Dämon und Lamm

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Dämon und Lamm
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Jessie Adler Gral

Dämon und Lamm

Sechs Rachegeschichten

Impressum

Jessie Adler Gral

Dämon und Lamm

Sechs Rachegeschichten

Copyright: ©2013 Jessie Adler Gral

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-5687-1

Cover: Judith Hamann, Tübingen

Das gesamte Werk ist im Rahmen des Urheberrechtsgesetzes geschützt. Jede von der Rechteinhaberin nicht genehmigte Verwertung ist unzulässig. Dies gilt auch für die Verwertung durch Film, Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeglicher Art, elektronische Medien sowie für auszugsweisen Nachdruck oder Übersetzung.

Für Dieter und Hanne, die in stürmischen Zeiten an meiner Seite waren

Licht und Schatten

Siri. Manchmal stehe ich vor dem Spiegel, stelle mir Karla Taubnessel vor und kneife die Augen zu Schlitzen zusammen. „Du mieses Schrapnell!“, sage ich zu ihr. „Du wirst dein Waterloo erleben!“ Und was antwortet sie mir? Meistens so etwas wie: “Pah, träum weiter, dummes Luder.“ Taubnessel hält mich nämlich für ein kraftloses Plasma, das nur heulen und den Schwanz einziehen kann. Dann schneide ich dem Spiegel eine höhnische Grimasse und sage: „Du wirst noch blutige Tränen weinen, du arrogantes Stück! Wart‘ s nur ab.“

Vorgestern bin ich vor ihrem Haus auf und ab promeniert. Es war ein klarer Herbsttag, noch hochsommerlich warm, und die Bäume trugen buntes Laub. Der Himmel hatte einen milchigen Blauton. Ein leichter Wind strich sanft über meine nackten Unterarme.

Ich hatte einen Dalmatiner aus dem Kölner Tierheim bei mir. Man sollte nicht glauben, was es da für schöne Hunde gibt. Ich hatte den Pflegern versprochen, mit dem Hund spazieren zu laufen, was ich auch tat. Ich lief mit ihm am Rhein entlang und ließ ihn auf den verwilderten Wiesen frei laufen, was ihn in schäumende Begeisterung versetzte. Anschließend fuhr ich mit ihm zu Karla Taubnessels Bungalow in der Pfauenstraße.

Der gelbe Anstrich war erkennbar neu, wirkte aber trotzdem irgendwie schäbig und angeschmuddelt. Es war eine Art Pissgelb, wie der konzentrierte Urin von Fleischfressern. Karlas Schreibtisch stand direkt an ihrem großen Panoramafenster, genau wie sie es auf ihrer unerträglich eitlen Website verraten hat. Von diesem Fenster aus schaut man genau auf die Pfauenstraße. Ich schlenderte zusammen mit dem Hund an Taubnessels Haus vorbei. Der Dalmatiner ging brav bei Fuß und war selig, seinem öden Zwinger entronnen zu sein. Damit Karla ans Fenster kam, veranlasste ich Armin durch ein paar angetäuschte Würfe mit einem gelben Bällchen, direkt vor ihrem Haus lange und laut zu bellen.

„Los Armin!“, feuerte ich ihn an und schwang den Ball, der an einer Lederschlaufe hing. „Gib dein Allerbestes!“ Und der Hund tat mir den Gefallen, sprang in die Luft und bellte, was das Zeug hielt. Armin ist ein Riesenexemplar seiner Rasse, viel größer als ein Durchschnittsdalmatiner, und die charakteristischen schwarzen Flecken auf seinem weißen Fell sind klar und schöngezeichnet. Er trug ein breites, klatschmohnrotes Lederband mit blitzenden Similisteinen um den Hals, das ich extra zu diesem Zweck gekauft hatte. Der Hund funkelte wie eine Erscheinung, und wir gingen Seite an Seite gemächlich an Karlas Haus vorbei. Nach fünfzehn Minuten schlenderten wir dann wieder sehr langsam zurück. Bevor ich den Hund ins Tierheim zurückbrachte, nahm ich ihm das auffallende Halsband ab.

Ich bin ganz sicher, dass Karla uns gesehen hat.

