Buch lesen: «Jennings, Erdprotektor»
Joachim Reinhold
Jennings, Erdprotektor
"Die Wächter von Stonehenge" oder "Der atemberaubende Achterbahnritt eines psychisch Kranken"
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Dankeschön
Achtung!
Drei Tage zuvor: Eine holprige Landung auf Staatskosten
Zuckerbrot und Peitsche
Shoppen und Umfallen
Countdown
Irgendwo im Nirgendwo
Engel und Teufel
Im Vorhof zur Hölle
Arsinoë
Angebote und Bekanntschaften
Wie die Jungfrau zum Kind
Ruhe vor dem Sturm
Up & Down, Top & Bottom, Charm & alles ziemlich Strange
Donkey Tom
Am Rande der Unendlichkeit
Wie zerronnen, so gewonnen
Mit vollem Mund spricht man nicht
Die Welt ist eine Bühne
Über Sieger und Besiegte
Vom Regen in die Traufe
Zu Risiken oder Nebenwirkungen ...
Vorschau
Impressum neobooks
Dankeschön
Meinen Freunden Kate & Sie,
ihrer unsterblichen Liebe,
meinen Eltern Eva & Hansjoachim,
meiner Frau Katrin,
Miriam Pharo
sowie allen
Leserinnen & Lesern
in Dankbarkeit
gewidmet.
Die Erwähnung anderer Werke, ihrer Figuren und Handlungen sowie Zitate anderer Autorinnen und Autoren ist als Hommage gedacht, als meine respektvolle Verbeugung vor dem Genius ihrer Darstellerinnen und Darsteller, ihrer Schöpferinnen und Schöpfer.
5. Ausgabe
6. Dezember 2015
Achtung!
»Sie hören eine Sondersendung der BBC zum nuklearen Anschlag auf England und die freie Welt. Soweit funktionstüchtig, lassen Sie Radio und Fernsehen eingeschaltet, verbleiben Sie in Ihren Häusern und bewahren Sie Ruhe.
Stonehenge ist zerstört, die Region um Salisbury wurde verstrahlt. In Kürze wird der radioaktive Fallout unsere Südküste erreichen und in Richtung Frankreich abdriften. Buckingham Palace wurde evakuiert, die königliche Familie in Sicherheit gebracht. Premier- und Verteidigungsminister haben die Armee angewiesen, die öffentliche Ordnung notfalls durch Waffengebrauch zu gewährleisten.
Wir wiederholen: Lassen Sie die Empfangsgeräte eingeschaltet, verbleiben Sie in Ihren Häusern und bewahren Sie Ruhe.«
Drei Tage zuvor: Eine holprige Landung auf Staatskosten
Schreien möchte ich. So laut ich kann. Stattdessen presse ich tapfer meine Lippen aufeinander und ertrage die grauenhafte Enge meiner Lage. Während in der Business und First Class das süße Leben mit Hummerschwänzen und Champagner zelebriert wird, fühle ich mich im Economy Bereich wie die berüchtigte Sardine in ihrer öligen Büchse. In meiner Platznot werfe ich mehrfach meinen Kopf gegen den Sitz, nur besser wird es davon nicht.
Neben mir aalt sich eine monströse Schachtel, der ein T-Shirt mit dem Aufdruck "Ich bin zwei Öltanks" besser stehen würde, als ihre pink-weiß getupfte Rüschenbluse. Schlechten Geschmack kann ich vergeben, Körpergeruch hingegen nicht. Die Dame mieft aus allen Knopflöchern wie ein Kuhstall am Tag der offenen Scheune.
Narkotisiert von ihren Ausdünstungen blicke ich aus dem Fenster.
Es knackt, ich zucke zusammen. Aus dem Bordlautsprecher säuselt eine Stewardess. »Aufgrund eines Sicherheitsproblems möchten wir Sie bitten, nach unserer Landung auf Ihren Plätzen zu verbleiben, bis die Flughafenbehörden Ihren Ausstieg freigegeben haben. Vielen Dank.«
Eine Schrecksekunde später bricht das Chaos aus. Das übergewichtige Frauenzimmer holt tief Luft, schwabbelt einen Teil ihrer Fettpolster in meine Seite und schreit wie am Spieß. »Hilfe! Wir haben eine Bombe an Bord!«
Wie auf Knopfdruck heulen ein paar Babys, andere Passagiere stimmen in das Geschrei meiner Nachbarin mit ein oder versinken vor Schreck in ihren Sitzen. Schneller als der Schall bauen sich zwei Stewardessen vor Miss Piggy auf und endlich kehrt Ruhe ein.
