Buch lesen: «Kahlbergs Talfahrt»
Wentrup
Kahlbergs Talfahrt
Joe Wentrup
Kahlbergs Talfahrt
Sauerland-Krimi mit Rezepten
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© 2016 Oktober Verlag, Münster
Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung der
Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Umschlag: Thorsten Hartmann unter Verwendung von
Fotos von naihei und showcake / iStockphoto
Rezepte: siehe Anhang
ISBN: 978-3-944369-69-3
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
Für Diego
Eine Esche weiß ich namens Yggdrasil.
Den hohen Baum netzt weißer Nebel;
Davon der Tau, der in die Täler fällt.
Immergrün krönt er Urds Quelle.
Aus der Edda
KAPITEL EINS
Kahlberg war den Wegweisern gefolgt, entlang der Zufahrtsstraße mit ihren Lagerhallen und Einkaufsdepots, bis zum Ende des Asphalts und dem Beginn vermeintlicher Natur.
Wenig später hatte er die Fährte der nur fahrlässig hier und dort in Form von Aufklebern angebrachten Wegweiser verloren, was wohl gleichermaßen der Witterung, dem übermütigen Vandalismus der Dorfjugend und seiner Hilflosigkeit außerhalb jeglichen Stadtdschungels zuzuschreiben war. Er war durch schattige Wälder und über von üppigem Grün gesäumte Feldwege geirrt, immer auf der Hut vor den ihn aufdringlich umschwirrenden Insekten, jedes einzelne davon ein potentieller blutrünstiger Räuber.
Schritt für Schritt war er sich fremder vorgekommen, trotz oder gerade wegen seiner Boots, der verwaschenen Jeans und der Lederjacke, irgendwo zwischen Asphaltcowboy und Wandervogel.
Schließlich hatte er sich mit einem Gefühl der Verlorenheit, wie er es nur aus seiner Kindheit und besonders schwierigen Kriminalfällen kannte, auf einen am Wegesrand gelagerten Stapel Baumstämme gesetzt, eine Zigarette angezündet und seine Umgebung betrachtet:
Ein Schotterweg, mit sturer Geradlinigkeit durch ein dichtes Spalier Fichten gezogen, auf einer Seite unterbrochen von hintereinander gereihten Fischteichen, so ruhig und glatt im Licht des Tages gelegen, dass Kahlberg durch das kristallklare Wasser bis auf den Grund hatte blicken können. Ein träger schwarzer Schatten war dort durch sein begrenztes Reich gezogen, majestätisch und, aus Kahlbergs erhabener Perspektive, zudem ignorant und tragisch. Unwillkürlich war Kahlberg von dem Gefühl überkommen worden, auch auf ihn richte sich von höherer Warte ein Auge. Eine unangenehme Empfindung, verkörperte er doch lieber das Bild des souveränen Bullen als das eines sich an einem anschwellenden Bremsenstich kratzenden Ochsen, der unfähig war, die als Ziel der Exkursion anvisierte Ruhrquelle zu finden.
So hatte er sich die Vertiefung der Beziehung zu seiner Heimat eigentlich nicht vorgestellt. Er hatte von stillen Wegen durch grüne Täler geträumt, von an den Hängen blühenden Wiesen mit kleinen Herden grasenden Braunviehs, darüber ein fast bayrisch anmutender blauweißer Himmel, in dem eine milde Brise mit den Wolken spielte.
Schließlich hatte er Sonnenstand mit Uhrzeit kombiniert und den Weg zurückgefunden, vorbei an Sommerschlaf haltenden Skiliften bis hin zu dem weiten Parkplatz mit seiner spärlichen Zahl Wohnmobile, ein schwarzer Strand mit verwaisten Gehäusen riesiger Wanderkrebse. Jene Gehäuse und sein 84er Quattro, den er dort unter derart großen Bedenken geparkt hatte, als wäre dieser Ort gefährlicher als Düsseldorf-Flingern.
Nun saß Kahlberg am Ende einer belebten Hauptstraße, dort, wo die Geschäftsgebäude mit ihren Boutiquen und Cafés allmählich von Pensionen mit holländischen Namen abgelöst wurden, in einem auf urbanes Nachtleben getrimmten und viel zu früh geöffneten Club. Die warme Nachmittagssonne fiel durch die geöffneten Fenster auf sein zweites Bier und brach sich schimmernd in dessen Kondenstropfen.
