Buch lesen: «Im Kessel brummt der Bürger King»
Joe Bauer
Im Kessel brummt der Bürger King
Spazieren und über Zäune gehen in Stuttgart
Mit einem Nachwort von Wiglaf Droste
FUEGO
Über dieses Buch
Joe Bauer blickt in die Tiefen und Abgründe des Talkessels. Seine Spaziergänger-Geschichten führen nach Stammheim, ins Rotlicht und an einen lebensgefährlichen Wasserfall. Immer wieder auch zu den Kickers. Melancholisch, sarkastisch, selbstironisch beschreibt er sein Verhältnis zu seiner Stadt und zum Rest der Welt. Zwischen Investorengier, Lügenpolitik und Zukunftsgelaber erkennt er die versteckten Schönheiten und die vergessene Historie Stuttgarts. Er weiß, in welcher Mini-Bar Gary Cooper und Ella Fitzgerald ihre Autogramme hinterlassen haben und warum Picassos Lump ein Stuttgarter Dackel war.
»Joe Bauers Geschichten klingen schonungslos oder zärtlich, wütend oder wehleidig. Was sie verbindet, ist ihre Haltung: Der warmherzige Blick des ewigen Fremden auf jene, die sich im Talkessel zusammengefunden haben, um der seltsamen Beschäftigung nachzugehen, die sie Leben nennen.«
Stuttgarter Zeitung
»Joe Bauer ist kein Gonzo-Journalist wie Hunter S. Thompson oder Jörg Fauser, schon gar kein Popliterat. Er ist ein melancholischer Beobachter: nicht drin in der Gesellschaft, aber auch nicht ganz draußen; und eher emphatisch als sarkastisch. Er ist Kolumnist, laut Eigendefinition ›ein gelernter schwäbischer Kleingeist‹ - und dabei eben gleichzeitig keiner.«
Peter Unfried, TAZ
Der Autor bedankt sich bei Jürgen Holwein für den Rat eines Freundes.
Ein Dankeschön auch an Bettina Hartmann.
Boxer zum Barmann:
Es war im Grunde
meine Runde.
Die Kunst des Müßiggangs
Bevor ich diese Zeilen geschrieben habe, ging ich am Morgen von meiner Wohnung hinaus auf die Straße, um Witterung aufzunehmen. Es war ein früher Herbsttag, sonnig und warm, die Zeit, die man bei uns Altweibersommer und in Amerika Indian Summer nennt. Für den Spaziergänger, den Stadtwanderer mit Hang zum Müßiggang, ist der Herbst Hochsaison. Im frühen Herbst verändert sich in der Stadt das Licht, das Licht verändert die Stadt. Die Blätter färben sich, aber noch nicht so heftig, dass man die Depressionen des Winters spürte.
Es gibt Bücher über die unterschätzte Kunst des Lichts in Filmen, und der Umherwandernde, egal ob in der Natur oder in den Straßen, hat von der Magie des Lichts gehört. Ein Mensch, der sich eine Stadt erwandert, fühlt sich wie die Figur eines Films; er achtet auf den Soundtrack der City, auf die Bilder, und er hat Respekt vor dem Licht.
Der New Yorker Autor Leonard Michaels schreibt in seinem Essay »Das Nichts, das nicht da ist«: »Früher gab es Innen und Außen, Drinnen und Draußen, Mensch und Natur. Früher gab es Natur. Die Menschen traten aus dem Haus ins Licht der Natur. Früher gab es Licht.« Diese Zeile fand ich in einem Buch über das Lichtgenie Edward Hopper, und ich würde sie nicht auf das Früher beschränken. Bei gutem Willen hat der Spaziergänger auch heute die Chance, aus dem Haus ins Licht der Natur zu treten, egal ob in Stuttgart oder New York.
Der Spaziergänger genießt keinen guten Ruf, schon gar nicht im Digitalzeitalter, wo man die Hinwendung zur Muße als esoterisch verachtet. Der Flaneur geht immer gegen den Wind. Die sich häufenden Berichte über die Burn-out-Probleme der Menschen verweisen zwar schuldbewusst auf das anstößige Wort »Pause«. Aber gezielter Müßiggang, etwa die Ablehnung permanenter Online-Präsenz, gilt als unprofessionell. Undenkbar, einer unserer »gesellschaftlichen Leistungsträger« (was er wohl trägt?) könnte seinen Drang zur Besinnung wie der Dichter Adalbert Stifter gestehen: »Ich ging täglich eine Zeit herum.« Mit diesen Worten eröffnet Stifter seine Spaziergänger-Miniatur »Begegnung im Wald«.