Minuten werden zu Stunden, irgendwann quietschen die Räder. Merry Old England hat uns wieder. Das Flugzeug rollt friedlich aus, die Gangway dockt an. Kaum ist die Kabinentür zur First Class offen, stürmt ein schwer bewaffnetes Rudel Soldaten an Bord.
»Cool«, denke ich und will applaudieren, da blicke ich zu meinem Entsetzen in die Läufe von vier entsicherten Maschinenpistolen.
»Thomas Kyle Jennings?«
Bevor ich einen Laut von mir geben kann, wuchtet eine weitere Einheit meine Nachbarin aus ihrem schweißnassen Sitz und verfrachtet sie nach hinten. Unfähig zu antworten nicke ich.
»Sie stehen jetzt ganz langsam auf und halten Ihre Hände deutlich sichtbar über Ihren Kopf.«
Mein Herz rutscht in die Hose. Ahnt, dass ich der nächste bin, dessen Achselhöhlen müffeln werden. Kaum habe ich meine Arme in der Luft, spielt sich alles für mich wie in Zeitlupe ab. Handschellen klicken, stählerne Hände tasten an mir herum. Die kalten, stahlblauen Augen des mutmaßlichen Einsatzleiters fixieren mich.
»Jennings? Gegen Sie liegt ein internationaler Haftbefehl vor. Im Namen Ihrer Majestät darf ich Sie bitten, mitzukommen. Sie sind verhaftet!«
Unser Marsch durch die Flughafen-Unterwelt dauert nicht lange. Schließlich hocke ich mit gefesselten Händen und Füßen auf einem unbequemen Stuhl. In meinem Nacken spüre ich die Läufe zweier Maschinenpistolen. Grelles Licht blendet mich und überdeckt die Gesichtszüge des Einsatzleiters wie in einem billigen Agentenfilm. Null-Null-Jennings, am Arsch verzagt.
»Name?«
»Thomas Kyle Jennings«, stammele ich. »Warum haben Sie mich festgenommen?«
»Wir stellen hier die Fragen!«
»Ich habe nichts verbrochen!«
Ein dumpfer Schlag gegen meinen Hinterkopf bringt mich zum Schweigen.
»Hören Sie Jennings. Ich habe keinerlei Skrupel, Sie wie einen räudigen Hund abzuknallen, wenn Sie weiterhin den Unschuldsengel mimen wollen. Also: Geburtsdatum? Ort?«
»Sir, ich bin Epileptiker, ich halte das nicht aus.«
»Von mir aus können Sie auch Vegetarier sein. Wann und wo wurden Sie geboren?«
»26. Oktober 1975. Port Palpina, USA. Bundesstaat New York.«
»Vater?«
»Kyle Steward Francis Jennings, CIA Spezialagent. Im Einsatz gefallen. Kurz vor meiner Geburt.«
»Mutter?«
»Angela Rowena Winters, verheiratete Jennings. Selbstmord 1980.«
Mein Angstschweiß mischt sich mit meinen Tränen, tropft zu Boden.
»Sie wohnen bei Miss Daisy Perpugilliam Winters, der Halbschwester Ihrer Mutter?«
»Ja«, stöhne ich, kämpfe mit der Last meiner Erinnerungen. »Meine Tante adoptierte mich kurz nach Mutters Beerdigung.«
»Sie studieren zusammen mit Ihrer Verlobten Caitleen Isabelle Vanessa Shaw in Oxford?«
»Katee studiert Psychologie, ja. Ich Astronomie, ich meine Physik.« Mir wird klar, dass auch ohne Studium mein Schicksal in den Sternen steht.
»Wie ist Ihre Position innerhalb von Al-Kaida und was planen Sie als nächstes?«
»Al-Kai… was?«, flüstere ich und schlucke. Das Wort kling arabisch. Ich überlege fieberhaft. Nein, Al-Kaida sagt mir nichts. »Sir, ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
Aus dem Nichts klatscht ein Großfoto in mein Gesicht.
»Da! Reicht das, um Ihren Erinnerungen auf die Sprünge zu helfen?«
Mühsam blinzele ich auf das Foto. Es zeigt drei Männer in einer Bar. Zwei von ihnen scheinen orientalischer Abstammung zu sein, der dritte bin ich. Langsam läuten bei mir die Glocken, ihr Gebimmel versetzt mich in die Vergangenheit zurück.
