Buch lesen: «Stille Nacht»

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Stille Nacht

1  Stille Nacht - Kurzgeschichten

2  Vorwort

3  Friede auf Erden

4  Stille Nacht

5  Ein Stern leuchtet über Betlehem

6  Komm Herr Jesus sei unser Gast

7  Weihnachten unter Palmen

8  David

9  Gold, Weihrauch und Myrrhe

10  Harzvier

11  Chanukka

12  Heiligabend in der U-Bahn

13  Die Märklin Lok

14  Das Christkind kommt nie nach Oberstadel

15  Maria mit Kind

16  Utopia

17  Die Weihnachtsblume

18  Weihnachten 1949

19  Nachwort

Stille Nacht - Kurzgeschichten

Stiftung Augustine und Johann Widmer, Hrsg.

© Stiftung Augustine und Johann Widmer

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Bildungszentrums reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

www.johann-widmer.ch

ISBN: siehe Umschlag

1. Auflage 2021

Vorwort

Ein bunter Strauss von Geschichten, der Autor nennt sie auch «Weihnachtsgeschichten», weil sie alle irgendeinen Bezug zu Weihnachten oder zur (grauen) Adventszeit haben.

Inhaltlich oder weil sie zufällig zur Weihnachtszeit entstanden sind.

Einstimmung auf das grosse Fest der Freude, der Liebe, der Hoffnung und der vielen Geschenke. Fröhlich bimmeln die Weihnachtsglocken in der Ladenkasse und die fette Weihnachtsgans singt in der Ofenröhre «O du fröhliche»

Und das in einer lichtarmen Zeit, die oft durch trübes, nasskaltes Schmuddelwetter geprägt ist.

Für sensible Menschen oft nur schwer zu ertragen.

Einige dieser Geschichten werden diese nachdenkliche Stimmung wiedergeben, aber auch besinnliche Gedanken wecken und solidarische Gefühle und Verständnis für all jene, die keine «frohen» Weihnachten feiern.

Die Geschichten eignen sich sehr gut zum Vorlesen

Friede auf Erden


Weihnachten 1962

Bei hochsommerlicher Backofenhitze, der Sonne im Höchststand und den allabendlichen, heftigen Gewitterstürmen stellt sich bei uns Europäern nur schwer «echte» Weihnachtsstimmung ein.

Kalender hin oder her.

Zwar versuchten wir unseren Kindern mit Adventskranz, Kerzenschein und deutschen Weihnachtsliedern eine Ahnung christlicher Kultur zu vermitteln, aber weder die schmelzenden Kerzen noch das frierende Kindlein in der Krippe passten so recht in diese Umgebung und nicht einmal das beinharte Weihnachtsgebäck, das unser Boy frei improvisierend aus Manjokmehl hergestellt hatte, fand besonderen Anklang.

Einzig der zusammenklappbare, immergrüne Plastikweihnachtsbaum, der sich, ferngesteuert, mit blinkenden Lichtern langsam drehte und dabei «Jingle Bells» spielte, fand Zustimmung, allerdings nur, bis die technikinteressierten Leutchen hinter die Geheimnisse der Fernsteuerung gekommen waren, dann überliessen sie das Wunderding wieder seinem stolzen Besitzer, dem amerikanischen Missionar, Reverend Jackson.

Ein lieber Mensch, aber völlig weltfremd.

Von fanatischem altruistischem Helferwillen getrieben und schliesslich in Schwarzafrika als Strandgut angelandet, versuchte er das Beste aus der Situation herauszuholen.

Er war nicht der Einzige.