Diese perfide Schlampe hat nämlich mein Gehirn gestohlen, und der Tag, an dem ich es merkte, war einer der schwärzesten meines neunundvierzigjährigen Lebens. Es war der 17. Dezember 1997, ein eisig kalter Tag, an dem es einfach kaum hell wurde. Für Minuten, die mir wie Jahre erschienen, war mein Kopf leer vom Schock. Dann jagte ein schneidender Schmerz durch die Wattenebel meines gelähmten Bewusstseins, und die schreckliche Erkenntnis kam mit der Wucht einer niedersausenden Axt über mich. Meine Lungen und mein Solarplexus brannten, als stünde mein Körper in Flammen, die sich unbarmherzig durch mein Fleisch fraßen. Gleichzeitig brach mir ein salziger Angstschweiß aus allen Poren.

Erst nach einer ganzen Weile wurde mir klar, dass sie mein Gehirn nicht erst gestern oder vor ein paar Wochen gestohlen hat, sondern bereits vor fünf Jahren. Und ich hatte nichts gemerkt! Die glühende Wut, die daraufhin in mir emporschoss, überschwemmte meine Augen mit Blut.

In diesem Zustand - von brennender Wut versengt und mehr tot als lebendig -, blieb ich fast ein ganzes Jahr, während ich die Dokumentation erstellte, mit der ich sie vor Gericht bringen werde. Im Wachen und im Schlafen loderten Zorn und ohnmächtige Verzweiflung in meinem Inneren. „Dreckige Hündin!“, beschimpfte ich sie. „Widerliche Schlampe! Ich breche dir das Genick! Krimineller Abschaum! Ich zerstampfe dich zu Mus!“

Nicht, dass meine Beschimpfungen mir besonders gut getan hätten. Ich bekam Magenschmerzen und konnte nicht mehr schlafen. Oft fiel ich erst nach Stunden mit Hilfe von Tabletten in einen von bitteren Träumen durchsetzten Schlaf wie in einen finsteren Brunnenschacht. Ich litt seelische Qualen, die ich meinem übelsten Feind nicht wünsche, ausgenommen natürlich Karla Taubnessel, die dies und weit Ärgeres verdient hat.

Natürlich hat Taubnessel nicht wirklich mein Gehirn geklaut. Was sie gestohlen hat, ist die Festplatte meines Computers, auf der alles enthalten war, was ich in rund dreißig Jahren meines Lebens geschrieben habe. Ich bin nämlich Schriftstellerin. Und genau genommen hat sie auch nicht die Festplatte geklaut, sondern ihren Inhalt. Diese abscheuliche Hexe ist in meine Wohnung eingedrungen und hat meine Festplatte kopiert, als ich beim Einkaufen war oder bei einer Internetrecherche in der Bibliothek, beim Fitnesstraining in meinem Club oder mit einem Freund im Café. Vielleicht war ich sogar im Urlaub, dem einzigen Urlaub, den ich mir in vierzehn Jahren leisten konnte, zwei Wochen türkische Riviera in Bodrum, wo es scheußlich war, aber das gehört nicht hier her.

Vermutlich ist sie tagsüber gekommen, zusammen mit einem Helfer - wahrscheinlich mit ihrem Mann Martin. Schließlich widmet sie jedes ihrer von mir abgekupferten Machwerke diesem Kerl. Für Martin, für alles! Klar, fürs Einbrechen und Stehlen und - nicht zu vergessen - fürs Schweigen. Allein hätte die verfluchte Hündin es nie und nimmer geschafft, meine Wohnungstür aufzukriegen. Aber Martin ist Inhaber eines Kölner Schlüsseldienstes, den er von seinen Eltern geerbt hat.

Karla. Gestern ist eine Frau, die ein bisschen wie Jammerliese aussah, an meinem Haus vorbeipromeniert. Allerdings hatte die Frau schwarze Haare, aber die Figur war genau wie die von Jammerliese. Dummerweise konnte ich ihr Gesicht nicht richtig sehen, denn ich hatte gerade meine Kontaktlinsen rausgenommen. Jedenfalls führte die Tussi einen Dalmatiner spazieren und machte vor meinem Haus irgendwelche Faxen mit einem Bällchen. Also war es wahrscheinlich nicht Jammerliese, denn die hat keinen Hund. Oder hat sie sich seit meiner letzten Stippvisite in ihrer Wohnung einen angeschafft? Blödsinn, wahrscheinlich sehe ich Gespenster. Schließlich hat sie sich in all den Jahren nicht gerührt, warum sollte sie es also jetzt tun? Jammerliese hat doch sowieso keinen Mumm zum Kämpfen.