Es ist Freitagabend, der 7. September 2001. Ich schlurfe durch Hollywood. Nicht durch das aufgemotzte Filmstädtchen der Reichen und Schönen in Kalifornien, sondern durch ein Kaff in Florida. Vom Atlantik her weht eine kühle Brise, facht meinen Appetit an und mein Magen knurrt. Hungrig nach einem leckeren Snack bleibt mein Blick auf einem Etablissement haften: Shuckum's Oyster Bar. Austern sind mein Leibgericht und hier in Amerika spottbillig. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, als ich dort einkehre.
Bis auf den Wirt, seine Kellnerin und zwei finstere Gestalten ist der Laden leer. Ich bestelle das House Special. In einer vom obligatorischen Fernseher nicht beschallten Ecke finde ich ein gemütliches Plätzchen. Die Austern samt einer guten Flasche Wein kommen, alles ist wunderbar. Bis auf den Umstand, dass sich die Kerle lautstark mit dem Wirt streiten.
»Natürlich kann ich unsere Rechnung bezahlen, ich verdiene gut. Ich bin Pilot!«
Ich bewundere Piloten. Sie sitzen im Cockpit, haben die Verantwortung für das Leben der ihnen anvertrauten Fluggäste. Und trinken Rum? Stolichnaya Vodka mit Orange Juice! Wie bitte passt das ins Bild?
»Oi!«, entfährt es mir einen Tick zu laut und die Augen der Orientalen rucken in meine Richtung. Ohne dass sich ihr Kopf mitbewegt. Wie bei Haifischen.
»Ist was?«
Während ich überlege, packt der ältere der beiden ein Bündel Dollarscheine auf den Tresen, nickt verächtlich und stakst auf mich zu. Der jüngere Mann folgt seinem Kumpel.
»Hey, Wirt!«, rufe ich leicht panisch und rudere mit den Armen in der Luft. »Eine Runde für alle, ja?«
Die Männer bleiben einen Tisch von mir entfernt abrupt stehen, blicken sich verdutzt an. »Ach, Gringo säuft nicht gern allein. Verstehe. Ha, ha.«
Mein kleiner Trick hat funktioniert. Für einen Moment schließe ich erleichtert die Augen. Als ich sie öffne, schnappen sich die beiden zwei Stühle und setzen sich zu mir. Unsere Drinks treffen ein und wir kommen ins Gespräch.
»Wir sind tatsächlich Piloten«, lallt der Ältere und stellt sich als Amir vor.
»Ab morgen jedenfalls«, wirft der Jüngere ein. »Wir haben heute unsere Lizenzen bekommen.«
»Ach so«, entgegne ich und reiche ihnen die Hand, »und jetzt wollt ihr feiern, richtig?«
»Ja! Deshalb der Vodka. Zum ersten und letzten Mal in unserem Leben.«
Beide brüllen vor Lachen, Amirs Hand zittert und Stolichnaya tropft auf den Tisch.
»Cheers!«
Das Ritual wiederholt sich mehrfach und unsere Blicke werden stumpfsinniger. Dank des steigenden Alkoholspiegels sind wir uns nicht unsympathisch. Meine neuen Freunde platzen vor Stolz über sich und ihr erstes Kommando. Ein paar Drinks später dämmert es mir, dass ich gehen muss, wenn ich nicht in einer Ausnüchterungszelle aufwachen möchte. Unbeholfen stehe ich auf und stottere mein Goodbye.
»Warte!«, befiehlt Amir und wechselt mit seinem namenlosen Freund ein paar schaurige Blicke. »Wann wolltest du nach London zurück? Am Elften? Über New York? Ahhh, schlecht. Weißt du was? Die Wetterlage sieht nicht gut aus, Junge. Dunkle Wolken, Blitz und Donner. Weltweite Turbulenzen. Sieh zu, dass du von Miami abfliegst, okay?«
Heathrow. Gegenwart, 11. September 2001. Jennings. Fertig mit dem Leben und der Welt.
»Und den Quatsch sollen wir Ihnen glauben? Sagen Sie, für wie bescheuert halten Sie uns?«
»Sir, bitte glauben Sie mir, ich weiß weder, mit wem ich da in der Bar getrunken habe, noch was Sie von mir wollen.«
Auf meiner Zunge liegt das unschuldige Wort ehrlich, doch durch die plötzliche Anwesenheit eines Pistolenlaufs in meinem Mund wird es seines Auftritts beraubt.
