Tödliche Geschwister

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

6. Kapitel

„Tobey McDuncan, ich sag´s dir nicht noch einmal! Schaff den Müll endlich runter! Jetzt! Nicht irgendwann. Hörst du?“

Tobey verdrehte die Augen. Seine Mutter hatte mal wieder einen ihrer berühmt-berüchtigt schlechten Tage. In der Bar war es offenbar nicht so gut gelaufen: zu wenig Trinkgeld, zu viele fiese Kerle, die ihr an die Wäsche wollten. Wahrscheinlich hatte sie irgendein schmieriger Kerl angemacht und mit ihr nach Hause gehen wollen - kostenlos eine Nummer schieben. Oder zwei oder mehr … Es war immer das Gleiche.

Ich muss hier raus!, durchfuhr es ihn. Hier in L.A., das war die Hölle auf Erden. Eine heruntergekommene Bude, die seine Mutter Wohnung nannte, wo niemals Ruhe herrschte, wo immer Irgendeiner der Scheißnachbarn nervte. An Carlo und seine Gang wollte er gar nicht erst denken. Einmal zu oft war Tobey von Carlo Moretti und seinen Jungs in die Mangel genommen worden. Das passiert Außenseitern halt so, hatte sich Tobey selbst vertröstet, wenn er im Dreck gelegen hatte und Carlo breitbeinig über ihm stand. „Na, McDuncan, mal wieder über deine Füße gestolpert …?“ So oder ähnlich hatte es zu viele Szenen gegeben, an zu vielen Tagen. Tobey war schon immer ein Außenseiter gewesen - das verzärtelte, träumerische Bübchen, wie ihn sein Vater immer genannt hatte. Vielleicht war ja wirklich etwas dran. Es spielte keine Rolle, denn sein Vater - wenn er denn sein richtiger Vater war, bei seiner Mutter konnte man da nie so richtig sicher sein - hatte schon lange die Flatter gemacht.

Ich bin Künstler! Das wusste Tobey schon seit einer kleinen Ewigkeit. Er musste hier raus! Weg von seiner Mutter! Weg von dem ganzen Müll, mit dem er hier tagtäglich konfrontiert wurde. Es erstickte ihn langsam, es brachte ihn um. Heute war es so weit. Heute würde er die Stadt verlassen und alles hinter sich lassen. Er hatte eine kleine Ewigkeit für den kleinen japanischen Wagen gespart, der im Hinterhof stand. Sein Koffer mit den wenigen Sachen, die er mitnehmen würde, lag schon im Kofferraum. Und genau mit dieser Schrottkiste würde er nach Las Vegas aufbrechen. Bis dorthin würde es die Kiste hoffentlich noch schaffen. Tobey glaubte fest daran, dass er in Las Vegas ganz groß herauskommen würde. Es musste ganz einfach so sein. Hier - das war kein Leben, das war nur ein sinnloses Dahinvegetieren von einem Tag in den nächsten, ohne Aussicht auf Besserung.

Las Vegas war schon immer sein Traum gewesen. Er wollte wie Elvis sein - oder all die anderen Stars, die in Las Vegas eine Millionengage einstrichen und ein Leben in Saus und Braus führen konnten. Er hatte Talent, mehr vielleicht als so mancher etablierte Star, das hatten ihm viele seiner Lehrer attestiert, selbst jene, die ihn nicht leiden mochten, und das waren nicht wenige.

„McDuncan, du kannst nichts, aber singen, das muss ich dir lassen, das kannst du!“, hatte die widerliche Miss Miller mehr als einmal mit einem sarkastischen Lächeln zu ihm gesagt. Carol Miller, die graue Maus mit der spitzen Zunge. Keiner an der Schule mochte sie - mehr noch, die Miller war gefürchtet. So klein, wie sie war, so giftig konnte diese Natter werden.