Klar war ich beim ersten Einbruch in ihre Wohnung etwas zittrig. Ich meine, schließlich bin ich ja keine Kriminelle. Diese Einbrüche bei Jammerliese mussten einfach sein. Ihr Manuskript Das eisblaue Auge der Finsternis war einfach zu gut, ich musste es haben. Aber das ganze Drum und Dran - besonders das Filzen ihrer Wohnung - war ein echter Aufreger. Ich kam mir vor wie eine Detektivin. Natürlich habe ich Handschuhe getragen, transparente Chirurgenhandschuhe, und auch Martin hatte welche an, als er die Festplatte kopierte. Wirklich ein Glück, dass Martin diese hervorragenden Allround-Dietriche hat. Wir hatten die Haustür in weniger als fünfzig Sekunden auf.

Wir waren beide nervös und hektisch, aber im Grunde bestand nie eine echte Gefahr. Jammerliese war mit ihrer Sporttasche zum Training abgezischt, und die Luft war rein. Außerdem haben wir in ihrer Wohnung doch überhaupt nichts verändert. Woran hätte sie es also merken können? Jammerliese hatte doch keine Ahnung und auch nicht den geringsten Grund, misstrauisch zu sein.

Während Martin die Festplatte kopierte, durchsuchte ich die Wohnung. Das hat mir ehrlich gesagt ziemlich viel Spaß gemacht. Ich sah mir einige ihrer unzähligen Akten an, filzte vorsichtig ihre Wäscheschublade (alles verwaschener alter Kram) und las ihren albernen Tagesplan, auf dem die zu erledigenden Aufgaben standen. Offenbar erstellt Jammerliese jeden Tag eine solche To do-Liste, denn bei unserem zweiten Einbruch eineinhalb Jahre später lag wieder eine auf dem Tisch. Diesmal hatten wir es viel leichter, denn wir hatten ja ihre Ersatzschlüssel, die wir beim ersten Mal hatten mitgehen lassen. Arme Jammerliese, sie ist wohl ein bisschen zwanghaft. Na, mir kann es weiß Gott egal sein.

Über der Heizung im Schlafzimmer hing ein getragenes Höschen, können Sie sich das vorstellen? Ich beschloss sofort, das in meinem nächsten Roman zu verwenden. Und dann ihre Yucca-Palmen - alles voller Yucca-Palmen und Kiefernholz. Ich meine, spießiger geht‘s nun wirklich nicht mehr. Auf ihrer Festplatte war nicht nur das Manuskript von Das eisblaue Auge der Finsternis, sondern auch der zweite Band ihrer Serie mit dem Titel Kinderjäger, alles schon komplett redigiert und druckreif. Und dazu noch die Hälfte ihres dritten Bands! Außerdem haufenweise Erzählungen, Gedichte, Romanentwürfe und jede Menge der sozialpolitischen Artikel, die sie geschrieben hat, bevor sie auf Romane umgestiegen ist.

 

Bloß dass ihre Romane keiner will, haha! Auf der Platte waren auch die sozialpolitischen Bücher, die sie früher verzapft hat, und die alle veröffentlicht sind. Die fasse ich natürlich nicht an, naja, jedenfalls kaum. So ein kleiner Halbsatz hin und wieder, wer will das schon nachweisen? Ich konnte mein Glück kaum fassen, denn mit solch einer reichen Beute hätte ich im Leben nicht gerechnet. Ganz besonderen Spaß machten mir die beiden umfangreichen Manuskripte Erinnerungen in ihrem elektronischen Papierkorb, den sie offenbar zu löschen vergessen hatte. Diese Manuskripte sind - na sagen wir - ziemlich intim, und damit habe ich Jammerliese fest an der Gurgel.

Den Beischlaf mit ihrem späteren Ehemann auf dem Küchenstuhl hab ich sofort für die Szene zwischen Judy und Rudi genommen. Das kommt sehr schön. Ich hab einfach nur die Ichform in die dritte Person geändert, und das war’s. Jammerlieses Erinnerungen sind überhaupt eine wahre Fundgrube für ausgefallene Szenen und Formulierungen. Ich brauche mich nur zu bedienen, und das Beste ist: Sollte Jammerliese es jemals schaffen, wieder ein Buch rauszubringen, kann sie diese Sachen nicht mehr benutzen. Die sind für sie unrettbar verloren, ha!

Siri. Zwei Monate, nachdem ich Karlas Einbrüche entdeckt hatte, bekam sie für ihr drittes von mir abgekupfertes Machwerk einen Preis, den Rhett. Der Rhett hat seinen Namen von Rhett Butler aus Vom Winde verweht, und er ist eine begehrte Trophäe in der Welt der Herz-Schmerz-Literatur.