»Tja, Jennings. Sie hatten Ihre Chance. Goodbye!«
Peng!, denke ich, kneife schnell die Augen zu.
Ein Telefon klingelt und das Herz in meiner Brust stolpert. Ich reiße die Augen auf, keuche. Herzinfarkt?
Ein Soldat hebt ab, hält den Hörer ins Licht. Mein Peiniger zieht die Pistole aus meiner Mundhöhle, greift unschlüssig nach dem Hörer. »Wir haben ihn hier, spielt den Unschuldigen. Was sagen Sie da? Ja, habe verstanden. Wie Sie meinen. Geht in Ordnung. Auf Wiederhören, General.«
Das grelle Licht wird durch eine gedämpfte Beleuchtung ersetzt. Ich atme noch heftig, ahne, wie nah ich dem Tod gewesen bin. Oder Opfer einer versuchten Scheinhinrichtung.
»Nun, Mr Jennings«, flüstert mein Folterknecht sichtlich betroffen. »Im Namen Ihrer Majestät entschuldige ich mich für die kleine Unannehmlichkeit. Die Kollegen vom FBI haben Sie gerade rehabilitiert.«
Ein Zivilbeamter führt mich aus dem Isoliertrakt des Flughafens in den öffentlichen Teil. Er versucht, die letzte Stunde als ein tragisches Missverständnis dazustellen.
»Der Commander hat nur seine Pflicht getan. Ironfist ist schließlich auch nur ein Mensch.«
»Ein feiner Mensch, Ihr Commander. Der Penner wollte mich abknallen!«, sage ich abfällig. »Und davon abgesehen, verraten Sie mir endlich, was um alles in der Welt geschehen ist?«
»Sir, ich kann und darf Ihnen keine Einzelheiten nennen. Nur so viel: Schauen Sie sich die Nachrichten an. Ich bin mir sicher, dass Sie anschließend die Handhabung Ihrer Person verstehen werden.«
Wir erreichen die letzte Sperre. Nachdem ich mir mein wartendes Gepäck geschnappt habe, trete ich grußlos in mein Leben zurück. Meine Verlobte Katee und Tante Daisy sind aschfahl im Gesicht, wirken wie Trauergäste auf einer Beerdigung und nicht wie ein glückliches, vom Warten zermürbtes Begrüßungskomitee. Ob man sie ebenfalls verhört hat?
»Tommy, New York steht in Flammen«, flüstert Katee und fällt mir heulend in die Arme. »Wir sind im Krieg!«
Zuckerbrot und Peitsche
Noch in Straßenklamotten stürme ich ins Wohnzimmer und schalte den Flimmerkasten an. Die unterwegs gekaufte Tüte mit den leckeren Wimpy Burgern landet achtlos auf dem Teppich. Die Bilder aus New York, Washington und Pennsylvania lähmen mich. Salzige Tränen brennen in meinen Augenwinkeln. Letztes Jahr hatte ich vom World Trade Center gespuckt und jetzt gibt es die Zwillingstürme nicht mehr?
Meine Mundwinkel zucken. Auf der Skala menschlicher Perversität ist eine neue Markierung mit dem Blut Unschuldiger aufgetaucht. Meine Tortur im Flughafen ist damit nicht aus der Welt, aber nachvollziehbarer geworden. Die Spirale aus Gewalt und Gegengewalt beginnt sich erneut zu drehen. An ihrem Ende werden Chaos und Tod stehen, nicht für die Terroristen, sondern für die zivile Bevölkerung in den Staaten, in welchen man die Terrorzellen vermutet.
Ohnmächtig zappe ich durch die Kanäle. Auf ITV läuft die millionste Wiederholung von "Der Tag, an dem die Erde stillstand". Mein Lieblingsfilm mit Michael Rennie und Patricia Neal in den Hauptrollen. Ohne hinzuschauen, kann ich Klaatu auswendig zitieren.
»Ihre Wahl ist einfach, entweder Sie leben in Frieden mit uns oder riskieren Ihren Untergang. Die Entscheidung ist Ihnen überlassen.«
Fünfzig Jahre sind seit jenen Worten verstrichen, ihre stille Mahnung ist in den Schreien der heute gestorbenen Menschen untergegangen.
»Thomas! Darling! Post für dich. Ein Einschreiben. Kommst du bitte runter?«
Tante Daisys Ruf reißt mich aus dem Schlaf, für wenige Sekunden bin ich desorientiert. Durch meinen Kopf stampft eine Horde brunftiger Elefanten, der Kopfschmerz ist nicht ohne. Katee stöhnt und vergräbt sich unter ihrer Decke.