Ein letzter Versuch meinerseits, wenigstens etwas von den geistigen Inhalten dieses Festes zu retten, misslang ebenfalls, denn wie kann man einem Kind die Botschaft von Frieden auf Erden erklären, wenn sich drei Kilometer westlich des Hauses ein Minenfeld befindet, in dem schon einige Kinder unserer Schule ein Bein, einen Fuss, ein Auge oder gar ihr Leben verloren hatten, oder, wenn man nachts wegen des nahen Geschützdonners oder Maschinengewehrfeuers jenseits der Grenze nicht schlafen kann, und wenn man jeden Morgen die völlig ausgehungerten Gestalten der Vertriebenen auf der Strasse unten vorüberziehen sieht, die von gut genährten Polizisten begleitet, recht rüde und brutal ins nahe Flüchtlingslager getrieben werden...

Flüchtlingslager.

Das Wort «Lager» weckt düstere Erinnerungen in mir.

Wer hier ankommt, ist traumatisiert und hat eine verbrannte Heimat hinter sich.

Aber jeder hofft, es sei das Tor in eine neue Welt in ein neues Leben.

Fünf Jahre später merkt er, dass sein neues Leben «Lager» bedeutet.

Lagerleben kann Generationen dauern.

Friede auf Erden. Unser Missionspfarrer war jeden Morgen damit beschäftigt, den vor Hunger sterbenden Kindern und Müttern geistlich beizustehen, wie man das so schön nennt, aber sein geistliches Brot machte niemanden satt.

Unser Arzt, ein junger und noch unerfahrener Idealist aus Rumänien, kämpfte ziemlich vergeblich gegen den Tod, der in mannigfaltiger Form im Lager umging.

Der Sensenmann schien die Heilkunst zu verspotten.

Jeden Morgen bewegten sich bunte Züge auf der Hauptstrasse zum Kirchhügel. Eine Gruppe von Musikern und Gauklern ging dem bunten Zug voran und ihre grossen Trommeln und die schrillen Pfeifen verbreiteten eine Höllenmusik, die durch Mark und Bein ging. Die Gaukler und Akrobaten, alle weiss bepudert, sollten die Gesellschaft mit ihren derben Spässen zum Lachen bringen.

Eine Gruppe von Klageweibern umtanzte heulend, kreischend, schreiend und mit schrillen Youyou - Rufen die dunkel gekleideten Leichenträger, die mit der fest verpackten und verschnürten Leiche auf ihren Schultern würdevoll dahinschritten.

Schwarze Zylinderhüte, weiss bemalte Gesichter und dunkle Sonnenbrillen.

Allegorie des Todes oder absurdes Theater.

Dahinter kam die singende Trauergemeinde mit dem Priester in ihrer Mitte unter einem Baldachin, der ihn vor der sengenden Sonne schützte.

Den Schluss des Zuges bildeten zwei Soldaten mit geschulterten Gewehren.

Jeden Morgen, mehrmals, das gleiche Spektakel.

Neben dem Hunger wüteten schlimme Krankheiten und Seuchen aller Art unter den Flüchtlingen und als ob das nicht genügen würde, kamen jeden Morgen schwer verletzte, zum Teil arg verstümmelte oder verbrannte Freischärler über die Grenze. Helden, von denen in wenigen Tagen oder Stunden nur noch ein einfaches Kreuz mit Erkennungsnummer auf einem kleinen Erdhügel übrigbleiben wird, Helden, von denen schon bald niemand mehr redet.

Friede auf Erden. Man sprach wieder einmal von Frieden im Nachbarland.

Die grossen Hetzer und die scharfen Bluthunde trafen sich kurz vor Weihnachten auf neutralem Gebiet mit Staatsmännern aus der ersten, aus unserer Welt. Regierungschefs und andere Politiker, die für die bevorstehenden Wahlen in ihren Ländern Pluspunkte sammelten. (oder Schmiergelder?)

Dazu eignen sich Friedensgespräche in der Vorweihnachtszeit besonders gut. Hände werden geschüttelt (und gewaschen) vor laufender Kamera und jeder setzt sein wohlgefälligstes Lächeln auf. Lächelnd die Zähne zeigen, grinsen, wie die vielen gebleichten Totenschädel die dort drüben, jenseits des Grenzflusses überall herumliegen. Denen ist das Lachen endgültig vergangen.