Ich selbst schreibe Thriller über ernste und traurige Themen, die mit Umweltzerstörung, Flüchtlingselend und sexuellem Missbrauch zu tun haben. Vom ersten Band meiner Serie um meine schwarzäugige Heldin Lara Andernach schickte ich fünfzig Seiten samt einem Exposé an den Kondorverlag. Das war er, der Fehler. Im Kondorverlag nämlich hat irgendeine pflichtvergessene Lektorin Taubnessel mein Manuskript in die Hand gedrückt. Guck mal hier, das ist sehr originell, du wolltest doch immer schon mal ein Buch schreiben! Vielleicht aber hat Taubnessel mein Manuskript auch von irgendeinem Schreibtisch gestohlen, als sie im Kondorverlag die Fußböden schrubbte oder Gottweißwas. Jedenfalls bekam sie meine Texte, schön mit meiner Adresse versehen, in ihre diebischen kleinen Finger, und was sie las, gefiel ihr. Und so beschloss Taubnessel, die bis dahin erst eine einzige jämmerliche Kurzgeschichte veröffentlicht hatte, bei mir einzubrechen, um meine Serie zu klauen. Und das tat sie. Karla nahm die Figuren, die Szenen, die Plots, die Namen und die Formulierungen. Sie bediente sich in meinen Gedichten, Novellen, Artikeln und natürlich in meiner Romantrilogie.

Das musste sie auch, denn sie hat überhaupt kein Sprachgefühl und einen unglaublich beschränkten Wortschatz. Und von der menschlichen Psyche, die für einen Schriftsteller doch so wichtig ist, versteht sie so viel wie ein Wasserschwein von katholischer Liturgie. Wie habe ich gelitten, als sie ihre Judy Krawik mit den ungebärdigen Locken meiner Lara ausstattete! Als sie Judy zu einem Racheengel hochstilisierte wie Lara – ihre banale, kettenrauchende, ungepflegte Judy mit den Proletenmanieren. Auf einmal trug Judy taillierte Lederjacken, schminkte sich und wurde attraktiv. Ja, sie wurde sogar liebenswürdig und - man höre und staune - behutsam und zartfühlend. Etwa so behutsam und zartfühlend wie du, Taubnessel?

Wie auch immer, sie bekam diesen Preis, und ich ging zu ihrer Preisverleihung.

Taubnessel war bereits mit dem Laudator auf der Bühne, als ich mich zu meinem reservierten Platz in der zweiten Reihe durchkämpfte. Ich trug ein auffällig rotweiß gemustertes Kleid mit einem geschwungenen Samtkragen und dazu schwarze Lackstiefeletten mit himmelhohen Absätzen. Das Kleid war sehr kurz. Auf dem für mich reservierten Platz hockte ein dicker Mann mit Entennase und schaute fasziniert zur Bühne hoch. Ich wies dem Dicken meine Platzkarte vor und scheuchte ihn von meinem Stuhl. Dann ließ ich mich auf dem Sitz nieder, legte meine Hände im Schoß zusammen und starrte Karla bohrend an.

Taubnessel erbleichte, als sie mich erkannte.

Sie weiß natürlich, wie ich aussehe, denn in meinem Schlafzimmer hängen ein paar goldgerahmte Fotografien von mir hinter Glas. Sie kennt mein Gesicht auch von den Klappentexten meiner sozialpolitischen Sachbücher. Außerdem haben Taubnessel und ihr Handlanger Martin natürlich mein Haus beobachtet und gewartet, bis ich aus dem Weg war. Schließlich konnten sie schlecht einbrechen, während ich daheim war. Daher weiß Taubnessel ganz genau, wie ich heute aussehe – mit langem offenem Haar von leuchtendem Blond und ziemlich dünn und elegant.

Karla Taubnessel erbleichte also, und ich sah, wie sich auf ihren Wangen zwei rosarote, scharf abgezirkelte Flecken bildeten, was ihr das Aussehen eines Clowns verlieh. Karla hatte tüchtig zugenommen, obwohl sie doch schon früher alles andere als ein zartes Pflänzchen war, wie man auf den stark retuschierten Fotos ihrer Website sieht. Jetzt aber war sie eine richtig massige Erscheinung, fast ein Koloss. Sicher eine Frust-Fresserin, die sich schon bei den leichtesten Versagungen mit Rumkugeln und Marzipankartöffelchen vollstopft.