Er nahm einen Schluck und äugte über den Rand des Glases. Die Lounge machte ohne die gewiss raffinierte abendliche Beleuchtung einen eher billigen Eindruck. Die Bedienung nutete das helle Licht des Tages, um Gläser zu polieren. Ihr Kollege hatte eine Café-del-Mar-CD eingelegt und ließ diese einfach laufen, während er zum Rauchen auf die Terrasse ging.
Dies brachte bei Kahlberg die Frage auf, warum er selbst sich nicht für die draußen gebotene Möglichkeit zu rauchen entschieden und stattdessen den Plate am Fenster gewählt hatte. Aber dessen Rahmen schien ihm eine willkommene Abgrenzung zur Natur und die Musik, wenn auch lieblos abgenudelt, klang warm und entspannend.
Außer Kahlberg befand sich nur ein einziger Gast im Raum, ein Mann mit dünnem Schnäuzer, der am Tresen saß und unbeteiligt an einer Cola nippte. Er wirkte auf Kahlberg in einer unbestimmbaren Weise deplatziert, schien weder Einheimischer noch Gast zu sein. Wäre Kahlberg nicht so sehr damit beschäftigt gewesen, die Niederlage seiner kurzen Wanderung zu verarbeiten, er hätte des anderen ständige Wachsamkeit hinter der teilnahmslosen Fassade gespürt.
Allmählich fragte er sich, was er hier verloren hatte, ob es wirklich klug gewesen war, sich auf die Verabredung einzulassen und von Düsseldorf aus die südliche Route zu wählen, um auf dem Ausflug in seine Geburtsstadt Himmel hier, am beinahe höchsten Punkt des kleinen Mittelgebirges, vorbeizukommen.
Er blickte auf die Uhr und stellte fest, dass der Nachmittag verloren zu gehen drohte und Tag eins seines kostbaren freien Wochenendes sich bereits in Auflösung befand. Womöglich hätte er sich doch besser für ein Wochenende an Hollands Stränden entscheiden sollen. Stattdessen saß er an einem Ort, an den es die Niederländer in Scharen zu einem rituellen Probelauf des Tages zog, an dem der ansteigende Meeresspiegel über ihre Deiche schwappen würde.
Kahlberg zog sein Mobiltelefon hervor und wählte eine Nummer, wurde allerdings nur mit dem Anrufbeantworter verbunden. Ein gutes Zeichen, machte er sich Hoffnung, bedeutete es doch mit Sicherheit, dass ein Paar Hände die Straßenverkehrsordnung befolgten und am Lenkrad blieben, um einen Wagen möglichst schnell zu ihm zu steuern.
Gerade als er sich entschlossen hatte, der Verabredung noch eine Zigarettenlänge Zeit zu geben, fuhr ein graugrüner Land Rover Defender vor und parkte auf der anderen Straßenseite.
Kahlberg war froh, sich nicht bereits mit einer Zigarette in der Hand nach draußen gestellt zu haben, er hätte womöglich ungeduldig gewirkt. So beugte er sich nun entspannt aus dem Fenster, hob die Hand zum Gruß und pfiff.
Während Ted Jones die Tür seines Wagens schloss, folgte er dem hellen Ton und zeigte ein breites Grinsen, als er Kahlberg erblickte.
KAPITEL ZWEI
Ted Jones war gerade im Begriff die Straße zu überqueren, als ein schwarzer 68er Ford Mustang Fastback mit majestätischem Grollen an ihm vorüberrollte. Kahlberg bekam mit, dass sich die Blicke von Ted und dem Fahrer kreuzten, einem mittelalten Mann mit nach hinten gekämmtem dunkelblondem Haar und schmalen Koteletten, die in einen Kinnbart übergingen. Sie warfen sich ein kurzes, kaum wahrnehmbares Kopfnicken zu, dann war der Mustang vorüber und Ted überquerte gut gelaunt die Straße.
Er war ein kleiner, drahtiger Mann mit kurz geschorenem grauem Haar und einer dünnrandigen Brille, hinter der die wachen Augen eines Pressefotografen hervorblickten, die durch den Sucher einer Kamera mehr von der Welt gesehen hatten als ohne ihn. Kriege, Katastrophen, den Untergang des Ostblocks. Die Hinrichtung Ceauşescus sollte seine letzte Arbeit für die internationale Presse sein, er hatte mit einer Handvoll Fotografen auf den Auslöser gedrückt, als der Diktator und seine Frau von den Maschinengewehrsalven seiner eigenen Militärs durchsiebt worden waren. Als mit diesem Blutopfer das Ende des kalten Krieges besiegelt worden war und eine neue Zeit heranzubrechen versprach, hatte es ihn in die ungefähre Mitte eines langsam wieder zusammenwachsenden Europas gezogen, nach Himmel, wo er für die lokale Zeitung zu arbeiten begonnen und feste Bande mit einer Einheimischen geschlossen hatte.