Nicht so der rührigen Verhandlungsdelegation, die sich lächelnd und händereibend in unserem Lager mit dem Rebellenchef traf. Geheim natürlich, denn es ging um weitere Waffenlieferungen. Modernstes Kriegsgut, leichte und weniger leichte Waffen aller Art.

Dazu, so gewissermassen als Weihnachtsgeschenk für die lieben Kleinen, die neusten Tretminen.

Liefertermin: in sieben Tagen, am 24. Dezember.

Tag der Bescherung.

Schöne Bescherung!

Die Friedensverhandlungen sollen ins Stocken geraten sein, hörten wir am Radio.

Der UNO Sicherheitsrat verabschiedete eine Resolution.

Immerhin soll, als Geste des guten Willens, ein siebentägiger Waffenstillstand eingehalten werden. Die Truppen brauchten eine Atempause, um sich neu zu gruppieren.

Beginn der Waffenruhe: am Heiligabend um 18 Uhr Lokalzeit.

Ein kleiner Lichtschein im allgemeinen Zynismus. Waffenruhe tönt doch immerhin besser als Kampf für den Frieden, Heiliger Krieg, Krieg gegen den Terrorismus, Kreuzzug, Befreiungskrieg oder wie wir Mord und Totschlag an Unschuldigen zu entschuldigen pflegen.

Man spricht von Frieden und Freiheit, denkt aber nur an die reichen Bodenschätze dieses Landes: Öl, Erdgas, Gold, Diamanten, Kupfer, Kobalt und Bauxit.

Und an allem klebt Blut.

Ein Kollege übte mit den Schülern ein Krippenspiel ein.

Jeder Schüler möchte gern den Josef spielen und jedes Mädchen träumte von der Rolle der Madonna.

Eine blonde Barbiepuppe meiner Tochter durfte die eigentliche Hauptrolle übernehmen, ein blauer Plastikeimer, mit Stroh beklebt, diente als Krippe.

Und nicht zuletzt waren da die andern Hauptdarsteller «Maria und Josef».

Nomen est omen.

Josef aus der Sechsten spielte die Rolle seines Namenspatrons und Maria Ndola, Schülerin der fünften Klasse, durfte die Puppe wiegen und bei der Flucht auf dem Rücken tragen.

Herodes, in seiner Uniform glich sehr stark dem Herrscher des Nachbarlandes…

Mit dem Schülerchor des Gymnasiums sollte ich die musikalische Umrahmung des Abends bestreiten. Wir würden ein paar frisch eingeübte Spirituals singen.

Mit den Bässen aus der Maturaklasse verstärkt, bekamen die Gesänge die nötige Wucht und Feierlichkeit. Meine Sänger schienen sich aufs Fest zu freuen. Zu den Proben kamen sie immer vollzählig und pünktlich, was mir wie ein kleines Wunder erschien.

Ich war auch erstaunt, ja sogar erschüttert, mit welcher Hingabe die Schüler in den Theaterproben spielten. Nein, das war kein Spiel für sie, das war Leben, das war Wirklichkeit, das waren keine Rollen, die sie rezitierten: sie verkörperten die zu spielenden Personen, wurden eins mit ihnen und als Zuschauer wurde man von dieser Echtheit sofort gepackt und mitgerissen.

Ich freute mich auf die Aufführung. Es versprach ein denkwürdiger Abend zu werden.

Auch meine Choristen übertrafen sich selbst.

Diese Vorfreude schien ansteckend zu sein. Plötzlich war überall Weihnachtsstimmung.

Meine Kinder bastelten mit Eifer Strohsterne aus Elefantengras und im Wohnzimmer wurde mit Lehmfiguren, Zweigen und Ästen die Szene von Bethlehem nachgestellt.

Am 24. war schulfrei, damit wir in der Kirche noch die letzten Vorbereitungen treffen konnten für das abendliche Ereignis.

Den ganzen Morgen über rollten schwere LKWs vom Hafen ins Flüchtlingslager hinüber. Waffen aller Art, diesmal als Weihnachtsgeschenke irgendeiner barmherzigen Gesellschaft deklariert.