Ja, dachte Tobey McDuncan. Ich werde singen. Singen und tanzen in einer Las Vegas Show. Und danach werde ich die ganze Welt erobern, ein Star sein, reich und berühmt. Ein Megastar …

„Was ist jetzt mit dem Müll?“, brüllte seine Mutter vom Balkon herunter. „Träumt der angehende Weltstar von der Müllpolka, oder was? Setz deinen gottverdammten Hintern in Bewegung. Du bist schon genauso ein Lahmarsch wie dein Vater. Ach, fahr doch zur Hölle!“ Seine Mutter knallte das Fenster zu. Irgendein Nachbar brüllte: „Schlampe“, ließ sich aber nicht blicken. So mutig war der Gute also doch nicht …

Tobey ignorierte beide. Es war die Regel hier im Viertel. Keiner mochte keinen, und jeder würde jedem zu gerne an die Kehle gehen. Tobey ertrug seine Mutter nicht mehr. Wenn er ehrlich mit sich war, war das niemals anders gewesen - und wenn doch, dann konnte er sich nicht mehr daran erinnern. War sie eine gute Mutter - gewesen? Damals, als er Kind war? Nein, war sie nicht! Aber früher war sie wenigstens hübsch, daran konnte er sich noch erinnern. Doch jetzt war sie nur noch eine Frau, deren beste Jahre schon seit einer Ewigkeit hinter ihr lagen: zu stark geschminkt, ständig eine Zigarette im Mundwinkel, Lockenwickler im Haar. Nein, Tobey wollte nicht mit seiner Mutter streiten; mit überhaupt niemandem hier. Es machte keinen Sinn. Heute Abend würde er sowieso weg sein. Wenn alles so lief, wie er es geplant hatte, würde er diese Frau - seine Mutter - niemals wiedersehen. Er hatte noch nicht mal eingeplant, irgendwann an ihrem Grab zu stehen, dafür verband sie einfach zu wenig - und das nicht erst seit gestern.

„Hey, McDuncan!“

Tobey, der den Mülleimer in den Container ausgekippt hatte, drehte sich um. Die Stimme gehörte Lorenzo, ein kleiner Hispano mit einer Gehbehinderung, der im Nachbarhaus wohnte. Sie beide waren immer gut miteinander ausgekommen, auch wenn es nie zu einer echten Freundschaft gereicht hatte, was wohl daran lag, dass Lorenzo stockschwul war und auf ihn stand. Nicht, dass Tobey Vorurteile gehabt hätte, aber Lorenzo war ihm mehr als einmal etwas zu sehr auf die Pelle gerückt. Offensichtlich machte er sich immer noch Hoffnung, dass vielleicht doch noch was aus ihnen beiden werden könnte.

Nicht in diesem Leben, sagte sich Tobey. Er nickte dem kleinen Mann zu. „Hi, Lorenzo, was steht an?“

Lorenzo humpelte näher und begutachtete dann kritisch das alte japanische Auto, das sich Tobey zugelegt hatte: ein ziemlich mitgenommen aussehener Honda Civic in ehemals Rot - oder so. Er enthielt sich allerdings eines Kommentars, obwohl die Dellen und Roststellen einem förmlich ins Auge sprangen.

Lorenzo stützte sich am Wagen ab und ächzte kurz. „Carlo und die Gang sind heute schlecht drauf, Tobey. Ich glaube, die haben es auf dich abgesehen. Hab so was läuten hören. Also, pass auf! Carlo hat einen aus seiner Gang bei einer Messerstecherei verloren. Der Arsch kocht innerlich. Du weißt, was das für dich heißt …“

Tobey winkte ab. Heute Abend bin ich sowieso weg! Aber das würde er Lorenzo nicht sagen. Genauso wenig wie seiner Mutter. Sie würde erst wieder von ihm hören - wenn überhaupt - wenn er ein Star war. Oder vielleicht besser doch nicht: Nachher würde sie noch Geld von ihm verlangen und ihn verklagen. „Oh Herr Richter, ich arme, ich gute, ich perfekte Mutter - dieses Kind war eine Plage. Und dann noch der Vater …“

Tobey wusste nur zu genau, was für eine geldgierige Schlange seine Mutter sein konnte. Sie hatte es fertiggebracht, sein Sparschwein zu plündern, in das Grandma Martha immer etwas hineingeworfen hatte. Arme Grandma, kein Wunder, das du schon lange im Grab liegst, bei der Tochter … Tja, leider gab es bei dir nichts zu erben. Und da sind deiner Tochter doch bei der Testamentseröffnung tatsächlich die Gesichtszüge entglitten. „Nichts!“, hatte seine Mutter gegiftet, als das Testament verlesen wurde. „Nichts!“ Dann hatte sie Tobey bei der Hand gepackt und ihn hinter sich her weggeschleift. Niemals hatte er danach irgendjemanden von seiner Verwandtschaft je wiedergesehen. Ach ja, einen Monat später war es wohl, als sein komischer Vater sich dann auf und davon gemacht hatte. So war das halt, im Leben der McDuncans …