Als er das Innere des Clubs betrat, war Kahlberg aufgestanden und die beiden Männer gaben sich so überschwänglich die Hand, dass die Berührung ein leichtes Klatschen hervorbrachte.
»Bist ja seit Monaten nicht mehr zu uns gekommen«, sagte Ted mit breitem Grinsen und britischem Akzent.
»Es gab viel zu tun, zwei Mal wurde mir mein Dienstfrei gestrichen«, seufzte Kahlberg.
»Klingt spannend.«
»Für dich wäre es frustrierend. Wenn wir eintreffen, sind alle schon tot.«
»Na ja«, warf Ted ein und grinste nun noch breiter. »Bei deinem letzten Einsatz hier in der Gegend hast du aber allerhand Life Action geboten.«
Nun musste auch Kahlberg grinsen. Ein ziemlich turbulenter Fall hatte ihn nach vielen Jahren zurück in seine Geburtsstadt Himmel geführt und er hatte seitdem, ganz gegen seine ursprünglichen Pläne und trotz seiner tiefen Abneigung gegen alles Kleinstädtische, begonnen, an jenem Ort wieder ein paar Wurzeln zu schlagen, welche ihn immer wieder dorthin zogen. Dünne Wurzeln wohlgemerkt, die ihm nicht das Gefühl gaben, durch sie gebunden zu sein, sondern sie jederzeit durchtrennen zu können. Vielleicht verbarg aber gerade diese Annahme ihr allmähliches Wachstum.
Die beiden Männer setzten sich an den Tisch am Fenster, die Bedienung kam herbei und Ted bestellte einen Tee.
Nach all den Jahren immer noch ganz der Brite, dachte Kahlberg und fragte ihn: »Was gibt’s Neues in Himmel?«
Ted zog die Augenbrauen hoch und wiegte den Kopf, als wolle er damit andeuten, dass nichts, was er nun sagen würde, Kahlberg auch nur im Entferntesten beeindrucken würde.
»Die Stadt ist eine einzige Baustelle, sie soll ja wieder zu der Perle werden, die sie wohl mal gewesen ist und diejenigen, die jetzt das Sagen haben, scheinen diese Pläne tatsächlich auch im Sinne der Bürger umzusetzen.« Dann rückte er mit dramatischem Schweigen seine Brille zurecht und fügte hinzu: »Und der Pub ist abgebrannt.«
»Wie denn das?«, rief Kahlberg überrascht.
Ted genoss es für einen Augenblick, doch eine überraschende Nachricht bei seinem Gegenüber gelandet zu haben und sagte dann: »Ganz unspektakulär, ein dämlicher Kurzschluss.«
»Und nun?«
»Trinken wir woanders«, lachte der Brite und fügte beschwichtigend hinzu: »Aber keine Sorge, der Wirt bleibt uns erhalten, spätestens Silvester macht er wieder auf.«
»Same procedure as every year.«
»Yep!«
Als ihr Lachen verstummt war, blickten sie sich ernst an. Beide wussten, dass die Zeit der Begrüßungsfloskeln vorbei war und sie nun zur Sache kommen würden.
»Ich bin auf was gestoßen«, legte Ted los und räusperte sich. »Auf was Dickes.«
»Hier? In dieser verträumten Gegend?«
»Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen.«
»Schieß los!« Kahlberg ließ sich nicht gerne auf die Folter spannen. »Bestimmt hast du Fotos gemacht.«
»Auch. Aber das Allerwichtigste habe ich hier«, Ted tippte sich an den Kopf. »Und hier, damit ich nicht die ganze Kamera mit mir rumschleppen muss.« Er zog sein Mobiltelefon hervor und legte es auf den Tisch.