Feuerpause.

Beim Mittagessen gab es natürlich nur ein einziges Gesprächsthema: unser Krippenspiel.

In den Mittagsnachrichten wurde nochmals erwähnt, dass im Nachbarland ab 18 Uhr ein siebentägiger Waffenstillstand in Kraft trete, der auch für unser Gebiet Gültigkeit habe, dann erschallte feierliche Kirchenmusik, dem Tag entsprechend.

Ich machte eine ausgedehnte Siesta, denn der Abend würde lange werden.

Etwa um fünf Uhr nachmittags sass ich in meinem Arbeitszimmer, als ich plötzlich Flugzeuggedröhne und anschliessendes schweres Donnern hörte.

Der Boden zitterte wie bei einem Erdbeben. Ich eilte ans Fenster und sah, wie im Hafen unten mächtige, schwarze Rauchwolken zum Himmel aufstiegen.

Das durfte doch nicht wahr sein!

Eine Stunde vor Beginn des Waffenstillstandes wurde unser Hafen bombardiert!

Einen Augenblick später hörte ich zwei oder drei weitere dumpfe, starke Explosionen, diesmal aber viel näher.

Maschinengewehrfeuer.

Das musste aus der Gegend der Flüchtlingslager kommen.

Dann hörte man, wie sich die Flugzeuge entfernten und nun breitete sich über der Gegend eine tiefe Stille aus,

Totenstille.

Ich schaltete sofort das Radio ein.

Militärmusik.

Um halb sechs wurde eine Rede des Staatspräsidenten angekündigt.

Er tobte sich aus. Verbrecherischer Akt, der schwere Folgen haben werde und so weiter.

Man werde Vergeltung üben in noch nie dagewesener Form.

Ich stellte am Radio auf einen andern Sender um.

Das Nachbarland war schon mit billigen und faden Entschuldigungen da.

Das mit dem Hafen sei ein Versehen gewesen. Es hätte einem illegalen Waffentransport gegolten.

Die zwei verantwortlichen Piloten würden zur Rechenschaft gezogen.

Der Angriff auf den Unterschlupf der Rebellen hingegen war ihre Sache, ein rein militärisches Ziel, eine gerechtfertigte Aktion.

«Der geheime Unterschlupf» war ein offizielles Flüchtlingslager der UNHCR…

Aber in der Weltpolitik zählt ein Menschenleben nichts.

Die verkohlten Leichen im Flüchtlingslager sind sogenannte Kollateralschäden.

Die Wogen glätteten sich rasch, schliesslich war ja Weihnachten, das grosse Fest der Liebe, des Friedens und der Bescherungen.

Um sechs Uhr stiegen im Hafengebiet immer noch schwarze Rauchwolken auf. Die Palmölzisternen brannten lichterloh. Der stinkende Rauch zog wie Nebelschwaden durch die Unterstadt.

Unser Boy meldete uns, dass es im Flüchtlingslager unzählige Tote und Verletzte gegeben habe. Viele mit schweren Verbrennungen.

Napalm.

Mit sehr eigenartigen Gefühlen machten wir uns für den Kirchgang bereit.

Irgendwie war jegliche Weihnachtsstimmung verflogen, es war uns allen mehr ums Heulen als ums Feiern.

Als wir vors Haus traten, kam eine Gruppe Jugendlicher auf uns zu. Es waren Schüler aus meiner Klasse. Sie waren gänzlich verstört und ich brauchte lange, bis ich begriffen hatte, dass unsere Maria, die Maria Ndola beim Bombenangriff umgekommen war.


Stille Nacht


Weihnachten 1998

Gedankenverloren zerbröselte er das Brot in seinem Teller, schob die Krümel mit dem Finger zu kleinen Häufchen, zerstreute sie wieder, schob sie wieder zusammen, während sein Blick unstet an der gegenüberliegenden Wand den Rissen im Putz folgte, ohne auch nur etwas von dem was er sah, wirklich wahrzunehmen.

