurier diesen Brief ab; er kommt von Aranjuez.

BEAUMARCHAIS. Das ist das Siegel und die Hand unsers Gesandten.

SOPHIE. Ich hieß ihn absteigen und einige Erfrischungen zu sich nehmen; er wollte nicht, weil er noch mehr Depeschen habe.

MARIE. Willst du doch, Liebe, das Mädchen nach dem Arzte schicken?

SOPHIE. Fehlt dir was? Heiliger Gott! was fehlt dir?

MARIE. Du wirst mich ängstigen, daß ich zuletzt kaum traue, ein Glas Wasser zu begehren – Sophie! – Bruder! – Was enthält der Brief? Sieh, wie er zittert! wie ihn aller Mut verläßt!

SOPHIE. Bruder, mein Bruder!

BEAUMARCHAIS wirft sich sprachlos in einen Sessel und läßt den Brief fallen.

SOPHIE. Mein Bruder! Sie hebt den Brief auf und liest.

MARIE. Laß mich ihn sehn! ich muß – Sie will aufstehn. Weh! Ich fühl's. Es ist das Letzte. Schwester, aus Barmherzigkeit den letzten schnellen Todesstoß! Er verrät uns!

BEAUMARCHAIS aufspringend. Er verrät uns! An die Stirn schlagend und auf die Brust. Hier! hier! es ist alles so dumpf, so tot vor meiner Seele, als hätt ein Donnerschlag meine Sinne gelähmt. Marie! Marie! du bist verraten! – und ich stehe hier! Wohin? – Was? – Ich sehe nichts, nichts! keinen Weg, keine Rettung! Er wirft sich in den Sessel.

Guilbert kommt.

SOPHIE. Guilbert! Rat! Hülfe! Wir sind verloren!

GUILBERT. Weib!

SOPHIE. Lies! Lies! Der Gesandte meldet unserm Bruder: Clavigo habe ihn peinlich angeklagt, als sei er unter einem falschen Namen in sein Haus geschlichen, habe ihm im Bette die Pistole vorgehalten, habe ihn gezwungen, eine schimpfliche Erklärung zu unterschreiben; und wenn er sich nicht schnell aus dem Königreiche entfernt, so schleppen sie ihn ins Gefängnis, daraus ihn zu befreien der Gesandte vielleicht selbst nicht imstande ist.

BEAUMARCHAIS aufspringend. Ja, sie sollen's! sie sollen's! sollen mich ins Gefängnis schleppen. Aber von seinem Leichname weg, von der Stätte weg, wo ich mich in seinem Blute werde geletzt haben. – Ach! der grimmige, entsetzliche Durst nach seinem Blute füllt mich ganz. Dank sei dir, Gott im Himmel, daß du dem Menschen mitten im glühenden unerträglichsten Leiden ein Labsal sendest, eine Erquickung! Wie ich die dürstende Rache in meinem Busen fühle! wie aus der Vernichtung meiner selbst, aus der stumpfen Unentschlossenheit mich das herrliche Gefühl, die Begier nach seinem Blute herausreißt, mich über mich selbst reißt! Rache! Wie mir's wohl ist! wie alles an mir nach ihm hinstrebt, ihn zu fassen, ihn zu vernichten!

SOPHIE. Du bist fürchterlich, Bruder.

BEAUMARCHAIS. Desto besser. – Ach! Keinen Degen, kein Gewehr! Mit diesen Händen will ich ihn erwürgen, daß mein die Wonne sei! ganz mein eigen das Gefühl: ich hab ihn vernichtet!

MARIE. Mein Herz! Mein Herz!

BEAUMARCHAIS. Ich habe dich nicht retten können, so sollst du gerächet werden. Ich schnaube nach seiner Spur, meine Zähne gelüstet's nach seinem Fleisch, meinen Gaumen nach seinem Blut. Bin ich ein rasendes Tier geworden? Mir glüht in jeder Ader, mir zuckt in jeder Nerve die Begier nach ihm! – Ich würde den ewig hassen, der mir ihn jetzt mit Gift vergäbe, der mir ihn meuchelmörderisch aus dem Wege räumte. O hilf mir, Guilbert, ihn aufsuchen! Wo ist Buenco? Helft mir ihn finden!