Taubnessel fasste sich rasch. Sie straffte die Schultern, stöckelte zu ihrem Stuhl und ließ sich hineinplumpsen. Ihre rundlichen Füße steckten in schmalen Riemchensandaletten mit sehr hohen Absätzen. Karla atmete ein paar Mal tief durch und lächelte verzerrt ins Publikum. Dann begann sie zu lesen, und ich war verblüfft über die atemlose, leicht blecherne Mickymausstimme, die aus ihrem monumentalen Leib drang. Schließlich hörte ich Karlas Stimme zum ersten Mal, und der Gegensatz zwischen ihrer kompakten Erscheinung und der mausartigen Stimme war bestürzend. Karlas Stimme bebte leicht, doch als sie zu einer besonders albernen Passage kam, gewann sie wieder an Festigkeit. Es handelte sich um ein kurzes Dialogstück, das sie offenbar selbst geschrieben hatte, denn es war hundsmiserabel. Ab und zu muss sie sich natürlich ein paar überleitende Zeilen abringen, schließlich kann man eine Geschichte nicht einfach eins zu eins kopieren, sonst landet man auf der Stelle vor dem Kadi.

Karla piepste sich durch die Lesung und hob dann stolz den Kopf. Der Applaus am Ende der Lesung baute sie sichtlich auf, und die rosaroten Flecken auf ihren Wangen begannen zu verblassen. Als sie zum Laudator ging, um ihren Preis entgegenzunehmen, schaute sie nicht ins Publikum, sondern blickte starr geradeaus.

Der Laudator, ein dürrer rothaariger Kerl mit einem Gesicht voller brauner Sommersprossen, pries Karlas alberne Machwerke mit warmen Worten. „Mit der Reporterin Judy Krawik hat Karla Taubnessel eine sympathische und originelle Heldin geschaffen“, sagte er mit tönender Stimme. „Der Roman Krähen im Nebel, Raben im Geäst ist ein großer Wurf der wunderbaren Autorin. Es ist ein spannender und anspruchsvoller Roman, eine leidenschaftliche Hommage an die Liebe! Es ist ein hinreißender Liebesroman mit einer gerüttelten Portion Sprachgefühl!“ Und so weiter, und so fort. Dass die Lobpreisungen, die er zitierte, fast ausschließlich aus den Modezeitschriften Ulla und Larissa stammten, erwähnte er nicht. Und was das Sprachgefühl anbelangt, so sind die poetischen Passagen komplett aus meinen Gedichten und Novellen geklaut.

Mir war, als würde ich von einer heißen Lohe versengt.

Ich bekam Magenkrämpfe, doch ich ignorierte sie hartnäckig. Am schlimmsten schmerzte mich Taubnessels grauenvolle Heuchelei. In ihren Büchern gibt sie vor, sich für unterdrückte Frauen und geschlagene Kinder einzusetzen, und die Leserinnen kaufen ihr diese vorgetäuschte Betroffenheit ab und nehmen ihr Geschwätz über Emanzipation und Schwesternschaft für bare Münze. Sie halten Taubnessel für eine besonders engagierte Kämpferin für Frauenrechte. Dabei hat sie eine „Schwester“, die ihr nie auch nur ein Haar gekrümmt hat, brutal beklaut und ausgeplündert. Karla hat den primitiven und beißfreudigen Charakter eines Pitbulls, der von einem aggressiven Jugendlichen voller Testosteron und Menschenhass abgerichtet wurde.

Endlich überreichte der Laudator Karla mit großer Geste ihren Preis. Der Rhett ist eine geringfügig abstrahierte, vergoldete Nachbildung des Kopfs von Clark Gable, der als Rhett Butler in Vom Winde verweht unsterblich geworden ist. Als Karla nach dem Kopf griff, knickte sie auf ihren zwölf Zentimeter hohen Stilettos um und wäre gestürzt, wenn der Laudator sie nicht aufgefangen hätte. Er hievte ihren schweren Körper wieder in eine aufrechte Position, wobei er selbst ziemlich ins Wanken geriet. Doch der dünne Kerl schaffte es nicht nur, auf den Beinen zu bleiben, sondern verlor auch keine Sekunde seinen bewundernden Gesichtsausdruck.

Taubnessel warf den Kopf hoch wie ein ungebärdiges Pferd und lächelte euphorisch ins Publikum. Ich erschrak bis ins Mark, als ich dieses Lächeln sah, in dem sich Gier und Verschlagenheit mit noch etwas anderem, für das ich keine Worte fand, mischten. Taubnessel hat den räuberischen Mund einer fleischfressenden Pflanze.