Feige wie ich bin, habe ich meiner Familie nichts über das Verhör und das vorausgegangene Besäufnis erzählt. Es war pures Glück, dass meine Peiniger sich zunächst auf mich konzentriert und meine Familie verschont haben. Tante Daisys Herz ist krank und hätte das Verhör nicht überlebt. Mit einer mir peinlichen Notlüge habe ich mich aus der Affäre gezogen, den müden Reisenden gemimt, der von den neuen, anschlagsbedingten Einreisebefragungen ausgezehrt ist. Mehr im Schlaf als im wachen Zustand ziehe ich mir Hemd und Hose über und stakse die Treppe zur Haustür herunter. Mein Blick fällt auf die alte Standuhr, es ist später Vormittag.
Tante Daisy steht in der Tür und hält das übliche Schwätzchen mit Mr Miller, unserem Postboten. Klar, New York ist auch hier das vorherrschende Thema. Mich gruselt vor dem Moment, wenn meine Tante erfährt, dass ihr kleiner, süßer Tommy den Terroristen ihre ersten und letzten Drinks spendiert hat.
»Ah, der junge Mr Jennings!«, ruft Mr Miller und kramt geschäftig in seiner großen Tasche, zieht einen Brief heraus und reicht ihn mir samt einem Quittungsbuch und Kugelschreiber. »Wenn Sie noch die Güte haben, mir kurz den Empfang zu bestätigen?«
Ich kritzele mein übliches XY in das Buch, grüße kurz und verschwinde mit dem Brief in der Diele. Argwöhnisch mustere ich den Umschlag. Merkwürdig, kein Absender. Mit einem lauten Ratsch reiße ich ihn auf und setze mich auf den Treppenabsatz. In meinen Händen liegt ein Brief des Verteidigungsministers.
Ministry of Defence
Whitehall, 11. September 2001
Ehrenwerter Mr Jennings,
im Auftrag Ihrer Königlichen Majestät erlaube ich mir, Ihnen unser Bedauern über die heutigen Unannehmlichkeiten auszusprechen. Ferner möchte ich Sie bitten, für eine Zeugenaussage in meinem Hause am 12. September 2001 zur Verfügung zu stehen.
Hochachtungsvoll
(unleserlich)
Der Brief fliegt hinter die Standuhr, ich eile ins Bett zurück. Katee ist wach und geht ihren allmorgendlichen Hatha Yoga Übungen nach. Ihr Nachthemd zeigt mehr als es verbergen kann, betont ihre Figur und lässt mich an angenehmere Dinge denken, als mich einer erneuten Befragung auszusetzen. Ich kuschele mich an meinen kleinen Liebling und schweige.
Katee ist ein Waisenkind. Beherzte Menschen hatten sie in einer Mülltonne gefunden und ins Great Ormond Street Hospital für kranke Kinder gebracht. Dort wurde Katee versorgt und später zur Adoption freigegeben. Das kinderlose Ehepaar Judith und Kenneth Shaw verliebte sich in das kleine Mädchen und gaben dem Drama ein menschenwürdiges Happy End.
»Ach, Sternenprinz!«, seufzt Katee mit einem fragenden Blick. »So kenne ich dich ja nicht. Willst du mir nicht sagen, was in dem Brief steht?«
Mein Mobiltelefon surrt leise. Mit Glück wartet am anderen Ende der Leitung das Ministerium und erspart mir eine weitere Lüge.
»Jennings. Wer stört mich da?«
»Mr Jennings!«, brummt mein Dekan aus der Muschel und lässt mich meine Respektlosigkeit dem Ministerium gegenüber vergessen. »Ich darf doch um ein Mindestmaß an Manieren bitten! Wir sind hier nicht in Cambridge.«
»Oh, ähm. Ja. Herr Dekan? Mr Honourtree! Entschuldigen Sie bitte, ich hatte jemand anderes erwartet«, nuschele ich in das Telefon und versuche, auf Etikette umzuschalten. Oxford University? Sicherlich nicht ohne Grund. Mir schwant Böses.
»Mr Jennings, es ist meine traurige Pflicht Ihnen mitzuteilen, dass unsere altehrwürdige Universität gegen Sie einen Antrag auf Exmatrikulation eröffnen wird. Mit Leuten wie Ihnen haben wir nichts gemein. Guten Tag.«
Honourtree kappt die Verbindung. Ich blicke stumm in Katees geweitete Augen.