Meine Erstversuche als Herumgeher mit dem Ziel, als Berichterstatter aus vermeintlichem Nichtstun Kapital zu schlagen, gingen daneben. Ich hatte dieses Geschäft unterschätzt, war nicht vorbereitet. Ziellos durch die Stadt zu strolchen in der Hoffnung, etwas zu erfahren oder zu erleben, bekommt erst einen Sinn, wenn man sich darin übt, neben den Beinen auch den Gedanken freien Lauf zu gewähren.
Lange ging ich durch die Stadt, ohne zu merken, dass ich den Kopf nicht hob. In dieser Zeit sah ich die Stadt nur bis zur Gürtellinie. Kaum einmal war ich so klug, mir Geschäftsgebäude auch über den Schaufenstern anzuschauen.
Als mir aufging, dass ich so der Stadt nicht mehr abgewinnen konnte als ein Butterfahrten-Tourist, kaufte ich mir ein Fernglas. Heute dient es mir weniger dazu, Dinge auszukundschaften, die man mit bloßem Auge nicht sehen kann, als vielmehr zur Ermahnung, mir von Zeit zu Zeit in den Hintern zu treten, um den Hals zu recken.
Seitdem ist das Herumgehen eine angenehm anstrengende Arbeit. Bewusstes Herumgehen ohne Ziel schüttet mehr Glückshormone aus als ehrgeiziges Joggen in Wurstpellenklamotten. Der Flaneur macht einen zeitlosen Job. Zwar verändert sich ständig das Ambiente seines Arbeitsplatzes, nicht aber das Verhalten der Menschen, die ihm begegnen. Der große Berliner Flaneur Franz Hessel (1880 bis 1941) schreibt in seinem Text »Der Verdächtige«: »Langsam durch belebte Straßen zu gehen ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der andern, es ist ein Bad in der Brandung. Aber meine lieben Berliner Mitbürger machen es einem nicht leicht, wenn man ihnen auch noch so geschickt ausbiegt. Ich bekomme immer misstrauische Blicke ab, wenn ich versuche, zwischen den Geschäftigen zu flanieren. Ich glaube, man hält mich für einen Taschendieb.«
Sieht man heute den Flaneur schon nicht als Taschen-, so doch als Tagedieb. Flaneur übersetzt man mit Herumtreiber, Eckensteher, Penner. Diese Verachtung hat mit dem Verlust der Muße zu tun, obwohl selbst der erfahrene Spaziergänger leider selten so zweckfrei durch die Stadt geht, wie es die Philosophie des Müßiggangs verlangen würde. Ist der Stadtwanderer bewusst – nämlichen offenen Auges und ohne Ohrenstöpsel – auf Tour, gerät er aus der digitalen Welt hinein in die Geschichte einer Stadt. Dieses Glück widerfährt dem Lustwanderer nicht etwa, weil er mit einem Reiseführer in der Hand historische Gebäude oder Plätze identifiziert. Es ist die Neugierde, die ihn steuert als Detektiv.
Von zeitgenössischen Stadtplanern stammt die These, es sei hilfreich, die Komposition eines bebauten Raums mit der Komposition eines Musikstücks zu vergleichen. So wie Musik nicht nur aus Noten, sondern aus Pausen bestehe, zeichne sich eine Stadt nicht allein durch Gebäude, sondern durch freie Räume aus.
Das bedeutet: Der sinnvoll angelegte Raum zwischen den Gebäuden ist genauso wichtig wie die richtig gesetzte Pause zwischen den Noten.
Eine solche Pause ist der Park – und der Park ein Ort, der als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart dient, so wie eine Kirche in der Stadt etwas über Ruhe und Stille lehrt. Man erfährt bei der Beschäftigung mit Freiräumen und Rückzugsgebieten etwas über die Menschen, die lange vor einem da gewesen sind, so wie jede Wanderung durch einen abgelegenen Stadtteil das Interesse an der Vergangenheit und der Geschichte weckt. Seltsamerweise trifft man in jeder Stadt alteingesessene Einwohner, die viele Brennpunkte der Welt bereist, aber nie den höchsten Aussichtsturm ihrer Umgebung erklommen oder gar ein Schiff auf dem Fluss vor ihrer Haustür betreten haben. Dabei wäre es die schönste Belohnung des Stadtwanderers, sich nach getaner Arbeit ein weiteres Stück Stadt auf dem Wasser zu erschließen.