Kahlberg blickte gespannt auf das Smartphone, mit dem Teds Finger auf der Tischplatte spielten. »Keine Sicherungskopien?«
Ted schüttelte den Kopf. »Wir haben früher immer alles bei uns getragen oder besser noch im Oberstübchen behalten. So konnten wir sicher sein, dass die Story nur uns gehörte.«
»Und warum willst du mich sehen und gehst nicht direkt zur Presse?«
»Ich brauche deinen Rat«, antwortete Ted, beugte sich zu Kahlberg vor und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: »Es geht um Folgendes ...«
Die Bedienung kam mit dem Tee und stellte ihn vor Ted, der eilig das Telefon wieder in der Tasche verschwinden ließ. Dann stand er auf.
»Ich bin die ganze Zeit nur gefahren«, sagte er entschuldigend. »Bin sofort wieder da und dann reden wir in Ruhe.«
Kahlberg nickte und sah Ted nach, während der im Eingang der Toilette verschwand. Ted Jones, der Enthüllungsjournalist. Alter Kater lässt das Mausen nicht. Nun war Kahlberg wirklich gespannt, was er ihm zu erzählen hatte.
KAPITEL DREI
Die Terrasse ging auf ein enges, stilles Tal hinaus, dessen frisches Wiesengrün sich bis zu dem weit unten rauschenden Bach zog, während dunkle Fichten den gegenüberliegenden Hang bestanden.
Der Blick des Alten verlor sich in der vor ihm liegenden Natur und für Momente kam ihm jegliches Gefühl für Raum und Zeit abhanden, empfand er sich als ewiger, untrennbarer Teil dieser Landschaft. Wäre nicht sein Misstrauen allem Unbekannten gegenüber aufgeflammt wie das orangefarbene Warnlicht eines sich schließenden Fabriktores, er hätte sich wohl dieser Auflösung seines Selbst hingegeben in der Hoffnung, den Punkt ohne Wiederkehr endlich zu überschreiten.
Doch nun spürte er wieder seinen Körper, jenes alte, gebrechliche Gehäuse, das ihn noch immer mit dieser Welt verband und vor allem mit diesem Rollstuhl, auf dessen Lehnen seine Arme wie knorrige, morsche Äste lagen. Er versuchte tief einzuatmen, doch sein Brustkorb hob sich nur matt, obwohl ihm die Anstrengung herkulisch vorkam. Auch stellte sich die Belohnung in Form einer Extradosis Frischluft nicht ein, denn die ihm zusätzlich durch einen dünnen Schlauch unterhalb seiner Nase zuströmende Sauerstoffmenge blieb, unabhängig von seinen Bemühungen, konstant.
Es kam ihm vor, als würde er täglich mehr Teil einer sich langsam in seinen Rest Leben drängenden Maschine, bis der Rollstuhl ein Bett und die Sauerstoffzufuhr eine Beatmungsmaschine geworden wäre.
Er verscheuchte diesen Gedanken und ließ sich erneut treiben, nicht mehr wie ein lebensmüder Argonaut entlang der stürzenden Wasser des Weltenrandes, sondern über die vergleichsweise seichten Lagunen der Erinnerung. Aus ihnen drang ein Kinderlachen hervor und ein Junge, noch im Vorschulalter, tollte die Wiese hinab Richtung Bach.
In den Mundwinkeln des Alten spielte ein Lächeln. Vor dem Jungen rollte ein großer, bunter Plastikball und so sehr die kleine Gestalt sich auch beeilte, sie konnte ihn nicht mehr erreichen mit ihren zarten Beinen, die aus einer kurzen Lederhose ragend durch das hohe Gras stolperten. Der Junge blieb stehen und blickte dem davonrollenden Ball nach, der kleiner und kleiner wurde, bis er schließlich mit einem kaum hörbaren Klatschen im Bach landete und von der Strömung davongetragen wurde. Die kleine Gestalt drehte sich um, blickte zu dem Alten hinauf und machte mit entschuldigender Miene eine hilflose Geste.
Das Lächeln des Alten erstarb.
»Sei nicht so hart mit ihm«, sagte eine sanfte Stimme dicht hinter ihm.
Ihr reiner, weiblicher Geruch stieg ihm in die Nase, er spürte ihren Atem an seiner Wange. Immer nahm sie den Jungen in Schute, nie hielt sie ihn an, für etwas zu kämpfen, sich anzustrengen, ein Ziel zu erreichen. Ihr Geruch aber war betörend schön.