„Danke für die Warnung, Lorenzo. Ich werde schon auf mich aufpassen.“

Lorenzo wischte sich über die Stirn. Der Sommer war mörderisch. L.A. brannte an etlichen Stellen. Nach wie vor war keine Wetterbesserung vorhergesagt, kein Regen in Sicht. Die Schwüle schien zwischen den Häusern zu stehen und machte die Menschen aggressiv.

„Hast du Lust auf ein Bier. Nachher bei mir? Ich habe auch noch ein paar neue DVDs … frisch downgeloadet aus den besten Quellen. Sind auch ein paar Pornos dabei. Keine Sorge, nicht nur Homozeugs - ist auch was für dich dabei.“

Tobey verdrehte die Augen. „Och, Lorenzo. Lass es doch bleiben, ich …“

„Hey!“ Lorenzo hob beschwichtigend die Arme. „Soll keine Anmache sein, wirklich nicht. Nur ein Bier unter Freunden - oder zwei - völlig ohne Hintergedanken. Ich hab´s mitbekommen, dass du nicht auf mich stehst. Also, was ist?“

Tobey schüttelte den Kopf. Komm, ratsche eine Lüge raus, das kannst du doch, das hast du doch gelernt …! „Nein, ich muss nachher noch ins Diner. Samy ist krank geworden. Ich muss für sie einspringen, sonst schmeißt mich Elroy raus. Ich brauche das Geld.“ Tobey sah hoch zum Fenster, doch seine Mutter ließ sich nicht blicken. Aber garantiert hatte sie gelauscht. Sie mochte Lorenzo nicht. „Widerliche Schwuchtel! Da könnte ich ja nur noch kotzen bei so einem Perversling …“ So oder ähnlich hatte sie sich mehr als einmal über Lorenzo ausgelassen.

Lorenzo zuckte resigniert die Achseln. Fast tat er Tobey leid. Lorenzo war kein schlechter Kerl. Vor allem war er einsam. Und die Chancen, jemals hier aus der Gegend herauszukommen, standen mehr als schlecht für ihn. Wenigstens ließen ihnen die Gangs in Ruhe. Aufgrund seiner Behinderung galt er fast als unberührbar. „Ah. Also kein Bier … Okay.“ Lorenzo lächelte verkniffen. „Ich geh dann wieder hoch. Aber - falls du nachher doch noch Lust auf ein Bierchen haben solltest, kannst du gerne bei mir klopfen. Bei der Hitze kann doch kein Schwein schlafen.“

Er kann es nicht lassen! Tobey lächelte. „Wird spät bei mir werden, Lorenzo, aber schauen wir mal. Also dann, bis dieser Tage.“ Oder irgendwann …

Tobey sah Lorenzo nach, wie er zurück zu dem Seiteneingang des Mietshauses humpelte und kurz darauf darin verschwand. Irgendjemand knallte ein Fenster zu. Ein Mann schrie seine Frau an, sie kreischte zurück. Urban Life, dachte Tobey. Oder nannte man das Hölle auf Erden?

 

Carlo und die Gang haben es also wieder auf mich abgesehen! Tobey schlug innerlich ein Kreuz. Der Tag für seinen Absprung hier aus L.A. hätte nicht besser gewählt sein können. Doch er schwor sich, dass dieser Arsch von Carlo Moretti irgendwann seine verdiente Abreibung bekommen würde. Nicht heute, aber irgendwann bestimmt. Nichts war vergessen. Nicht die Schläge auf dem Schulhof, nicht die Demütigungen in der Mensa - gar nichts. Vor allem brauchte Tobey Geld - Geld und Ruhm. Vielleicht würde sich Carlo ja einen Strick kaufen, wenn er mitbekäme, dass der kleine, schmächtige Tobey McDuncan zum neuen Superstar in Vegas avanciert wäre. Ja, der Gedanke gefiel Tobey.