GUILBERT. Rette dich! Rette dich! Du bist außer dir.

MARIE. Fliehe, mein Bruder!

SOPHIE. Führ ihn weg, er bringt seine Schwester um.

Buenco kommt.

BUENCO. Auf, Herr! Fort! Ich sah's voraus. Ich gab auf alles acht. Und nun! man stellt Euch nach, Ihr seid verloren, wenn Ihr nicht im Augenblick die Stadt verlaßt.

BEAUMARCHAIS. Nimmermehr! Wo ist Clavigo?

BUENCO. Ich weiß nicht.

BEAUMARCHAIS. Du weißt's. Ich bitte dich fußfällig, sag mir's!

SOPHIE. Um Gottes willen, Buenco!

MARIE. Ach! Luft! Luft! Sie fällt zurück. Clavigo!

BUENCO. Hülfe, sie stirbt!

SOPHIE. Verlaß uns nicht, Gott im Himmel! – Fort, mein Bruder, fort!

BEAUMARCHAIS fällt vor Marien nieder, die ungeachtet aller Hülfe nicht wieder zu sich selbst kommt. Dich verlassen! Dich verlassen!

SOPHIE. So bleib, und verderb uns alle, wie du Marien getötet hast! Du bist hin, o meine Schwester! durch die Unbesonnenheit deines Bruders.

BEAUMARCHAIS. Halt, Schwester!

SOPHIE spottend. Retter! – Rächer! – Hilf dir selber!

BEAUMARCHAIS. Verdien ich das?

SOPHIE. Gib mir sie wieder! Und dann geh in Kerker, geh aufs Martergerüst, geh, vergieße dein Blut, und gib mir sie wieder!

BEAUMARCHAIS. Sophie!

SOPHIE. Ha! und ist sie hin, ist sie tot – so erhalte dich uns! Ihm um den Hals fallend. Mein Bruder, erhalte dich uns! unserm Vater! Eile, eile! Das war ihr Schicksal! Sie hat's geendet. Und ein Gott ist im Himmel, dem laß die Rache.

BUENCO. Fort! fort! Kommen Sie mit mir, ich verberge Sie bis wir Mittel finden, Sie aus dem Königreiche zu schaffen.

BEAUMARCHAIS fällt auf Marien und küßt sie. Schwester! Sie reißen ihn los, er faßt Sophien, sie macht sich los, man bringt Marien weg, und Buenco mit Beaumarchais ab.

Guilbert. Ein Arzt.

SOPHIE aus dem Zimmer zurückkommend, darein man Marien gebracht hat. Zu spät! Sie ist hin! Sie ist tot!

GUILBERT. Kommen Sie, mein Herr! Sehen Sie selbst! Es ist nicht möglich! Ab.

Fünfter Akt

Straße vor dem Hause Guilberts. Nacht.

Das Haus ist offen. Vor der Türe stehen drei in schwarze Mantel gehüllte Männer mit Fackeln. Clavigo, in einen Mantel gewickelt, den Degen unterm Arm, kommt. Ein Bedienter geht voraus mit einer Fackel.

CLAVIGO. Ich sagte dir's, du solltest diese Straße meiden.

BEDIENTER. Wir hätten einen gar großen Umweg nehmen müssen, und Sie eilen so. Es ist nicht weit von hier, wo Don Carlos sich aufhält.

 

CLAVIGO. Fackeln dort?

BEDIENTER. Eine Leiche. Kommen Sie, mein Herr.

CLAVIGO. Mariens Wohnung! Eine Leiche! Mir fährt ein Todesschauer durch alle Glieder. Geh, frag, wen sie begraben?

BEDIENTER geht zu den Männern. Wen begrabt ihr?

DIE MÄNNER. Marien Beaumarchais.

CLAVIGO setzt sich auf einen Stein und verhüllt sich.

BEDIENTER kommt zurück. Sie begraben Marien Beaumarchais.

CLAVIGO aufspringend. Mußtest du's wiederholen, Verräter! Das Donnerwort wiederholen, das mir alles Mark aus meinen Gebeinen schlägt!

BEDIENTER. Stille, mein Herr, kommen Sie! Bedenken Sie die Gefahr, in der Sie schweben!

CLAVIGO. Geh in die Hölle! ich bleibe.