»Lass ihn die Dinge auf seine Weise erfahren, lass ihn seinen eigenen Weg gehen und du wirst sehen, wie er Probleme lösen und wie er glücklich werden wird.«
Die knorrigen Hände des Alten krampften sich zornig in die Lehnen des Rollstuhls. Sie hatte ihn immer in Schute genommen, hatte schon früh gespürt, was für einer er war und auch später, als kein Zweifel mehr bestand, sich immer schützend vor ihn gestellt und nie zugelassen, dass er etwas Disziplin mit auf seinen ach so eigenen Weg bekam.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter und riss ihn aus seinen Erinnerungen.
»Es ist Zeit reinzugehen, die Sonne geht bald unter.«
»Sie geht noch lange nicht unter«, antwortete er trotzig und fügte mit rauer, matter Stimme hinzu: »Nur in diesem engen Tal, da ist sie bald fort.«
Die Hand glitt von seiner Schulter und löste die Feststellbremse des Rollstuhls, ohne dafür seine Einwilligung erhalten zu haben. Er hörte das Knistern von Stoff, spürte die Wärme des sich vorbeugenden Körpers. Wieder stieg ein weiblicher Geruch in seine Nase, diesmal muffig und vermengt mit einer Spur Schweiß. Roh und unparfümiert, war es der einer Frau, die schon lange kein Begehren mehr verspürt noch erfahren hatte.
Der Rollstuhl wurde auf der eigenen Achse gedreht, das Geländer vor den Knien des Alten und das Tal dahinter schwenkten aus seinem Blickfeld und vor ihm erschien die weit geöffnete Terrassentür mit ihren weißen Kassettenfenstern. Die Drehung endete, dann trat die Frau vor ihn. Sie war kräftig, in mittleren Jahren und mit schmalen Hüften. Immer trug sie Weiß, obwohl er schon mehrmals angedeutet hatte, es vorzuziehen, sie in Alltagskleidung um sich zu haben. Aber sie bestand darauf, dass man sähe, weshalb sie sich in seiner Nähe aufhielt. »Es ist zu Ihrer eigenen Sicherheit«, pflegte sie zu sagen.
Sie hielt ihm einen Becher mit Tabletten und ein Glas Wasser hin. »Heute sind es ein paar mehr«, meinte sie, ohne dafür jedoch ein mitfühlendes Lächeln aufzubringen.
Er nahm den Becher ohne Widerspruch, kippte sich den Inhalt wie einen Schnaps hinunter, griff dann nach dem Glas und spülte mit dem Wasser nach. Er spürte die Tabletten wie eine sperrige Prozession miniaturisierter Gürteltiere seine Speiseröhre hinabwandern. Trotzdem wischte er sich den Mund mit dem Handrücken ab, als hätte er soeben einen nahrhaften Bissen zu sich genommen.
Mit unverhohlenem Missfallen musterte er seine Pflegeschwester, die davon gänzlich unbeeindruckt, stur und gleichgültig zurückstarrte. Er zuckte schwach mit den Schultern.
»Schieben Sie mich hinein, Agata, und geben Sie mir die Fernbedienung, mal schauen, was in den Nachrichten kommt.«
KAPITEL VIER
Warum nur hatte Ted ihn hierherbestellt. Nicht sein Anliegen beschäftigte Kahlberg in diesem Moment, sondern das Lokal. Anscheinend wollte Ted ihm zeigen, dass man auch hier auf der Höhe der Zeit lebte. Kahlberg allerdings hätte einer urigen Landspelunke den Vorzug gegeben, mit rotgesichtigen Bauern und einfachen Gesprächen, die durch den musikfreien Schankraum schollen. Aber es lag ihm fern, sich zu beschweren. Dafür war er nicht hierhergekommen.
Er trank den Rest seines Bieres aus. Als er dessen schalen Geschmack wahrnahm, wurde ihm bewusst, wie die Zeit vergangen war. Der immer gleiche wummernde Sound aus der Konserve hatte ihn eingelullt wie ein Sonnenuntergang auf Ibiza nach einem durchtanzten Wochenende.
Der Mann mit dem schmalen Schnäuzer war in der Zwischenzeit von einem kurzen Toilettenbesuch zurückgekehrt, hatte einen kleinen Geldschein auf die Theke gelegt und das Lokal verlassen, ohne auf das Wechselgeld zu warten. Zweifellos ein Snob, den es an den falschen Ort verschlagen hatte.
Wie Kahlberg nun so allein im Club saß, begann er darüber nachzusinnen, ob er Teds offensichtliche Verdauungsprobleme mit einer Zigarette überbrücken oder sich doch lieber das dritte Bier bestellen sollte.