Der Stadtwanderer macht psychisch befreiende Lerngänge, das gilt selbstverständlich auch, wenn er sich illegale Autorennen auf Partymeilen anschaut, das Rotlichtviertel erkundet oder prüft, wie sich der urbane Geist einer Kommune im Kunstmuseum spiegelt. Aufschlussreich und beseelend sind stets die Friedhöfe. Der Umgang mit dem Tod spiegelt das Leben.
Falsch wäre es, dem Stadtwanderer zu viele oder zu genaue Tipps zur Hand zu geben. Der Flaneur sollte orientierungslos, ohne Karte und Navigator daherkommen, sofern er gewillt ist, sich sein Terrain mit der Kraft seiner Beine und der Wachsamkeit seiner Birne zu erarbeiten. Der Spaziergänger ist frei, nur sich selbst gehorchend, als sein eigener Herumstiefelknecht.
Im Sommer 2011 ist im S. Fischer-Verlag das schöne Buch Auf buntbewegten Gassen – Literarische Spaziergänge von Schiller bis Kafka erschienen. Was es mit dem Zusammenspiel von Stadt und Natur auf sich hat, erklärt darin Karl Gottlob Schelle (1777 bis 1825): »Beyde Arten von Lustwandeln, im Freyen der Natur und auf öffentlichen Spaziergängen einer Stadt, erfüllen den Zweck des Lustwandelns; nur erfüllt ihn jede nicht ganz. Es müssen beyde miteinander verbunden werden, wenn das Lustwandeln alle die Vortheile gewähren soll, welche sich davon für unsere geistige Existenz versprechen lassen.«
Diese Sätze gelten, solange wir Wandern auf Schusters Rappen als geistiges Wandeln begreifen. Bald kommt der Winter, und das Licht wird alles verändern.
Hirsch da Lupo
Zwischen den Jahren sind die Rhythmusstörungen in der Stadt zu spüren. Nur wenige Obst- und Gemüsehändler haben es am Morgen auf den Marktplatz vor dem Rathaus geschafft. Die aufgekitschten Bretterbuden des Weihnachtsmarkts sind verschwunden, der Platz liegt da wie ein geräumtes Camp. Auf den Pflastersteinen Tannenzweige, als hätte man im Nahkampf Christbäume wie Gänse gerupft, und aus den Freiluftboxen bei Breuninger dröhnt »Kling, Glöckchen, klingelingeling«. Der Kaufhaus-DJ bemerkt das falsche Timing, er schaltet um auf Hotelbar-Jazz.
Die Jazzmusik in Deutschland, habe ich am Morgen in der Zeitung gelesen, schwächelte im alten Jahr bedrohlich. Um nicht frühzeitig selbst dem Jazz zu folgen, kaufe ich mir auf dem Markt ein Glas Hägenmark. Ein Löffel Hägenmark am Morgen macht stark, wenn die Dinge zu Ende gehen. Bevor Weihnachten zu Ende gegangen war, fuhr ich zum ersten Mal mit der neuen Stadtbahn-Linie 15 nach Stammheim. Straßenbahnfahren in unerforschten Gegenden ist an harten Tagen weniger depressiv, als zu Fuß zu gehen.
Die wenigen Leute in der Bahn sprechen Italienisch oder Türkisch, und sie klingen, als hätten sie Gründe, fröhlich zu sein. Ich schaue zum Fenster hinaus, lese die Werbung und versuche mir einen Reim auf die Plakate von Marlboro zu machen: »Don’t be a Maybe«.
Meine Übersetzungskünste sind eher landläufiger Natur. Ich notiere: »Sei kein Vielleicht-Typ«, »keine Mal-so-mal-so-Memme«, »kein Eventuell-Trottel«.
Leider rauche ich seit Jahren nicht mehr, und meine Maybe-Übersetzung zündet auch nicht. Dann kommt es mir. Das englische Maybe als Hauptwort bedeutet zu Deutsch: der Womögliche. Jeder weiß, was ein Womöglicher ist: ein Grünen-Politiker, einer wie Cem Özdemir. Heute so, morgen so, und übermorgen klingelingeling. Cem Maybemir. Der Vielleichtgewichtler aus Bad Urach.