Hätte er gewusst, was ihn in nicht allzu ferner Zukunft erwarten sollte, wären ihm die Schikanen von Carlo und seiner Gang wie ein sanfter Windhauch erschienen - ein laues Lüftchen, mehr nicht.

Aber das konnte er nicht wissen.

Tobey McDuncan lächelte, als er gegen acht Uhr abends L.A. über die Interstate 15 verließ. Las Vegas war nur ungefähr 269 Meilen bzw. 433 Kilometer entfernt. Das würde selbst seine alte japanische Karre schaffen. Und dort in Las Vegas erwartete ihn ein neues Leben, eine Zukunft, die nichts mehr mit dem Hier und Jetzt in L.A. zu tun haben würde. Er freute sich auf Charlene, die er in einem Online-Chat kennengelernt hatte. Sie würde ihm in Vegas weiterhelfen. Und - vielleicht würde ja was aus ihnen. Er jedenfalls fand sie unglaublich süß.

Tobey lag mit seinen Gedanken nicht so ganz daneben. Bald schon würde sich sein Leben vollkommen verändert haben, doch leider nicht nur zum Schönen und Guten…

7. Kapitel

„Hast du deine Mutter eigentlich auch ausgeknipst? Oder war das wirklich ein Unfall, als ihr Wagen über die Klippe ging? Ihre Leiche hat man nie gefunden, was?“, fragte Eugene irgendwann, als sie sich dem Grenzgebiet von Kalifornien nach Nevada näherten. Primm, die Kasinostadt, war der nächste Ort auf ihrer Route nach Las Vegas. Sie wollten dort übernachten. Die letzte Nacht und den frühen Morgen hatten sie in Barstow in Eugenes Apartment verbracht. Die Nachrichten hatten zwar über den Mord im Kino berichtet, doch es war nur eine Meldung unter vielen. Sheila galt als verschwunden, wurde allerdings noch nicht als Verdächtige bezeichnet. Einige Fotos von ihr kursierten in den Medien. Eines davon zeigte sie in jungen Jahren, kurz, bevor sie verschwand. Damals war sie sehr schlank. Woher das aktuelle Foto herkam, wusste sie nicht. Es war auf irgendeiner Party aufgenommen worden. Es zeigte die fette Sheila auf Schwergewichtsniveau. Sheila fluchte. Ihr Familienname könnte ihr zum Verhängnis werden. Mit dem aktuellen Foto alleine wäre niemand auf die Idee gekommen, dass sie die reiche Erbin von Margaux Yannovich-Elba war, die irgendwann nach dem rätselhaften Unfalltod der schwerreichen Mutter ihre Sachen gepackt hatte und über Nacht verschwunden war.

Auch einige der Jugendlichen, die in der vordersten Reihe gesessen hatten, waren in einem der Interviews zu sehen gewesen. „Ja, neben der Ermordeten saß so eine Fette. Vielleicht war sie es…“

Sheila hätte dem Jüngelchen zu gerne die Kehle zugedrückt für die Bezeichnung Fette, doch es spielte keine Rolle mehr. Sie würde bald schon auf ihre Kosten kommen, das wusste sie. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie wieder ihr Messer würde nehmen können. Trotzdem - es passte ihr nicht, dass man jetzt zu wissen glaubte, wie Sheila Yannovich-Elba nach all den Jahren aussah.

In einer späteren Meldung war dann Eugene erwähnt worden - auch von ihm war ein Foto in den Medien erschienen. Es musste während einer Werbeveranstaltung von Trishs Agentur aufgenommen worden sein und zeigte ihn verliebt händchenhaltend mit der rundlichen Trish. Er galt jedoch nicht als verdächtig, sondern wurde nur als Lebenspartner und zukünftiger Ehemann von Trish Mulligan genannt, der ebenfalls verschwunden wäre.

„Wie kommst du darauf, dass ich meine Mutter getötet hätte? Und woher willst du überhaupt wissen, dass ich bei einer Pflegefamilie war? Habe ich je so etwas gesagt?“, nahm Sheila den Faden wieder auf. Sie saß hinter dem Steuer. In den letzten Stunden hatte sie mehr als genügend Zeit gehabt, sich zu fragen, wie sie in diese beschissene Situation hatte hineingeraten können.