Manchmal gab es so etwas wie ein Erwachen, dann seufzte er, griff zur Bierflasche und nahm einen grossen Schluck.

Widerliches Gesöff.

Er blickte um sich, als ob er aus einem Traum erwachen würde, aber was ihn da umgab, diese armselige, vergammelte Behausung, diese kalte und leere Höhle, den Schimmel an den Wänden …braune Wasserflecken an der Decke…

… das wollte er nicht sehen.

Heute jedenfalls nicht.

Er wollte keine Fragen, keine Antworten, nichts. Er wollte abschalten, vergessen, denn jede Erinnerung, die in ihm aufstieg, war sehr schmerzhaft.

Manchmal packte ihn eine heilige Wut, in der er alles hätte kurz und klein schlagen können, aber er brachte keinerlei Kraft mehr auf, um seinem wilden Zorn Ausdruck zu geben. Was hätte es auch gebracht?

Dann überfiel ihn plötzlich eine tiefe Trauer, Selbstmitleid und schwarze Gedanken. Das Spiel war zu Ende und er hatte verspielt, jämmerlich versagt.

Man sollte Schluss machen, endgültig, aber er brachte nicht mehr so viel Mut auf. Er war am Boden, war hinterrücks umgeschmissen worden, ein Blitz hatte ihn, sozusagen aus heiterem Himmel getroffen, mitten in seine Ahnungslosigkeit hinein.

Man sollte vergessen können, alles vergessen, auch dass heute Weihnachtsabend war.

Zum ersten Mal in seinem Leben war er an diesem Abend allein und einsam.

Es war aber nicht nur das Alleinsein, das ihn schmerzte, er war ausgestossen worden.

Ob seine Familie, die nicht mehr die seinige war, wohl in der Wohnstube versammelt war, wie jedes Jahr? Lichterbaum, Geschenke, das festliche Weihnachtsmahl angerichtet.

Ohne ihn?

Er sah, wie seine beiden Söhne am Klavier musizierten, er sah Isabella...nein, das wollte er nicht sehen, das war vorbei, für immer.

Vielleicht wohnte Gerd, Isabellas Freund und Geliebter noch nicht bei ihnen, vielleicht...

Nein, er wusste ganz genau, dass der andere nun seine Stelle eingenommen hatte, endgültig.

Man musste vergessen, Zeit heile Wunden, sagt man.

Aber dass sich seine Söhne ohne zu Zögern für ihre Mutter entschieden hatten, das würgte ihn.

In seiner grossen Enttäuschung wollte er nun auch von seinem Besuchsrecht keinen Gebrauch machen.

Trotz und beleidigter Stolz bäumten sich in ihm auf.

Sie hatten sich entschieden, basta.

Sie waren gestorben, hatten nie existiert.

Vielleicht gelang es ihm, sich wieder aufzufangen, vielleicht auch nicht, was machte dies schon aus. Eine neue Familie zu gründen, lag finanziell nicht mehr drin, denn er musste weiterhin für das Wohlergehen seiner Familie, die nicht mehr die seinige war, aufkommen.

Es reizte ihn nicht mehr, mit irgendeinem anderen Menschen in Kontakt zu treten.

Wozu auch?

Er war weder je ein Kneipenhocker noch ein Vereinsmeier gewesen, jene Kreise widerten ihn an und zudem konnte er es sich als höherer Beamter gar nicht erlauben sich mit dem kleinen Volk gemein zu machen.

Nun, sein Höhenflug würde ja demnächst einen argen Knick bekommen, denn man munkelte schon seit Monaten von Stellenabbau und Rationalisierung. Da würde seine Arbeitsstelle bestimmt davon betroffen. Aber das war ihm im Augenblick völlig egal. Sollten sie. Man würde ihm ein anderes Arbeitsfeld zuweisen. Oder auch nicht.

Seine Alkoholprobleme hatten sich mittlerweile im ganzen Betrieb herumgesprochen.