Nordbahnhof, Pragsattel, Feuerbach, Zuffenhausen. Die Kneipen linker Hand heißen – als hätte es die Globalisierung nie gegeben – Linde und Wallenstein, Löwen und Sonne. Die Sonne – man kann es weithin lesen – offeriert Übernachtungen ab 23 Euro. Ein fairer Preis zum Probeliegen, wenn man bedenkt, was eine Ruhestätte auf dem Pragfriedhof kostet.
Die Bahn fährt zügig, wir lassen die Sonne und viele Zockerbuden hinter uns, und bald erreichen wir Stammheim. Durchs Fenster sehe ich das Straßenschild Tuchbleiche. Früher wurde an diesem Ort handgewobenes Leinen auf den Wiesen der Sonne zum Bleichen ausgelegt. Heute ignoriert man die alten Flurnamen in der Stadt.
Wer an der Endstation Stammheim aussteigt, landet zwischen dem Fachwerkhaus mit der Gaststätte Rössle und dem etwas schäbigeren Altbau mit dem Asperg-Stüble. In beiden Kneipen ist das Bier günstig, keine Orte für zögerliche Maybes.
An der Haltestelle sehe ich ein Plakat: »Flittchen im Kittchen«, die Ankündigung für ein Stück im Renitenztheater, man hat es »SingSingSpiel« genannt. Sing Sing war hierzulande mal ein anderes Wort für Gefängnis, Kittchen oder (wie in Stuttgart) Containamo, meist in deutschen Film- und Fernsehklamotten Mitte des vorigen Jahrhunderts. Sing Sing heißt bis heute der berüchtigte Hochsicherheitsknast im US-Bundesstaat New York, der Name ist abgeleitet von dem Indianerwort »Sint Sinks«, zu deutsch: Stein für Stein. Stein für Stein mussten die Gefangenen ihren Knast Sing Sing im 19. Jahrhundert selbst bauen. Die moderne Marktwirtschaft kennt diese Produktionsweise als Synergie-Effekt.
Von der Endhaltestelle aus ist das Stuttgarter Sing Sing zu sehen, weltweit berühmt als Stammheim. Ein Gefangener kann sich, sofern des Deutschen mächtig, keinen zynischeren Namen für einen Knast vorstellen als Stamm-Heim. Vor dem Gefängnis sehe ich am Besucher-Eingang den Hinweis: »Tür öffnet und schließt selbsttätig.« Ich beschließe, draußen zu bleiben.
Imposant ist die Umgebung der Justizvollzugsanstalt Stuttgart. In der Nachbarschaft haben kluge Politiker den Treff Sieben Morgen untergebracht, das soziale Stamm-Heim der freien Kinder und Halbwüchsigen im hohen Norden. Vor dem Jugendhaus ließen sie Schutzschilde aus Stahl und Holz aufstellen, wohl mit der pädagogischen Weitsicht, den Insassen den Blick auf ihre Zukunft zu verbauen.
Den entscheidenden Beweis für eine erfolgreiche Integrationspolitik in Stammheim finde ich auch außerhalb der Knast-Gegend. Als ich an einer Pizzeria vorbei komme und ihren Namen lese, geht er mir runter wie zwei Löffel Hägenmark. Die Kneipe nennt sich: Hirsch – da Lupo.
Ein Hoch auf Lupo, den guten Wolf von Stammheim. Er hat dem alten Hirsch die Haut gerettet.
Der Apotheker
Mit meinem Klapprechner, den ich zur Freude mancher Leser auch Fink nenne, stiefelte ich durch die Stadt und suchte einen Platz zum Aufwärmen. Die Stadt im frühen März war so kalt, dass ich bald die Hoffnung aufgab, irgendwo drinnen könnte es wärmer sein als draußen. Und weil ich in einem Alter bin, wo man die Apotheken Umschau neben den Rolling Stone legt, ging ich in eine Apotheke. Das war weit im Westen der Stadt. Ich verlangte Aspirin Complex, Schnupfenspray mit 24-Stunden-Wirkung sowie 1000 Jodtabletten.