»Oxford schmeißt dich raus? Warum denn?«
Bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann, klingelt es erneut.
»Hallo?«, flüstere ich kleinlaut und schließe die Augen.
»Mein Name tut nichts zur Sache. Sie haben mein Schreiben bekommen?«
Das Ministerium. Gott sei Dank.
»Kam gerade.«
»Gut. Haben Sie rein zufällig auch schon den heutigen Morning Scandal gelesen?«
Meine Lippen formen einen lautlosen Schrei. Ich werfe das Telefon achtlos in die Kissen und sprinte zum Zeitungshändler.
Morning Scandal
Mittwoch, 12. September 2001
Terroranschlag auf Buckingham Palace vereitelt?
Starreporterin Sue Bellatreccia landete gestern in London Heathrow. Bevor sie von Bord gehen konnte, stürmten Sicherheitskräfte die Maschine, misshandelten unser liebreizendes Baby und verhafteten einen Islamisten.
»Er hatte einen fanatischen Blick. Richtig unheimlich«, kann unsere berühmte Sue eine Stewardess aus East Croydon zitieren. Sue weiß weiterhin zu berichten, dass der Mann einen Anschlag auf den Palast Ihrer Majestät geplant haben soll, ein Unterfangen, das durch unsere Eliteeinheit SAS vereitelt wurde.
Todesmutig hat Sue die Spur des Terroristen bis nach Thornton Heath verfolgt. Nach bislang unbestätigten Aussagen der Nachbarn ist Thomas Jennings, in islamischen Kreisen als Khirash bekannt, von Kindesbeinen an psychisch gestört. Sue Bellatreccia wird nicht eher ruhen, bis Jennings hinter Gittern sitzt und Whitehall sich für die Misshandlungen entschuldigt hat.
Der Morning Scandal ist journalistisches Toilettenpapier erster Sahne. Kein gesunder Mensch gibt zu, das Klatschblatt zu kennen, dennoch erfreut es sich unter pseudointelligenten Mobbern und bei sensationsgeilen Kaffeekränzchen großer Beliebtheit. Sprich, bei Leuten wie meinem Dekan und meiner Tante. Statt den Zeitungsjungen präventiv mit meiner Steinschleuder zu erlegen, habe ich mit meinem übereilten Sprint Tante Daisy genügend Zeit verschafft, ihren abonnierten Müll zu lesen.
»Thomas Kyle Jennings!«, kreischt sie, als ich das Gartentor erreiche. »Sofort hierher!«
Meine Tante ist von der Rolle und schlägt mir die Zeitung ins Gesicht. Ein Werbeprospekt des neuen Tuntenkinos in South Norwood segelt zu Boden.
»Was hat das hier zu bedeuten?«
Meint sie Bellatreccias Lügen oder die Damen mit dem gewissen Extra zwischen ihren epilierten Beinen? Ich erspare mir jeden Humor und lasse den Kopf hängen. Mein Kartenhaus aus Lügen bricht über mir zusammen. In kurzen, verständlichen Worten berichte ich über mein Erlebnis und bete, Tante Daisy würde ihren Verstand gebrauchen. Zwecklos. Ohne Vorwarnung schlägt sie zu, in meiner Nase platzen die Äderchen und Blut spritzt auf ihre blütenweiße Bluse.
Mit nie vermuteter Wucht stoße ich Daisy zu Boden, springe über sie hinweg und renne die Treppe hoch ins Badezimmer. Ich heule wie ein Schlosshund und wasche mir das Blut aus dem kreideweißen Gesicht. Ich blicke in den Spiegel. Schulterlanges, dunkelblondes Haar, leicht schräg angelegte, graublaue Augen, eine normal proportionierte Nase und meine zu groß geratene Klappe starren zurück. Weiße Blitze zucken in meiner Wahrnehmung, mein nächster epileptischer Anfall ist nur eine Frage der Zeit. Ich nehme die Pillendose, öffne sie mit zittrigen Fingern und schlucke die letzten zwei Tabletten trocken herunter. Mit einem Seufzer des Selbstbedauerns sacke ich vor der Badewanne zusammen und warte auf den Anfall. Nein, ich habe Glück im Unglück. Ein Anfall fühlt sich anders an. Ich hole tief Luft, öffne die Augen und presse meinen Nacken gegen den kühlen Rand der Wanne. Der Schmerz ebbt ab und ich finde langsam zur mir. Ich lasse ein paar Minuten verstreichen und schleiche mit butterweichen Beinen ins Schlafzimmer. Dort ziehe ich mir ein sauberes T-Shirt über und taumele die Treppe herunter. Zwei Soldaten stehen in der offenen Tür und reden auf Daisy ein. Der Minister hat sie geschickt, um mich vor einem möglichen Lynchmob zu schützen und um mich zur Aussage nach Whitehall abzuholen. Daisy schaut mich bedrückt an, vermeidet den direkten Blickkontakt. Es quält sie, mich erneut geschlagen zu haben.