Karla stöckelte zum Mikrophon und sagte die üblichen abgedroschenen Dankesworte. Sie bedankte sich bei ihren Freunden und Verwandten, die immer an sie geglaubt hätten, bei den tollen Frauen vom Kloster Sankt Kathrein, bei Mutti und Vati und beim Laudator. Sie vergaß auch nicht ihre Großtante Ottilie in Belgien, ihre Oma väterlicherseits in Kiel und ihre geliebte zweijährige Bulldogge Bürzel, die ihr während ihrer einsamen und harten künstlerischen Arbeit Trost und Unterstützung gespendet hätten.

Ich glaubte ihr jedes Wort. Bestimmt hat sie schwer geschuftet. Wenn man so wenig Talent hat wie Taubnessel, dann ist auch Abschreiben und ein bisschen Umformulieren Knochenarbeit. Während Karlas langatmigem Monolog lauschte ich auf ihre Stimme: Dieser wuchtige Körper und dazu die Stimme einer in die Enge getriebenen Maus. Zugleich hatte ihre Stimme etwas Schrilles, das schnitt wie zerbrochenes Glas. Ich fand, dass Karlas Stimme gut zu dem gähnenden Abgrund in ihrem Inneren passt, an dessen Grund ich mir ein rotgesichtiges Baby vorstelle, das unablässig kreischt: Beachtet mich, beachtet mich, ich bin toll, toll, toll!

Als Taubnessel mit ihrer endlosen Dankesrede fertig war, winkte sie den Laudator zu sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr, wobei sie sich theatralisch an die Stirn griff. Der Laudator wurde bleich vor Aufregung, sodass die unzähligen Sommersprossen auf seinen Wangen wie Sojasoßenspritzer hervortraten, behielt aber die Nerven. Er stützte Taubnessel fürsorglich und verkündete dem wartenden Publikum, dass ein akutes Unwohlsein die beliebte Autorin leider zwinge, auf die angekündigte Diskussion zu verzichten. Sie bedaure unendlich und bitte um Verständnis.

Taubnessel nickte gewichtig und stützte sich schwer auf den dünnen Arm des Festredners, während ein weiterer Mann auf das Podium stürzte. Zusammen schleppten sie Karla von der Bühne. Taubnessel winkte über ihre Schulter hinweg schwächlich ins Publikum, und alle drei verschwanden hinter dem brandroten Samtvorhang.

Anschließend ließ sich Taubnessel von drei Männern zu ihrem Pajero eskortieren. Einer davon muss ihr Ehemann Martin gewesen sein, denn das saubere Pärchen sprang auf die Vordersitze, und der Wagen brauste davon, als seien Furien hinter ihm her, während ich das Schauspiel von einer schattigen Nische des Nachbargebäudes aus verfolgte. Fast könnte sie einem leidtun, diese eingebildete taube Nuss, aber sie hat kein Mitleid verdient. Taubenuss hat meine Manuskripte gestohlen und meine wunderbare Serie um Lara Andernach zerstört. Sie hat sich in meinen Gedichten, Geschichten, Artikeln und Büchern bedient, um ihre trübselige Sprache aufzuwerten. Sie klaut jedes gottverdammte Wort, das ich je geschrieben habe, und sie nimmt immer nur das Beste: die gefühlvollsten und aufregendsten Szenen, die prägnantesten Sätze und die originellsten Figuren. Außerdem hat sie meine Sprache gestohlen: meinen Satzbau, meine Adjektive, meine Farben, meine Formulierungen.

Taubenuss hat mir die Sprache gestohlen, und dafür werde ich sie erledigen. Und bevor ich sie erledige, werde ich ihr alles entreißen, was sie mir weggenommen hat. Der Presse wird ihr Ende zu diesem Zeitpunkt höchstens noch eine Kurzmeldung wert sein, weil sie schon lange vergessen sein wird.

Fürchte dich, Taubnessel! Ich bin deine Nemesis.

Siri. Nach Taubnessels Preisverleihung ließ ich ihr ein bisschen Zeit, um sich von ihrem Schock zu erholen. Sie hatte garantiert Schiss, dass ich bei ihrer Lesung in Bonn wieder im Publikum sitzen würde, doch das war nicht der Fall. Reingefallen, Taubenuss!