Ich plauderte ein wenig mit dem Apotheker, ich hatte ihn nie zuvor gesehen. Er hatte weiße Haare, wache Augen und vermutlich schon einige Jahre vor mir die Apotheken Umschau neben den Rolling Stone gelegt. Wir sprachen über die Machenschaften der Pharmaindustrie, und er erzählte, wie er neulich Geld für Medikamente an einen US-Konzern überweisen musste, obwohl er für die gleichen Pillen noch wenige Tage zuvor bei einer deutschen Firma bezahlt hatte. »Der große Tiger frisst alles«, sagte er und führte seine Hände zum Mund. »Ja«, sagte ich, »alles gehört heute denselben Banditen.« »Da haben Sie recht«, sagte der Apotheker, »überall das gleiche Lumpenpack. Ich sage Ihnen: Die stecken alle unter einer Decke.« Der Mann war mir auf Anhieb sympathisch, auch weil ich den Ausdruck Lumpenpack seit Jahren nicht gehört hatte. Das Wort klingt betörend, wie der heute leider vergessene Scherenschleifer, der Halbdackel oder Kuttenbrunzer.
Nachdem wir drei Minuten lang das organisierte Verbrechen von China bis Kalifornien beleuchtet hatten, gab mir der Apotheker den Kassenbon. Es machte 29 Euro fünf. Ich legte 30 Euro auf den Tisch, und der Apotheker gab mir zwei zurück. Als ich ihn verwundert anschaute, sagte er: »Wir runden ab auf 28 Euro. Endlich habe ich mal einen gefunden, der die gleiche Gesinnung hat wie ich.«
Ich bedankte mich überschwänglich, griff die neue Apotheken Umschau und ging herzerwärmt hinaus in die Kälte. Nie zuvor hatte ich von einem Gesinnungsbonus im Pharmageschäft gehört.
Ich stieg in eine Bahn Richtung Stadtmitte, kaute auf einer Ladung Jodtabletten und blätterte müde in der brandneuen Apotheken Umschau – bis ich auf einen Bericht stieß, der besser aufputschte als Aspirin Complex. Der Text handelte von den Orientierungsproblemen des Menschen.
Seit ich lebe, habe ich enorme Schwierigkeiten, mich in der Welt zurechtzufinden. Die Ursache des Problems, erfuhr ich aus dem Artikel, ist die Tatsache, »dass der regelmäßige Gebrauch von Navigationsgeräten den Orientierungssinn verkümmern lässt«.
Diese Nachricht war ein Schock. Wenige Tage zuvor war es mir nur mithilfe meines Taschentelefons gelungen, Namen und Standort eines Frankfurter Cafés zu ermitteln, in dem ich gerade Kartoffelsuppe mit Wiener Würstchen zu mir nahm. Seit jeher leide ich an katastrophaler Orientierungslosigkeit. Allein deshalb habe ich Stuttgart nie verlassen. Noch heute kommt es vor, dass ich mich in meiner Nachbarschaft verlaufe. Es gab Zeiten, da habe ich tage- und nächtelang nicht nach Hause gefunden. Nicht einmal mit dem Taxi.
Der Artikel in der Apotheken Umschau hieß »Kompass im Kopf« und förderte wichtige psychologische Erkenntnisse zu Tage. Zitat: »Da das Auge eine herausragende Rolle spielt, tun sich blinde Menschen grundsätzlich mit der Orientierung schwer.«
So präzise hatte das noch nie einer gesagt. Jetzt erst wurde mir mein wahres Handicap bewusst. Als ich ausstieg, begriff ich, warum etwas nicht stimmt mit meinem Kompass im Kopf. Gott hat vergessen, die Nadel einzubauen. Kaum aus der U-Ebene aufgetaucht, sah ich in der Eberhardstraße einen Computerladen, und ich war mir sicher, dass an dieser Stelle noch kurz zuvor ein Waffengeschäft für Luftgewehre, Schmetterlingsmesser und Pfefferspray geöffnet hatte. Könnte sein, dass ich vor dem Geschäft eine Wahrnehmungsstörung erlitten hatte. Als härteste und blutigste Waffe gilt inzwischen der Computer, weit wirkungsvoller als jede Kalaschnikow. Die Amerikaner behaupten bis heute, der Klapprechner sei dem Kriegsbeil überlegen. Vietnam, Afghanistan und Avatar in 3 D jedoch haben uns etwas anderes gelehrt.