BEDIENTER. O Carlos! O daß ich dich fände, Carlos! Er ist außer sich! Ab.

Clavigo. In der Ferne die Leichenmänner.

CLAVIGO. Tot! Marie tot! Die Fackeln dort! ihre traurigen Begleiter! – Es ist ein Zauberspiel, ein Nachtgesicht, das mich erschreckt, das mir einen Spiegel vorhält, darin ich das Ende meiner Verrätereien ahndungsweise erkennen soll. – Noch ist es Zeit! Noch! – Ich bebe, mein Herz zerfließt in Schauer! Nein! Nein! du sollst nicht sterben. Ich komme! Ich komme! – Verschwindet, Geister der Nacht, die ihr euch mit ängstlichen Schrecknissen mir in den Weg stellt – Er geht auf sie los. Verschwindet! – Sie stehen! Ha! sie sehen sich nach mir um! Weh! Weh mir! es sind Menschen wie ich. – Es ist wahr – Wahr? – Kannst du's fassen? – Sie ist tot – Es ergreift mich mit allem Schauer der Nacht das Gefühl: sie ist tot! Da liegt sie, die Blume, zu deinen Füßen – und du – Erbarm dich meiner, Gott im Himmel, ich habe sie nicht getötet! – Verbergt euch, Sterne, schaut nicht hernieder, ihr, die ihr so oft den Missetäter saht in dem Gefühl des innigsten Glückes diese Schwelle verlassen durch eben diese Straße mit Saitenspiel und Gesang in goldnen Phantasieen hinschweben, und sein am heimlichen Gegitter lauschendes Mädchen mit wonnevollen Erwartungen entzünden! – und du füllst nun das Haus mit Wehklagen und Jammer! und diesen Schauplatz deines Glückes mit Grabgesang! – Marie! Marie! nimm mich mit dir! nimm mich mit dir! Eine traurige Musik tönt einige Laute von innen. Sie beginnen den Weg zum Grabe! Haltet, haltet! Schließt den Sarg nicht! Laßt mich sie noch einmal sehen! Er geht aufs Haus los. Ha! wem, wem wag ich's unters Gesicht zu treten? wem in seinen entsetzlichen Schmerzen zu begegnen? – Ihren Freunden? Ihrem Bruder? dem wütender Jammer den Busen füllt! Die Musik geht wieder an. Sie ruft mir! sie ruft mir! Ich komme! Welche Angst umgibt mich! Welches Beben hält mich zurück!

Die Musik fängt zum dritten Male an und fährt fort. Die Fackeln bewegen sich vor der Tür, es treten noch drei andere zu ihnen, die sich in Ordnung reihen, um den Leichenzug einzufassen, der aus dem Hause kommt. Sechs tragen die Bahre, darauf der bedeckte Sarg steht.

Guilbert, Buenco, in tiefer Trauer.

CLAVIGO hervortretend. Haltet!

GUILBERT. Welche Stimme!

CLAVIGO. Haltet! Die Träger stehen.

BUENCO. Wer untersteht sich, den ehrwürdigen Zug zu stören?

CLAVIGO. Setzt nieder!

GUILBERT. Ha!

BUENCO. Elender! Ist deiner Schandtaten kein Ende? Ist dein Opfer im Sarge nicht sicher vor dir?

CLAVIGO. Laßt! macht mich nicht rasend! die Unglücklichen sind gefährlich! Ich muß sie sehen! Er wirft das Tuch ab. Marie liegt weiß gekleidet und mit gefalteten Händen im Sarge.

Clavigo tritt zurück und verbirgt sein Gesicht.

BUENCO. Willst du sie erwecken, um sie wieder zu töten?

CLAVIGO. Armer Spötter! – Marie! Er fällt vor dem Sarge nieder.

Beaumarchais kommt.

BEAUMARCHAIS. Buenco hat mich verlassen. Sie ist nicht tot, sagen sie, ich muß sehen, trotz dem Teufel! Ich muß sie sehen. Fackeln! Leiche! Er rennt auf sie los, erblickt den Sarg und fällt sprachlos drüber hin; man hebt ihn auf, er ist wie ohnmächtig. Guilbert hält ihn.

CLAVIGO der an der andern Seite des Sargs aufsteht. Marie! Marie!