Es war immer dasselbe: Irgendwann überkam sie dieser seltsame Trieb - und ein Mensch musste sterben. Die zwei Jahre mit Sandra stellten den längsten Zeitraum dar, den sie ununterbrochen an einem Ort geblieben war, zumindest seit ihrer Jugend. Denk bloß nicht an damals!, beschwor sie sich. Nicht jetzt, später - vielleicht …

„Nein, hast du nicht. Aber ich weiß es.“ Eugene sah kurz zum Seitenfenster hinaus. Viel zu sehen gab es nicht. Die Mojave glühte unter einem blassblauen Himmel. Draußen waren es über 45 Grad Celsius, wie der Innenthermostat anzeigte. Glücklicherweise bekam man hier, in Sheilas SUV, dank der hervorragenden Klimaanlage nichts davon mit.

„Gut, dann weißt du es eben … Die alte Schnepfe war nicht nett zu mir, da bin ich eben ausgerastet und habe ihr das Messer über die Kehle gezogen. Und die Karre über die Klippe gehen zu lassen, war nicht schwer. Schade um den Porsche. Der war nagelneu.“ Sheila suchte auf der Ablage zwischen den Sitzen nach Zigaretten, doch das Päckchen war leer. „Schau mal im Handschuhfach nach, ob da noch Kippen drin sind.“

Eugene zögerte.

„Was ist?“

„Ich kann Zigaretten nicht ausstehen.“

„Und du denkst, das interessiert mich? Wenn´s dir nicht passt, kannst du gerne aussteigen. Nächster Halt, Primm! Also - sind da noch Zigaretten, oder nicht?“

Eugene erwiderte nichts. Er öffnete das Handschuhfach, in dem ein angebrochenes Päckchen lag. Er reichte es Sheila, die sich kurz darauf eine Zigarette zwischen die Lippen klemmte. Sie drückte den Zigarettenanzünder, der kurze Zeit später heraussprang, und zündete die Zigarette an.

„Wie viel Geld hast du dabei?“, fragte sie nach einigen Zügen. Die Scheißkippe schmeckt nicht! Sheila verzog angewidert das Gesicht. Ihr war nicht entgangen, dass Eugene ein paar Mal gehustet hatte. Offensichtlich vertrug er Zigarettenrauch wirklich nicht. Vielleicht war er doch nur eine Tucke, selbst wenn er hin und wieder jemandem die Kehle durchschnitt. Menschen konnten ja so sensibel sein, selbst die Schlimmsten.

Eugene wedelte mit der Hand gegen den Qualm. Er hustete erneut. „Im Augenblick fast nichts, aber ich habe in Las Vegas ein Schließfach gemietet. Da ist noch einiges drin. Keine Sorge, ich beteilige mich an unseren Kosten.“

„Was wir hier machen, ist Scheiße“, sagte Sheila, die die Zigarette angeekelt im Ascher zerdrückte. Sie hasste Zigaretten, wie so vieles, trotzdem kam sie von den Scheißdingern nicht los.

„Nein“, erwiderte Eugene nach einer Weile des Schweigens. „Wir tun das, was wir tun müssen. Man hat uns gemacht. Wir waren nicht so …“

Was quatschte der Kerl? Sheila warf ihm einen nachdenklichen Blick von der Seite her zu. Die Fahrbahn verlief schnurstracks geradeaus. Selbst wenn sie die Hände vom Steuer genommen hätte, würden sie kaum im Graben landen.

„Bist du jetzt unter die Philosophen gegangen?“, meinte sie schließlich.

„Nein. Ich habe nur an meine Pflegeeltern denken müssen. Ich hasste sie wie die Pest, besonders meinen Stiefbruder. Sie sind tot. Ich habe sie erledigt. Es war grandios. Niemand hat Fragen gestellt. Eines der großen Mysterien. Eine Familie verschwindet, doch niemand schert sich darum. Wir können das. Wir killen, dann verschwinden wir …“

„Wann war das?“

„Vor zehn Jahren - so ungefähr. Ich wurde damals 18. Meine Pflegefamilie hatte für mich eine große Geburtstagsparty ausgerichtet. Sogar ein Konto hatten sie für mich angelegt. Lächerliche 3000 Dollar. Für meinen Stiefbruder und meine Stiefschwester gab es das Zehnfache. Nun, ich habe es schließlich doch bekommen. Alles … Ich habe es mir genommen. Es war richtig.“

Eugene bemerkte, dass Sheila seinem Monolog nicht ganz hatte folgen können oder wollen. „Das Geld meiner Stiefgeschwister - das meine ich … Ich habe ihre Konten später geplündert. Es war ganz einfach. Alles. Auch, als ich sie tötete.