Schließlich entschied er sich für keine der beiden Optionen und stand auf, um nach dem Rechten zu sehen. Ted war einfach schon zu lange fort.
Die Toiletten befanden sich im Keller, eine schmale Treppe führte hinab, geradewegs auf ein aus Flusskiesel und Wurzelholz drapiertes Gebilde zu, das wohl irgendwie spirituell und Zen sein sollte. Kahlberg erblickte sich im darüber angebrachten Spiegel und zweifelte daran, ob er jenes Stillleben bereicherte. Überhaupt überließ er das Betrachten seines Äußeren lieber dem Rest der Welt.
Als er die Herrentoilette betrat, schien sie leer zu sein.
»Ted?«, rief Kahlberg in die Stille.
Er lauschte in den zwielichtigen Raum hinein. Nichts. Eine nach der anderen öffnete er die Toilettentüren, aber die Kabinen boten nur den Anblick reinlicher, unberührter Leere in Erwartung eines lebhaften Wochenendes.
Er machte kehrt und durchquerte erneut den Flur in Richtung Treppe, als er eine Tür bemerkte, an der er zuvor achtlos vorübergegangen war. Sie war nicht verschlossen. Er öffnete sie, näherte den Kopf dem lichtlosen Spalt und hörte ein kaum vernehmbares Rascheln.
»Ted, bist du hier?«
Kahlbergs Hand ertastete den Lichtschalter. Mit einem Klick war der Raum erleuchtet.
Ted saß auf einem abgewetzten, dunkelgrünen Kunstledersofa, auf dessen Rückenlehne ein gerahmtes Poster der Beatles stand. An den Wänden befanden sich Regale, vollgestopft mit Geschirr, ausgedienten Dekorationen und sonstigem Ramsch. Von der Decke hing eine britische Flagge, wohl ein Relikt vom letzten Themenabend.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Fotograf durch seine verrutschte Brille zu Kahlberg. Eine Hand hatte er an den Hals gelegt, seine Lippen bewegten sich wortlos.
»Was ist los mit dir?«, fragte Kahlberg noch bevor er das Blut sah, das zwischen Teds Fingern in einem pulsierenden Schwall hervorströmte.
Mit einem Satz war er bei ihm und presste seine Hand ebenfalls auf die Wunde, die sich erschreckend feucht und tief anfühlte, ein professionell gezogener Schnitt. Mit der anderen Hand holte er sein Telefon hervor und wählte den Notruf, während er, zur Treppe gewandt, lauthals »Hilfe!« brüllte. »Hilfe, verdammt noch mal!«
Endlich meldete sich eine Jungmännerstimme am anderen Ende der Leitung und bat um die genaue Adresse, welche ihm Kahlberg nicht nennen konnte, nur den Namen des Clubs und seine ungefähre Lage auf der Hauptstraße; die Stimme fragte erneut nach der exakten Hausnummer und Kahlberg brüllte ins Telefon: »Fick dich, hier stirbt jemand!« Endlich schien Bewegung in den Typen der Notrufannahme zu kommen. Das Blut unter Kahlbergs Hand quoll weniger, pochte weniger, während Ted ihn mit großen, glasigen Augen anblickte, die seiner eigenen Hinrichtung beiwohnten, die er nicht fotografieren würde noch irgendjemand sonst; eine sinnlose Hinrichtung an einem verschissenen Wintersportort im Sommer.
Die Bedienung erschien in der Tür, ihr entwich ein entsetzter Schrei, bevor sie beide Hände vor den Mund schlug, zurückstolperte und auf den ihr gefolgten Kollegen prallte, der ebenfalls vor Schreck erstarrte, bis Kahlberg beide mit sich überschlagender Stimme auf die Straße vor den Club scheuchte, damit sie dem Krankenwagen ein Zeichen geben konnten.
Plötzlich löste Ted seine Hand vom Hals und streckte sie mühsam aus. Sie leuchtete grotesk rot, wie ein inneres Organ, das zu einer Extremität mutiert war. Schwerfällig versuchte Ted, mit dem daran haftenden Blut etwas auf die Lehne des Sofas zu schreiben. Doch die gewölbte Fläche und die dunkle, alles Licht verschluckende Farbe machten es unmöglich.