 

Stattdessen hockte ich mit einem Pokal Gewürztraminer in meinem Wohnzimmer, meinen alten Tigerkater Kalamaki im Arm, und las den Kölner Report. Kalamaki rieb seinen pelzigen Kopf an meiner Schulter, suchte mit seinen smaragdgrünen Augen meinen Blick und schnurrte wie ein Teekessel. Im Kölner Report stand, Taubnessel habe bei ihrer Lesung in Bonn außergewöhnlich nervös gewirkt und sei ganz offenkundig nicht in guter Form gewesen. Und das ständige Umkippen ihrer hohen und ein wenig schrillen Stimme habe den Hörgenuss ziemlich getrübt.

Taubenuss zeigt erste Schwächen, das ist gut. Von nun an wird sich die Waage unaufhaltsam zu meinen Gunsten neigen.

Drei Tage nach ihrer Preisverleihung ging ich wieder mit dem Hund an ihrem Haus vorbei. Ich wusste, dass sie abends in der Kölner Uranus-Buchhandlung lesen würde. Es konnte bestimmt nichts schaden, sie schon vorab ein wenig aus dem Gleichgewicht zu kippen. Diesmal tarnte ich mich mit einer hellblonden kurzen Lockenperücke und einer herzförmigen Lolitasonnenbrille in schrillem Zyklam, die mein Aussehen völlig veränderten. Armin trug wieder sein auffälliges Halsband. Das Wetter war sonnig und für einen Herbsttag außergewöhnlich mild. Ein leiser Hauch von Sonnenmilch und Ozon hing in der Luft und erweckte in mir eine reißende Sehnsucht nach den südlichen Meeren, die ich so liebe und so lange nicht gesehen habe.

Schräg vor Karlas gelbem Bungalow steht ein großer Kirschbaum, der von dem obligatorischen kleinen Grasfleckchen umgeben ist, das man Stadtbäumen zugesteht, damit sie nicht verdursten. An diesem kleinen Grasfleckchen ließ ich Armin lange herum schnuppern, während ich zu Karlas Fenster hochstarrte. Dieses kleine Grasareal wird von allen Hunden der Nachbarschaft aufgesucht, denn viele der in der Pfauenstraße lebenden Menschen sind zu faul, um ihre Vierbeiner lange auszuführen, da man „Gassigehen“ nicht mit dem Auto erledigen kann. Armin wurde es jedenfalls nicht langweilig, er las begeistert seine Hundezeitung.

Karla Taubnessel trat an das riesige Panoramafenster und stand mehrere Minuten lang unbeweglich hinter ihrer grobmaschigen Gardine, die einen trübseligen Beigeton aufweist.

Ich konnte ihre Nervosität bis in meine Zehenspitzen spüren.

Zu ihrer Abendlesung erschien Taubenuss in einem apfelsinenfarbenen Ensemble, das sich scheußlich mit ihrem eher rötlichen Teint biss. An ihrer Seite hatte sie einen Bodyguard, einen sonnengegerbten Kerl, der aussah wie ein Kleiderschrank. Der Bodyguard durfte mit ihr auf die Lesetribüne. Während der ganzen Lesung hockte er dicht neben ihr auf einem Kunststoffstuhl ohne Armlehnen und suchte mit zusammengekniffenen Augen den Raum ab. Dieser Bodyguard muss Taubenuss einen Haufen Geld kosten.

Karla erklärte dem Publikum, dass es Drohungen einer Verrückten gegen sie gegeben habe, weshalb sie sich einen Personenschützer habe zulegen müssen. Sie erhielt ein mitfühlendes Gemurmel von den fast ausschließlich weiblichen Zuhörern, in das sich Aufregung und Entrüstung mischte.

Ich stand in einem schlecht ausgeleuchteten Bereich der Uranus-Buchhandlung und war mit einer rabenschwarzen Perücke im Pagenkopfstil und einer furchterregenden Hornbrille getarnt. Dazu trug ich sehr zurückhaltende Kleidung in verwaschenen Graublautönen. Ich hielt mich auch ein wenig gebückt, wie es ein alter Mensch tun würde. So etwas verändert die Körpersilhouette enorm.

Taubenuss wirkte angespannt. Ihre Blicke geisterten nervös durch den Raum, doch sie erkannte mich nicht. Als sie die erste Seite umblätterte, zitterten ihre Finger, und ihre Blechstimme kippte mehrmals peinlich. Sie trank eine ganze Literflasche Mineralwasser aus und verlangte mitten in der Lesung eine neue. „Judy und Rudi standen verlegen im Türrahmen wie Hänsel und Gretel“, las Karla. „Sie hatten nicht den Mut, einander in die Augen zu sehen …“

Bis ihnen die Hexe einen Stoß ins Kreuz gab, sodass sie in den brennenden Ofen flogen, wo sie hingehörten, höhnte ich in Gedanken. Natürlich stammt dieser Blödsinn nicht von mir. Ich bin auch sicher, dass sie ihn nicht bei Henning Mankell oder Petra Hammesfahr abgeschrieben hat, wie es auch schon vorgekommen ist. Taubenuss schreibt nämlich auch von anderen ab, sogar von Margaret Mitchell und Nabokov, nur viel vorsichtiger. Nein, dieser Schwachsinn musste auf ihrem eigenen Mist gewachsen sein.