Sobald mein Schnupfen auskuriert ist, werde ich mir eine neue Krankheit zulegen und erneut den weisen Apotheker aufsuchen. Bis dahin müssten Berlusconi und Gaddafi, Mubarak und Kretschmann vom Schirm sein. Und der Apotheker und ich würden so viel und so lange über die Rest-Mafia zu reden haben, bis sich meine Medikamentenrechnung bei null einpendeln dürfte.
Allerdings gibt es inzwischen ein Problem: Ich habe keine Ahnung, wie ich meine Apotheke wiederfinden könnte. Sie war verdammt tief im Westen, ich kann mich nicht an die Adresse erinnern, auch nicht an ihren Namen. Mir wird nichts anderes übrigbleiben, als wildfremde Leute in den Straßen zu fragen, ob jemand den weisen Apotheker vom Westen kennt. Ich muss ihn finden, er ist der letzte Mann mit einem Kompass im Kopf. Helfen Sie mir, werde ich den Leuten zurufen: Ich suche den Mann, der weiß, wo das verfluchte Lumpenpack unter einer Decke steckt.
PS: Anfang 2012, ein Jahr, nachdem dieser Text erschienen war, erhielt ich anonym eine Nachricht, mein Apotheker sei gestorben.
Der Zaun
Nicht ohne Grund kommt der Spaziergänger oft daher, als hätte man aus seinem Pferd Salami gemacht. Der Spaziergänger ist der kleine Bruder des Cowboys. Feinde des Spaziergängers sind nicht der Autofahrer oder der Radfahrer. An diese Kampfmaschinen hat er sich gewöhnt. Der Spaziergänger hat etwas gegen Zäune. Wer Herumstreunen als einen Akt der Freiheit begreift, sieht den Zaun als Symbol des Bösen.
Die Verachtung gilt in erster Linie dem Stacheldraht, einer amerikanischen Farmer-Erfindung des späten 19. Jahrhunderts. Warum der Cowboy Stacheldrähte hasst, hat uns King Vidors Western Man Without a Star von 1955 gelehrt. Kirk Douglas spielt einen Mann, der erlebt, wie sie den Traum von endloser Weite und Freiheit zerstören. Nach der Jahrtausendwende sollte zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko ein mehr als tausend Kilometer langer Zaun gebaut werden.
Vor allem die Deutschen haben Zäune als Vehikel der Niedertracht kennengelernt. Am 13. August 1961, sechzehn Jahre nach dem Nazi-Terror mit seinen KZ-Zäunen, begann die DDR-Regierung mit dem Bau der Berliner Mauer. Als fast ein halbes Jahrhundert später Journalisten ohne Ortskenntnisse die »Stuttgarter Republik« ausriefen, stand in deren Hauptstadt ein Zaun. Kein Stacheldrahtzaun, ein Bauzaun aus Maschendraht. Die Deutsche Bahn und ihre Helfershelfer aus der Politik hatten ihn zur Kastration des Hauptbahnhofs errichten lassen. Er schützte die Barbaren bei der Zerstörung des denkmalgeschützten Paul-Bonatz-Baus. Im August 2010 fiel der Nordflügel. Später wurde auch der Südflügel abgehackt.
Kaum war im Sommer 2010 der Bauzaun am Bahnhof aufgebaut worden, verkörperte er mehr, als den Drahtziehern der Profitmaximierung lieb sein konnte. Die Gegner des Größenwahnprojekts Stuttgart 21 eilten nicht etwa herbei, um das hässliche Stadtmöbel einzureißen. Sie nutzen es als Aushängeschild ihrer neu erwachten Fantasie.
Es war klar, im Monat August, der Geburtsstunde der deutschen Mauer, würden auch die Berliner Bilder in den schwäbischen Köpfen spuken. »Halt, Zonengrenze!«, stand auf einem Schild am Bauzaun, »Sie verlassen den demokratischen Sektor der Stadt Stuttgart.« Bald war der Zaun mit Zeugnissen erstaunlicher Kreativität behängt, die Botschaften oft politischer als einst die Lackmeiereien der Berliner Mauer-Sprayer (»Schade, dass Beton nicht brennt«).