»Warte!«, sagte Kahlberg hastig. Er nahm das gerahmte Poster der Beatles mit seiner freien Hand, ohne die andere von der pochenden Wunde zu nehmen, und legte es auf Teds Schoß.
Der hob mühsam seine Hand und ließ auf der Unterlage ein krakeliges »M« entstehen, wie ein unbeholfenes, verstörtes Kind, das mit Fingerfarben malt. Dann folgte eine aufsteigende Linie, die seine ganze Kraft beanspruchte und von deren Gipfel sein Finger erschöpft hinabrutschte, als hätten ihn seine Kräfte verlassen. Doch mit letzter Anstrengung zeichnete er einen Querstrich durch die beiden entstandenen Linien und es entstand ein »A«. Er versuchte erneut, seine Hand zu bewegen, die heftig zu zittern begann, bis sein ganzer Körper von einem Krampfanfall geschüttelt wurde. Dann versagten seine Muskeln ihren Dienst. Die Hand sackte schlaff herab, Ted starrte ausdruckslos durch die offene Tür des Abstellraums auf die weißen Kacheln des Toilettenflurs. Die klaffende Wunde unter Kahlbergs Hand hatte aufgehört zu pochen.
»Ted!«, schrie Kahlberg. »Halt durch, Ted!«
Doch er wusste, Ted Jones war tot.
Sein Blick fiel auf die mit Blut über die lachenden Beatles geschriebenen Buchstaben. Helter Skelter, schrie es in Kahlberg. Bilder von blutbeschriebenen Wänden und das irre Lachen eines Hippies mit Hakenkreuztätowierung auf der Stirn drangen auf ihn ein. Kahlberg biss die Zähne zusammen und geordnete Gedanken kehrten zurück. Hektisch begann sein Gehirn, die Ereignisse zu rekapitulieren. Der Typ mit dem Schnäuzer, schoss es ihm durch den Kopf, während er mit vor Hast zitternden Händen Teds Taschen durchsuchte. Das Telefon war verschwunden.
Er stürzte aus dem Abstellraum, hechtete die Treppen hinauf, raus auf die Straße, wo die beiden Angestellten standen. In der Ferne heulte die Sirene eines Krankenwagens. Kahlbergs Blick suchte die Straße ab. Von dem Typ mit dem Schnäuzer fehlte jede Spur.
Der Land Rover stand noch immer dort, wo ihn Ted geparkt hatte. Eilig ging Kahlberg hinüber und prüfte die Fahrertür. Sie war offen. Alarmiert blickte er ins Innere. Im aufgeklappten Handschuhfach lag eine Anhäufung von Straßenkarten und alten Parkscheinen. Dazwischen leuchtete das Orange einer Broschüre von Max-Energie, die man gegenwärtig aufgrund der aggressiven Werbekampagne des Stromanbieters in jedem Briefkasten fand. Weiter oben lag der Hochglanzprospekt eines Automatenkasinos in Himmel. Er schien Kahlberg nicht so recht in das Sammelsurium zu passen und er steckte ihn ein. Hastig durchstöberte er die hintere Sitereihe und den Laderaum. Keine Kamera, kein Notizbuch oder Ähnliches.
Kahlberg schlug die Tür zu und fluchte. Er hatte es versaut. Er hatte den Mörder seelenruhig die Tat begehen und vor seiner Nasenspitze hinausspazieren lassen. Er schimpfte sich einen gottverdammten, selbstgefälligen Idioten. Zorn flammte in Kahlberg auf mit einer Entschlossenheit, als könne er dadurch die Zeit zurückdrehen und den Fehler ausradieren, aber das Gegenteil war der Fall, die Schuld grub sich in ihn wie ein Brandeisen.
Er schrie ohnmächtig auf, und hätte der Wagen nicht Ted Jones gehört, er hätte ihn mit seinen bloßen Händen in einen Klumpen Schrott verwandelt, nur um irgendetwas in dieser elenden, gleichgültigen Welt zu bewirken.
»He, Sie da!«, rief eine ängstliche Stimme.
Kahlberg drehte sich um. Ein Polizeibeamter kam mit gezogener Dienstwaffe auf ihn zu, so unsicher, als tappte er durch totale Dunkelheit, während ihm sein Kollege mit ebenfalls gezückter Waffe Deckung gab. Hinter ihnen blinkten die Blaulichter ihres Einsatzfahrzeuges.
»Keine falsche Bewegung, legen Sie die Hände hinter den Kopf und drehen Sie sich zum Fahrzeug!«