Eine Stunde später stehe ich vor dem berühmt berüchtigten Verteidigungsministerium von Großbritannien, im Volksmund kurz Whitehall oder MOD genannt. Ich werde bereits erwartet.
»Mr Jennings! Ich freue mich, Sie bei guter Gesundheit zu sehen. Haben Sie etwa geweint? Ach was, Sie müssen nicht antworten, es sind harte Zeiten, die da auf uns einbrechen. Wenn Sie mir bitte folgen würden?«
Der geschwätzige Beamte ist ein elegant gekleideter Herr in Schwarz und glatt rasiert. Seiner weichen Stimme nach zu urteilen, scheint er Mr Tut-nichts-zur-Sache höchstpersönlich zu sein. Ohne weitere Worte, aber mit freundlichem und bestimmendem Lächeln werde ich durch unzählige Korridore, Schleusen und Aufzüge bugsiert. Erst eine geschlagene Viertelstunde später erreichen wir das Ziel. Ein banales Schott zu einem weiteren Aufzug. Im Unterschied zu den anderen Fahrstühlen gibt es keine Knöpfe zum Drücken, sondern einen senkrecht verlaufenden Kartenleser.
»Wir sind da!«, verkündet Mr Tut-nichts-zur-Sache stolz, zieht seinen Bauch ein und wirft sich in die Brust. »Und wenn ich mir die persönliche Anmerkung erlauben darf, nicht viele Zivilisten haben bislang die Ehre gehabt, im Kriegskabinett zu Gast zu sein. Von hier aus führen wir die Geschicke des Empire und halten direkten Kontakt zu NORAD, dem Weißen Haus, dem NATO Oberkommando in Brüssel, zum Kreml in Moskau und zu weiteren befreundeten Regierungen. Von hier aus befehligt Ihre Majestät unsere Truppen im In- und Ausland.«
»Wiederholen Sie das«, bitte ich überrascht und versuche zu meinem in Heathrow verloren gegangenen Humor zurückzufinden. »Die Königin ist auch hier?«
Mr Tut-nichts-zur-Sache ist sichtlich irritiert.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Sagten Sie nicht, Ihre Majestät würde von hier aus unsere Truppen lenken?«
Mr Tut-nichts-zur-Sache kichert dezent, ist sichtlich not amused. »Eine Redensart, Jennings. Eine Redensart.«
Aha. Spaß versteht man hier nicht. Nur die Eitelkeit, den Stolz des untergegangenen Empire.
»Okay«, sage ich brav. »Wenn Sie von hier aus so viele Menschen erreichen können, haben Sie sicherlich auch eine Standleitung zum Morning Scandal, oder?«
Die Augen des Sicherheitsbeamten blitzen verächtlich auf. Es tut gut, dem Empire einen Tritt zu verpassen.
»Ihre Majestät hat nicht das Geringste mit Miss Bellatreccia oder ihrer Redaktion zu schaffen. Ich dachte, Sie würden Miss Bellatreccia kennen. Laut Passagiermanifest saß sie direkt neben Ihnen.«
Meine Wange zuckt. Die monströse, miefende Schachtel?
»Oh, das wussten Sie nicht?« Ein weiteres Kichern begleitet die zuckersüße Schleimigkeit des Beamten. Das Empire schlägt zurück. »Miss Bellatreccia ist Ihnen gefolgt, um einen Aufmacher für ihr Käseblatt zu suchen. Und, um sich für die unsanfte Behandlung durch Ironfists Team zu rächen.«
»Warum pusten Sie die Süße nicht weg?«, frage ich hämisch, versuche mich gegenüber dem Empire zu behaupten.