Ein Arbeitsloser mehr oder weniger, darauf kam es nun auch nicht mehr an.

Und wenn er nun den Bettel einfach so hinschmiss?

Einfach so, ist gar nicht so einfach.

Und dann mit dem Ersparten verschwinden. Nach Brasilien vielleicht, oder nach Tahiti? Und wenn das Geld alle war, dann konnte man immer noch zurückkommen und vom Sozialamt leben.

Er war kein Robinson, er hatte schon immer Abenteuer vermieden, wenn möglich…

Wenn er sich in der Wohnung umschaute, so schien es ihm, er sei bereits auf die Stufe des hilflosen Sozialhilfeempfängers herabgesunken. Aber so in der Eile hatte er nichts Besseres finden können als diese etwas heruntergekommene Einzimmerwohnung. Einen jahrelangen Hotelaufenthalt konnte er sich nicht leisten. Ausserdem kannte niemand diesen seinen jetzigen Aufenthaltsort.

War auch gut so.

Vor allem seine Familie nicht. „Seine“ Familie! Er würde sich nicht so rasch daran gewöhnen, dass er keine Familie mehr hatte.

Komisch.

Noch vor kurzer Zeit schien es ihm, als ob die Welt völlig in Ordnung sei und dann kam plötzlich diese abrupte Wende, die alles umgeschmissen hatte.

Gut, Isabella hatte ihm kein Theater vorgespielt, hätte sie auch nicht gekonnt, es wäre zum billigen Schmierenstück herabgesunken, aber so frei und offen, so direkt ihm ins Gesicht zu sagen, dass die Zeit der Gemeinsamkeit vorbei sei, dass da ein anderer...

..und ausgerechnet Gerd, sein ehemaliger Studienkollege, den er nie hatte riechen können

...und jetzt, ja, jetzt war Heiligabend...

Seine Finger kneteten Brotkügelchen, im Treppenhaus stritten sich zwei Kinder, der lärmende Verkehr auf der Strasse beruhigte sich allmählich, die Brotkügelchen wurden an den Tellerrand gepresst, zu einer Kugel geformt und dann wieder zerbröselt.

Er musste unbedingt etwas unternehmen, um aus seiner Depression herauszukommen.

Sich besaufen gehen?

War nicht besonders verlockend, wenn man schon im Säuferelend steckte.

Zur Weihnachtsmesse?

Er musste unwillkürlich lachen. Ausgerechnet er! Der engagierte 68-er, der damals gegen Kirche, Staat und Familie ins Feld gezogen war. Nein, das war auch nichts, die konnten es nun wohl auch ohne ihn machen.

Ins Kino?

Würde auch nicht viel bringen, denn es war ihm unmöglich, sich auf irgend etwas zu konzentrieren, das nichts mit seiner gegenwärtigen Lage zu tun hatte.

Aber er konnte und wollte nicht den ganzen Abend heulend seinen trüben Gedanken nachhängen, er durfte nicht länger in seinen vier Wänden versauern, sonst würde er noch durchdrehen.

Er nahm abwechselnd einen Schluck Bier und dann einen tüchtigen Schluck Grappa.

Das wärmte die Seele.

Doch was kann man an so einem verschissenen Abend überhaupt unternehmen? Kinos, Kneipen und Theater sind sicher geschlossen.

Es ist zum Verrücktwerden.

Er ging ans Fenster.

Am oberen Ende der Strasse flimmerte der riesige Weihnachtsbaum vor dem Kaufhaus. Nur wenige Leute waren unterwegs. Aus vielen Fenstern der gegenüberliegenden Häusern drang rötlichgelber Kerzenschein. Jetzt wurde gegessen, gesungen, musiziert und beschert.

Jedenfalls dort, wo Kinder waren.

Kinder.

Dass die beiden Jungen ihn als Vater abgelehnt hatten, dass sie zu ihrer Mutter hielten, gegen ihn, das hatte ihn am schwersten getroffen.