Neben Brecht und Gandhi, Jesus und Maria hatte in Stuttgart naturgemäß der Kalauer seinen großen Auftritt. Auf der Saustelle, Teil der Bahnanenrepublik, herrschten die Gesetze der TaliBahn, und beim Blick auf den geplanten Tiefbahnhof lautete die erste Lebensregel: »Oben bleiben – Unter die Erde kommen wir noch früh genug.«
Der ideenreich behängte Zaun wurde eine Touristenattraktion, besonders gefiel er als Galerie des Lügenpacks, angeführt vom Regierungschef Mappus, dem fülligen Paten der Mappia. Wie überheblich und einfältig die Machtbacke von Mühlacker operierte, brachte eine Kabarett-Sendung im ZDF ans Licht. Der Ministerpräsident hatte die SPD im Landtagswahlkampf 2011 mit einem Zirkus-Lama in der Fußgängerzone verglichen: Mitleid erregend und im Weg stehend, wie ein Zaun. Diesen Gag hatte ihm nicht wie sonst sein Vormund aus der Investmentbanker-Branche diktiert. Diesmal hatte er seinen Spruch bei dem Komiker Erwin Pelzig gestohlen. In seiner Show führte Pelzig vor, wie stümperhaft Mappus die Lama-Nummer am Rednerpult aufführte.
Politischer Stil war längst begraben, als der Bauzaun stand. Ende 2011 stellte das Stuttgarter Haus für Geschichte den zerlegten Bauzaun im Museum aus. Dahinter steckte das Kalkül, der Protest lasse sich nicht nur als Zeitgeist- und Event-Stoff ausschlachten, sondern auch für beendet erklären. Da zuvor die manipulierte Volksabstimmung stattgefunden hatte, sollten die Unbedarften glauben, der Protest sei in der Abstellkammer der Geschichte gelandet. Verräterischer Titel der Schau: »Dagegen leben?« Diese Frage entsprach der politischen Meinungsmache, die Protestbürger seien die üblichen »Fortschrittsverweigerer«.
Mein eigenes Zaun-Erlebnis hatte ich am 20. Juni 2011. An diesem Tag war ich als Schlussredner bei der Montagsdemonstration am Hauptbahnhof eingeteilt. Einleitend erinnerte ich daran, dass am 20. Juni 1933 Clara Zetkin gestorben sei, eine große Demokratin, die viele Jahre in Stuttgart gelebt habe, erst in Sillenbuch, dann in der Blumenstraße. Früh schon habe diese Frau begriffen, wo die Politik der SPD einmal hinführen werde: zu Sozenspießern wie Drexler, Schmiedel, Schmid ...
Kurz vor dem Tag meiner Rede war der 14. Juli 2011 als Datum für die Veröffentlichung der sogenannten Stresstest-Ergebnisse für S21 ausgerufen worden. Der 14. Juli als Erntedankfest des Schlichtungsheuchlers Geißler, einem oft gewürdigten Zaun-Gast der Lügenpack-Galerie, und so wählte ich als Schlusspointe meiner Rede wieder einen historischen Schlenker. Wenn ich richtig informiert sei, sagte ich, hätten die Bürger von Paris an einem 14. Juli beim Sturm auf die Bastille eine Tat vollbracht, die ganz Frankreich bis heute mit einem Feiertag zu würdigen wisse.
Ich war bereits auf dem Weg nach Hause, als die Nachricht kam, Unbekannte hätten den Bauzaun gestürmt und Rohre für das »Grundwassermanagement« der Baustelle beschädigt. Ferner habe es ein Gerangel mit einem bewaffneten Zivilpolizisten gegeben. Der Beamte sei »schwer verletzt« worden. Zwar saß er, wie man wenig später auf Videos sehen konnte, nach dem Kampf telefonierend im Auto und verließ nach Aussagen seiner Kollegen am nächsten Morgen bei guter Gesundheit das Krankenhaus. Dennoch wurde lange die Mär verbreitet, man habe ihn »halb totgeschlagen«. Die wie stets auf dem rechten Auge objektive Staatsanwaltschaft ermittelte wegen »versuchter Tötung«. Prompt wurde ich wegen meiner Bastille-Bemerkung als »Hetzer« und »Brandstifter« beschuldigt. So etwas ist üblich in einer Stadt, von der es heißt, sie sei geteilt.
Da aber am Tatort Zangen zu sehen waren, gehe ich bis heute davon aus, dass sich die Rohrsoldaten ihr Werkzeug schon vor dem Schlusssatz meiner Rede besorgt hatten. Der nächste Obi nämlich liegt etliche Kilometer entfernt. So war es an diesem 20. Juni wohl ein anderer Agent als ich, der beweisen wollte: Auf dem Weg zur Freiheit ist mein Freund, der Zaun, kein Hindernis.