»Du meine Güte, Mr Jennings! Wohl zuviel James Bond gesehen, was? Wir sind der traurige, aber ehrenhafte Rest des alten, ruhmreichen Britischen Empire. Wir handeln zum Wohl der freien Welt und unserer Untertanen. Merken Sie sich eines, wir bringen niemanden um.«
»Weiß das auch der MI6?«
Mr Tut-nichts-zur-Sache hustet gekünstelt. »Selbstverständlich. Und um Sie zu beruhigen: Miss Bellatreccia und ihr Verleger haben von einem unserer Mediatoren einen Höflichkeitsbesuch bekommen und sind überglücklich, mit der morgigen Ausgabe Ihnen und der Welt eine angemessene Gegendarstellung liefern zu dürfen. Damit ist auch Ihr kleines Problem mit Ihrem ehrenwerten Dekan, Mr Honourtree, erledigt. Oder soll ich unsere operative Abteilung bitten, Ihren Dekan ebenfalls umzupusten? Hmm?«
Jetzt ist es an mir zu husten. Das Empire hat mich auflaufen lassen und mit einem Blattschuss zur Strecke gebracht.
»Entschuldigen Sie bitte«, flüstere ich und blicke zu Boden. »Ich habe nicht nachgedacht.«
»Das will ich wohl meinen«, lacht Mr Tut-nichts-zur-Sache mit kauzig verschrobener Stimme und zieht seine Karte durch den Schlitz am Terminal. Es piepst und der Fahrstuhl zum Schafott öffnet sich lautlos. Wir steigen ein und huschen ohne weiteren Halt in die Tiefe. Der Lift stoppt abrupt und mein Magen rebelliert. Mr Tut-nichts-zur-Sache öffnet das Schott und führt mich durch einen kalten, metallisch glänzenden Gang. An seinem Ende liegt ein circa zehn mal zehn Meter großer Konferenzsaal und ich werde platziert. Direkt neben Anthony Blair, dem britischen Premierminister. Von einem Monitor starrt der US-Vize-Präsident berechnend und kühl auf uns herab, ein anderes Gerät zeigt den deutschen Innenminister. Von Frankreich und den Russen keine Spur.
»Hey, hey. Der junge Terrorist, wie schön. Hätte nie gedacht, den noch einmal wiederzusehen«, sagt eine fröhlich spöttische Stimme hinter mir. Ich drehe mich um und blicke Ironfist ins gnadenlose Gesicht. Er tritt aus dem Schatten, besser gesagt, aus einem weiteren Zugang in den Raum und legt seine Hand auf meine Schulter. Gut, dass ich nichts im Magen habe, es würde mir schwerfallen, ihm nicht ins Gesicht zu kotzen. Ironfist grinst, setzt sich neben mich und faltet brav seine Hände. Thomas Kyle Jennings zwischen Scylla und Charybdis, zwischen Premierminister und Ungeheuer.
Die Show geht schnell über die Bühne. Laut FBI-Protokoll und der Aussage des Inhabers von Shuckum's Oyster Bar bin ich der bis dato einzig bekannte Mensch, mit dem die Terroristen mehr als nur Smalltalk ausgetauscht haben. Daher also die zweifelhafte Ehre, in Whitehall auf höchster Ebene meine Aussage zu tätigen statt auf der Polizeiwache in Thornton Heath.
Daheim spreche ich mich mit Tante Daisy aus und verbringe eine ruhige Nacht. Am nächsten Morgen gestatte ich dem Zeitungsjungen, das journalistische Klopapier über den Zaun zu werfen und fange es gekonnt auf. Schon von Weitem ist klar, dass der ministeriale Mediator ganze Arbeit geleistet hat.
Morning Scandal
Donnerstag, 13. September 2001
Ehrenwerte Familie Jennings:
Es tut uns leid! Sue Bellatreccia gefeuert!
Sue Bellatreccia wurde gestern Abend fristlos entlassen. Wie dem Morning Scandal aus gut informierten Regierungskreisen berichtet wurde, hatte Bellatreccia die Geschichte um das geplante Attentat auf Buckingham Palace und den angeblich islamistischen Hintergrund von Thomas Jennings frei erfunden.
Der Aufsichtsrat und die Belegschaft des Morning Scandal sind betrübt und bedauern den gestrigen Artikel. Unser Haus entschuldigt sich bei Mr Jennings und seiner Familie. Blablabla.
Ich staune nicht schlecht, als mit Mr Miller ein Eilbrief des Chefredakteurs ins Haus flattert. Samt einem sofort einlösbaren Barscheck über saftige fünftausend Pfund Sterling. Ende gut, alles gut?