Eugene lachte auf, als er die Stimme seines Stiefvaters, Sam Henderson, imitierte: „Nicht, Eugene. Bitte nicht …! Dann war Vera dran, meine Stiefmutter, danach Janet - meine idiotische Stiefschwester - und ganz zum Schluss habe ich mir Preston vorgenommen. Preston … Du glaubst ja nicht, wie die blöde Sau gewinselt hat, mein ach so geliebtes Brüderchen. Auf den Knien ist er schließlich vor mir herumgekrochen. Er hatte sich bepinkelt und beschissen, der Arsch, von oben bis unten. Alleine für diese Sauerei hätte ich ihm die Eingeweide herausnehmen müssen. Na ja, hab ich ja dann auch gemacht.“

Sheila schluckte. Vor ihrem inneren Auge konnte sie die Opfer förmlich sehen. Oh ja, sie wusste, was Eugene in diesem Moment empfunden haben musste. Sie konnte es nur zu gut nachvollziehen.

„Hast du deinen Stiefbruder geschnitten?“, fragte sie mit rauer Stimme, die etwas zittrig klang. Die Vorstellung, dass Eugene sein Opfer geschächtet hätte, machte sie fast verrückt.

„Ja! Er hat gequiekt, und dann ist das Blut aus ihm herausgesprudelt. Er hat nach Luft geschnappt, wie ein Fisch, der auf dem Trockenen sitzt, sich die Hände an die Kehle gepresst - aber es hat nichts genutzt … Na ja, zuvor hatte ich ihm den Bauch aufgeschlitzt. Das muss richtig wehgetan haben. Der Idiot wusste gar nicht mehr, wo er seine Hände hintun sollte - auf den Bauch oder an die Kehle …“ Eugene lachte.

Sheila schluckte. Sie war erregt. Was würde sie dafür geben, jetzt und in diesem Moment jemandem die Kehle durchschneiden zu können. Für einen Moment erschien Sandra vor ihrem inneren Auge. Mein Gott, was hätte ich das Miststück gerne geschlachtet … Doch dabei war ihr ja Eugene in die Quere gekommen.

„Willst du mir immer noch weißmachen, dass du nicht die verschwundene Tochter von Margaux Yannovich-Elba bist?“, fuhr Eugene nach einer Weile fort.

Sheila wollte sich die nächste Zigarette zwischen die Lippen klemmen, ließ es dann aber angewidert bleiben. Die Dinger schmeckten ihr doch überhaupt nicht. Vielleicht würde sie irgendwann einmal die E-Zigaretten probieren, die stanken wenigstens nicht so eklig.

Sheila ließ sich Zeit mit der Antwort, doch schließlich sagte sie: „Bin ich. Aber was geht dich das an? Willst du Geld? Und was ist mit dir? Du hast doch bestimmt auch so einige Leichen im Keller, oder?“Sie grinste.

Eugenes Blick wurde starr. Er schien ihn sein Innerstes zu horchen.

„Ich weiß es nicht so genau, Sheila. Ich erinnere mich nicht sehr gut an meine Kindheit. Nur … irgendwann in der Zeit zwischen meinem sechzehnten und achtzehnten Geburtstag hat sich irgendwas in mir verändert. Erst da ist mir bewusst geworden, dass ich nicht wirklich zur Familie gehöre. Ich meine - zu den Hendersons. Gut, ich erinnere mich an vereinzelte Zwischenfälle aus meiner Kindheit, wo meine Stiefgeschwister immer besser behandelt wurden als ich selbst. Aber es war nicht so schlimm. Nein, es war, glaube ich, als ich siebzehn wurde, da fühlte ich zum ersten Mal diesen unglaublichen Hass in mir … Es war mir klar, dass diese Familie sterben musste. Sie taten immer nett, aber ich habe nicht dazugehört, niemals. Ich war so etwas wie ein Haustier, dem man zu essen gab …“

Sie schwiegen für eine Weile, während sie sich weiter Primm näherten. Jetzt, am späten Nachmittag, herrschte relativ viel Betrieb auf der Interstate 15. Vielleicht waren es Spieler, die in einem der großen Kasinos in Primm ihr Glück versuchen wollten. Oder Geschäftsreisende, die nach Las Vegas wollten. Oder beides.