Noch bevor die Pause eingeläutet wurde, steuerte ich den engen Durchgang zur Damentoilette an. Ich versteckte mich in einer der beiden Kabinen und schloss die Tür ab. Die Uranus-Buchhandlung eignet sich gut für größere Leseveranstaltungen. Vor allem aber hat sie eine geräumige Gästetoilette mit separaten Kabinen für Damen und Herren, was man in einer Buchhandlung eher selten findet. Ich zog die schwarze Perücke aus und bürstete mein langes blondes Haar, bis es schön locker fiel. Die Perücke verstaute ich unter meiner viel zu weiten Jacke und klemmte sie in meinen Hosenbund. Natürlich nahm ich auch die schauerliche Hornbrille ab. Im Handspiegel zog ich mir in einem dunklen, fast schwarzen Brombeerton die Lippen nach. Ich puderte auch mein Gesicht ab, das vor Aufregung schon leicht glänzte. Dann setzte ich mich auf den Toilettendeckel und lauschte dem Stimmengewirr, das aus dem Lesesaal bis in die Toilette drang.

Ich wartete geduldig. Mir war klar, dass Taubenuss kommen würde, um ihr Makeup aufzufrischen. Und ebenso klar war, dass sie ihren Bodyguard nicht in die Damentoilette mitschleifen konnte. Zunächst kamen zwei Frauen in flachen Schuhen, die ich erst hörte, als sie den Waschraum betraten. Sie brachten den süßlichen Geruch eines Parfüms mit, das mir unbekannt war. „Eine komische Stimme hat sie schon“ sagte die eine. „So hab ich sie mir gar nicht vorgestellt, so dick und dazu die Mickymausstimme.“

„Na, Du hast es nötig, Lia“, gab die andere in unverhohlenem Spott zurück. „Du bist ja auch nicht gerade eine Elfe.“ Sie ging in die Kabine neben mir und pinkelte ausgiebig.

„Aber meine Stimme passt zu mir“, erwiderte Lia leicht pikiert, als das Plätschern des Urinstrahls aufgehört hatte. „Meine Stimme klingt angenehm und hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit diesem blechernen Gequieke.“ Etwas fiel klirrend zu Boden und rollte über die meerblauen Bodenplatten auf meine Kabine zu. Es war ein Lippenstift in einer vergoldeten Hülse. Ich erhaschte einen Blick auf eine füllige Hand mit einem altertümlich geschliffenen Granatring, die den Stift vom Boden aufklaubte.

„Friede, Lia“, sagte die zweite Stimme lachend. „Ich hab’s nicht so gemeint, das weißt du doch. Sag mir lieber, wie dir die Lesung gefällt.“ Der Knopf des Händetrockners begann geräuschvoll zu summen.

„Tja, also im Buch hat’s mir besser gefallen. Alfredo ist schon ein toller Kerl, aber wenn das mit so einer piepsigen Stimme vorgelesen wird, vergällt es einem irgendwie den Genuss.“ Beide lachten, der Wasserhahn wurde zugedreht, und eine Handtasche mit einem Metallverschluss schnappte zu. Dann fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss. Danach geschah eine ganze Weile überhaupt nichts, während ich aufgeregt mit den Zehenspitzen auf den Boden tappte. Das Stimmengewirr im Lesesaal war jetzt gedämpfter. Endlich hörte ich Taubenuss, die den aquamarinblauen Teppichbelag des Lesebereichs offenbar hinter sich gelassen hatte; ihre Stilettos knallten auf die steinernen Platten des Durchgangs.

Ich erhob mich vom Klodeckel und wappnete mich. Los jetzt, Siri! Schnapp sie dir!

Taubenuss stieß die Tür auf und polterte in den Vorraum. Sie kippte ihr Kosmetiktäschchen auf dem holzvertäfelten Waschtisch aus, drehte das Wasser auf und riss ungeduldig an der Tülle des Seifenspenders. Ich riss die Kabinentür auf, trat dicht neben sie und blickte ihr im Spiegel in die Augen.