Am unmittelbarsten.

Was war denn geschehen? Warum hatte er nicht gemerkt, dass man sich entfremdet hatte?

Gut, er war vielleicht etwas streng mit ihnen gewesen, oder eben nicht? Hatte er nicht alles getan, damit sie eine glückliche Kindheit erleben durften?

Er hatte sie nie geschlagen, alle Probleme wurden mit Vernunft und Einsicht gelöst.

Gemeinsame Wanderungen an den Sonntagen, gemeinsamer Skiurlaub im Winter, sommers en famille am Meer oder in den Bergen, viel wurde auch für die Bildung getan, er kontrollierte die Hausaufgaben, sie bekamen Musikunterricht, Nachhilfestunden in Latein...ach was!

Manche Dinge lassen sich nun mal nicht erklären.

Mangelnde Vaterliebe?

Er hatte sie tatsächlich geliebt, seine beiden Söhne, keine Affenliebe, nein, er hatte auch versucht, zu ihnen ein kameradschaftliches Verhältnis aufzubauen als sie grösser geworden waren...aber was soll das Ganze?

Es war unerklärlich.

Er konnte sich nicht vorstellen, wie es zu diesem plötzlichen Bruch gekommen war, es gab da kein Ereignis, das die Haltung seiner Söhne erklärbar gemacht hätte.

Dass ihn seine Arbeit zeitweise aufgefressen hatte, da konnte er nichts dagegen tun, er brauchte das Geld der vielen Überstunden für die immer teurer werdenden Wünsche der Familie.

Die Brotkrümel wurden zu länglichen Würstchen geformt, draussen wehte der Wind, Regen klatschte an die Scheiben. Regen.

Kein weihnächtliches Schneegestöber, hier fällt Dreck vom Himmel.

Er stand auf und goss den Rest des Bieres in den Ausguss. Dieses fade Gesöff widerte ihn an.

Oder schmeckte es ihm nicht, weil er schlecht gelaunt war? Was hiess da schon schlecht gelaunt? Seine Stimmung hatte nichts mehr mit Laune zu tun, das war die Apokalypse, sein höchst persönlicher Weltuntergang. Sollte er nun deswegen herumtoben und brüllen?

Das hatte er nie gekonnt, er fand solches Benehmen seiner selbst nicht würdig.

Scheisswürde!

Hätte er doch mal gebrüllt, auf den Tisch gehauen und seine Meinung gesagt, statt immer nur alles still in sich hineinzufressen.

Damals zum Beispiel, als die erste Krise ausgebrochen war.

Hätte er vielleicht den Gang der Dinge ändern können, wenn er damals Isabellas Freundinnen, diese verdammten Klatschbasen, hinausgeschmissen hätte.

Ja, damals hatte es eigentlich begonnen, als jene verrückten Hühner mit ihren emanzipatorischen Spleens im Haus aus und ein gingen. Sie hatten seiner Frau völlig den Kopf verdreht und er, er liess alles geschehen.

Er schwieg, er zeigte sich grosszügig, tolerant und aufgeschlossen.

Selbstverwirklichung.

Er kaufte ihr das Auto, er war einverstanden, dass sie von nun an getrennt in den Urlaub fuhren, er half ihr ihre Boutique einzurichten, er bezahlte die chronischen Defizite ihres Unternehmens, er machte am Feierabend die Hausarbeit, sogar das Geschirrspülen musste er seinen zwei Söhnen abnehmen, da sie nun eine höhere Schule besuchten, er machte alles, ohne zu murren, da es scheinbar heute so gemacht wird.

Er tat noch vieles dem Frieden zuliebe.

Allzu vieles.

Er stürzte sich in seine Arbeit, machte noch mehr Überstunden, kam spät nach Hause, todmüde, und versagte im Bett.

Er begann zu saufen, heimlich.

Er wurde der hörige Sklave seiner Frau.

Der Eunuch.

Er hatte sich wie ein Trottel benommen. Er hatte sich zum Waschlappen gemacht.