„Was stimmt mit uns nicht, Sheila?“, fragte Eugene nach einiger Zeit. „Wir werden sterben, ich fühle es …“ Seine Stimme klang spröde, fast weinerlich.

„Es interessiert mich nicht“, erwiderte sie leise.

Eugenes Blick ging ins Leere. Black lachte höhnisch. Cynthia heulte verzweifelt in seinem Inneren. Finch ermahnte ihn, dass es ihn wohl zu interessieren hätte - dieses Leben.

Eugene schüttelte irritiert den Kopf. Die Stimmen wurden immer stärker. Woran lag das? Über Monate hatte er Ruhe, doch plötzlich waren sie wieder da, stärker als zuvor.

„Ich will nur diese unglaubliche Wut loswerden, Sheila. Es gibt einfach noch zu viele Menschen, die es nicht verdient haben, glücklich zu sein. Und ich habe dich finden wollen: Sheila Yannovich-Elba. Den Namen gibt es nicht so oft. Als ich deinen Namen herausgefunden hatte, war es ein Leichtes, deine Spur aufzunehmen. Damals.“

 

Sheila sah starr geradeaus, doch sie nahm weder die Straße noch die fernen Hügel wahr. „Yannovich-Elba … Ich hätte den Namen schon längst ablegen sollen. Bei meinen Büchern verwende ich diverse Pseudonyme. Aber eine Namensänderung wirft zu viele Fragen auf. Oder glaubst du vielleicht, ich hätte nicht mehr als einmal daran gedacht? Und die gefälschten Pässe nutzen mir jetzt auch nichts mehr, wo mein Name schon durch die Medien geistert …“ Sie wischte sich kurz über die Augen. „Aber es ist unheimlich. Was du da beschreibst, entspricht genau dem, was ich empfinde. Die anderen werden geliebt. Sie werden begehrt. Seit ich zurückdenken kann, bin ich fett, fett und widerlich. Man hasst mich. Das wird sich wohl niemals ändern …“

„Nicht, wenn du weiter so viel frisst. Fang doch mal an, nach dem Essen zu kotzen, das soll eine probate Methode sein, abzunehmen …“, erwiderte Eugene augenzwinkernd.

Sheila lachte trocken auf. Komisch, normalerweise macht es mich immer stinksauer, wenn jemand sagt, ich würde fressen. Bei Eugene ist es mir egal …

Wieder fuhren sie eine Zeit lang schweigend durch die hereinbrechende Dämmerung. Nicht mehr lange, und sie würden Primm erreicht haben.

„Sheila?“

„Was?“

„Spürst du es nicht auch?“

„Was?“

„Wir sind Geschwister. Du bist meine Schwester. Wir wurden in der Kindheit getrennt.“

Das war es also … Sheila war noch nicht einmal überrascht. Sie hatte es nicht wirklich wissen können, doch da war eine seltsame Vertrautheit, eine Seelenverwandtschaft.

„Du siehst mir aber gar nicht ähnlich, glücklicherweise“, meinte sie schließlich. „Du bist viel zu hübsch …“ Sie lachte.

„Unterschiedliche Väter. Unsere leibliche Mutter muss eine ziemliche Hure gewesen sein.“

„Was sonst …“, erwiderte Sheila. Sie hatte nichts anderes erwartet.

Nein, sie war nicht wirklich überrascht. Irgendwie erschien ihr die Begegnung mit Eugene wie ein Wink des Schicksals. Sie hatte sich in seinen Augen gesehen, in diesen dunklen Untiefen, gestern Abend vor dem Kino, bei ihrer ersten Begegnung.

Er war böse.

Sie war böse.

Sie waren das perfekte Team …