BEAUMARCHAIS auffahrend. Das ist seine Stimme! Wer ruft Marie? Wie mit dem Klang der Stimme sich eine glühende Wut in meine Adern goß!

CLAVIGO. Ich bin's.

BEAUMARCHAIS wild hinsehend und nach dem Degen greifend. Guilbert hält ihn.

CLAVIGO. Ich fürchte deine glühenden Augen nicht, nicht die Spitze deines Degens! Sieh hierher, dieses geschlossene Auge, diese gefalteten Hände!

BEAUMARCHAIS. Zeigst du mir das? Er reißt sich los, dringt auf Clavigo ein, der zieht, sie fechten, Beaumarchais stößt ihm den Degen in die Brust.

CLAVIGO sinkend. Ich danke dir, Bruder! Du vermählst uns. Er sinkt auf den Sarg.

BEAUMARCHAIS ihn wegreißend. Weg von dieser Heiligen, Verdammter!

CLAVIGO. Weh! Die Träger halten ihn.

BEAUMARCHAIS. Blut! Blick auf, Marie, blick auf deinen Brautschmuck, und dann schließ deine Augen auf ewig. Sieh, wie ich deine Ruhestätte geweiht habe mit dem Blute deines Mörders! Schön! Herrlich!

Sophie kommt.

SOPHIE. Bruder! Gott! was gibt's?

BEAUMARCHAIS. Tritt näher, Liebe, und schau! Ich hoffte, ihr Brautbette mit Rosen zu bestreuen – sieh die Rosen, mit denen ich sie ziere auf ihrem Wege zum Himmel.

SOPHIE. Wir sind verloren!

CLAVIGO. Rette dich, Unbesonnener! rette dich, eh der Tag anbricht. Gott, der dich zum Rächer sandte, geleite dich! – Sophie – vergib mir! – Bruder – Freunde, vergebt mir!

BEAUMARCHAIS. Wie sein fließendes Blut alle die glühende Rache meines Herzens auslöscht! wie mit seinem wegfliehenden Leben meine Wut abschwindet!

Auf ihn losgehend.

Stirb, ich vergebe dir!

CLAVIGO. Deine Hand! und deine, Sophie! Und Eure!

Buenco zaudert.

SOPHIE. Gib sie ihm, Buenco!

CLAVIGO. Ich danke dir! du bist die alte. Ich danke euch! Und wenn du noch hier diese Stätte umschwebst, Geist meiner Geliebten, schau herab, sieh diese himmlische Güte, sprich deinen Segen dazu, und vergib mir auch! – Ich komme! ich komme! – Rette dich, mein Bruder! Sagt mir, vergab sie mir? Wie starb sie?

SOPHIE. Ihr letztes Wort war dein unglücklicher Name. Sie schied weg ohne Abschied von uns.

CLAVIGO. Ich will ihr nach, und ihr den eurigen bringen.

Carlos. Ein Bedienter.

CARLOS. Clavigo? Mörder!

CLAVIGO. Höre mich, Carlos! Du siehest hier die Opfer deiner Klugheit – Und nun, um des Blutes willen, in dem mein Leben unaufhaltsam dahinfließt! rette meinen Bruder –

CARLOS. Mein Freund! Ihr steht da? Lauft nach Wundärzten!

Bedienter ab.

CLAVIGO. Es ist vergebens. Rette! rette den unglücklichen Bruder! – Deine Hand darauf! Sie haben mir vergeben, und so vergeb ich dir. Du begleitest ihn bis an die Grenze, und – ah!

CARLOS mit dem Fuße stampfend. Clavigo! Clavigo!

CLAVIGO sich dem Sarge nähernd, auf den sie ihn niederlassen. Marie! deine Hand! Er entfaltet ihre Hände und faßt die rechte.

SOPHIE zu Beaumarchais. Fort, Unglücklicher! fort!

CLAVIGO. Ich hab ihre Hand! Ihre kalte Totenhand! Du bist die Meinige – Und noch diesen Bräutigamskuß. Ah!

SOPHIE. Er stirbt! Rette dich, Bruder!

BEAUMARCHAIS fällt Sophien um den Hals.

SOPHIE umarmt ihn, indem sie zugleich eine Bewegung macht, ihn zu entfernen.