Aber diese späte Einsicht brachte auch nicht mehr viel.

Es war nun zu spät.

Auch zum Brüllen und Toben. Er war nicht der Typ des Amokläufers, aber auch so richtig heulen konnte er nicht, nur dahocken und grübeln konnte er und dabei versauern.

Das Leben ging weiter, er musste wieder auf den Zug aufspringen, sonst geriet er leicht unter die Räder.

Aber wozu?

Das falsche Spiel von Liebe und Treue und Familie und den lieben Kinderchen, Arbeiten, Schuften bis zum Gehtnichtmehr und was weiss der Teufel was, das alles nochmals durchspielen? Es wäre auch diesmal wieder ein völlig sinnloses Unterfangen geworden.

Er hatte jämmerlich versagt und würde es auch ein weiteres Mal tun. Immer wieder, denn Versager sind Serientäter.

Er lachte bitter, schmiss die Grappaflasche an die Wand und ging wieder zum Fenster.

Es hatte aufgehört zu regnen, dafür wogte jetzt ein dicker Nebel durch die Strassenschlucht.

Nebel. Das passte ihm in seiner neblig trüben Stimmung. Er würde ausgehen. Eine lange Wanderung durch die Nebelnacht machen, bis ans Ende der Welt, bis ans Ende seiner Tage gehen, immer weiter gehen.

Bis zu den ersten Villen der noblen Vorstadt war ihm kein Mensch begegnet. Es war, als ob die Menschheit auf diesem Planeten nicht mehr existieren würde.

Wäre auch nicht schade, fand er. Aber hier war es plötzlich mit der grossen Stille vorbei, denn hinter jedem Gartenzaun lauerte ein böse bellender Hund. In diesem Viertel regiert die Angst. Die Angst, es könnte einer kommen um etwas vom Überfluss, der hier herrschte, wegzutragen.

Da er zu Fuss unterwegs war und nicht in einem Auto, war er den Wachthunden besonders verdächtig. Vielleicht rochen sie auch schon, dass er nicht mehr zur Klasse derer gehörte, die hier wohnen. Hunde haben eine feine Nase.

Schliesslich hatte er die Stadt hinter sich gebracht.

Er wollte aber nicht der grossen Landstrasse folgen und bog daher in den ersten Feldweg ein, den er im Dunkel erkennen konnte. Aber im dicken Nebel und in der totalen Dunkelheit kam er bald vom Weg ab und irrte nun ziellos über nasses Wiesengelände, stolperte über Steine, fiel in kleine Gräben, rappelte sich wieder auf, geriet in ein Gebüsch, das ihm Gesicht und Hände zerkratzte, schlug sich die Stirn blutig an einem Baumstamm und stürzte schliesslich über eine steile Böschung hinunter. Steine, die er im Fallen losgerissen hatte, plumpsten weiter unten ins Wasser. Vielleicht war da ein Baggersee.

Ihm war alles egal.

Er blieb erschöpft liegen.

Tief atmete er die kühle Luft ein.

Wie wohl das tat.

Er genoss die totale Stille, die ihn hier umgab. Kein noch so ferner Laut drang an sein Ohr.

Stille, absolute Stille herrschte hier.

Man konnte sie förmlich spüren.

Er wusste nicht, wo er hingeraten war, wollte es auch nicht wissen.

Es war plötzlich ruhig, aussen und innen, vor allem hatte der grosse Leerlauf in seinem Hirn aufgehört sich zu drehen. Er fühlte sich plötzlich frei, leicht wie Luft.

Ach, wie schön war das!

Er spürte weder die zunehmende Kälte der Nacht noch die Nässe seiner Kleider, er spürte nur den grossen Frieden, der sein Innerstes erfüllte.

Ach ja, richtig, es war ja Heiligabend.

Stille Nacht, heilige Nacht...


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Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
160 S. 17 Illustrationen
ISBN:
9783754908129
Verleger:
Rechteinhaber:
Bookwire
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