Violent Triumphs - König und Königin

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Aus der Reihe: White Monarch Trilogie #3
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Kapitel 2
Natalia

Meine Welt bebte und ich schreckte aus dem Schlaf hoch. Jaz beugte sich über mich, hinter ihr surrten die Deckenleuchten, die so grell waren wie die Sonne.

„Welchen Monat haben wir?“, fragte sie.

„Was?“ Ich setzte mich langsam auf. Ich konnte mich nicht daran erinnern, mich auf dem Boden mit einer Decke zusammengerollt zu haben.

„Wie alt bist du?“

„Ich … zwanzig. Warum?“

„Passt schon.“ Jaz stand abrupt auf und ging wieder zu ihrer Seite des Raumes.

Sie setzte sich in eine Ecke, zog die Knie an die Brust und legte die Hand mit der Waffe auf einem Knie ab. Ich drückte mir den Handballen gegen den schmerzhaft pochenden Kopf und stellte fest, dass er verbunden war. Dort, wo der Schnitt von dem Spiegelglas war, hatte man mir auch die Hand verbunden. „Was ist passiert?“

Sie starrte weiter auf die Tür. „Du bist ohnmächtig geworden.“

Ich sah alles doppelt. Im ganzen Raum lagen Decken und Kissen verteilt. Mehr Frauen waren aufgetaucht. Bis auf Jaz schliefen alle.

„Wie lange war ich weggetreten?“ Die Frage kam in einem kratzenden Flüstern aus meinem traumatisierten und protestierenden Hals.

„Keine Ahnung. Ein paar Stunden?“ Sie seufzte tief. „Alejandro sagt, oben ist alles gesichert, aber sie kümmern sich noch um die Leichen.“

„Leichen? Mehrere? Gibt es Neuigkeiten von …“ Ich konnte mich nicht dazu bringen, seinen Namen auszusprechen. Cristiano. Ihn sogar zu denken, verursachte mir Herzschmerzen.

„Alle Frauen, die überlebt haben, sind hier. Kein Lebenszeichen von Cristiano.“

Ich kämpfte gegen eine neue Welle der Übelkeit an. Kein Lebenszeichen war das Schlimmste. Alles deutete auf seinen Tod hin. Ich musste aber daran glauben, dass er noch am Leben war. Dass er, genau wie ich, gekämpft hatte, so heftig wie möglich. Dafür, dass er mein ganzes Leben an mich geglaubt hatte, war ich es ihm schuldig.

„Niemand hat sich gemeldet. Nicht Max. Nicht Daniel oder Cristiano. Sie sind tot.“ Ihre kleine Stupsnase zuckte. „Was willst du jetzt deswegen unternehmen?“

„Bitte?“

„Sie haben deinen Mann umgebracht. Nicht nur irgendeinen Mann. Sondern den Anführer eines mächtigen kriminellen Syndikats. Unseren Retter. Unseren Beschützer.“

Ich hob den Kopf. Sie erwartete, dass ich mir Belmonte-Ruiz vorknöpfte? Nein. Sie erwartete von mir, dass ich mich duckte und zusammenbrach, oder davonlief. Vielleicht wäre das auch clever. Wenn Cristiano de la Rosa sie nicht schlagen konnte, konnte ich es auch nicht. Allerdings hatte ich gerade einen Angreifer niedergestreckt, der mir gegenüber klar im Vorteil gewesen war. Aber ich konnte jetzt nicht an so etwas Beängstigendes denken. Ich rieb mir die Ellbogen, die neuesten, aber nicht die einzigen Stellen, die mir wehtaten.

„Hast du meine Wunden versorgt?“, frage ich Jaz, als ich den Erste-Hilfe-Koffer neben ihr stehen sah.

„Ich habe dich geweckt um zu sehen, ob du eine Gehirnerschütterung hast. Glaube ich aber nicht.“

„Woher weißt du so etwas?“

„Ich habe das schon oft für Cristiano und die anderen Männer gemacht. Dir fehlt anscheinend nichts.“ Sie zog die Knie noch enger an sich. „Was zu schade ist. Es würde mir einen Haufen Ärger ersparen. Ich hab dir gesagt, was dich Cristianos Leben kosten wird.“

Meins.

Pilar setzte sich von ihrem provisorischen Bett in der Ecke auf und rieb sich die Augen. „Was soll das heißen?“

„Dein Schicksal ist mit seinem verknüpft.“ Jaz sah zu Pilar. „Und deins auch.“

„Cristiano hat sich meinetwegen in Gefahr begeben“, erklärte ich Pilar. „Laut Jaz ist es meine Schuld, wenn er stirbt.“

Pilar hob die zittrigen Hände an den Mund. „Und sie werden uns umbringen?“

Ich hatte immer versucht, Pilar zu beschützen, aber wenn Cristiano mir eine Sache beigebracht hatte, dann dass keine Waffe gegen die Wahrheit ankam. Je mehr sie wusste, desto größer war ihre Chance, hier lebend herauszukommen. „Sie werden es versuchen.“

Ich hielt Jaz’ Blick stand. Sie machte mir keine Angst. Ihre Drohungen entsprangen der Sorge. Das war mir klar, weil wir beide vor der gleichen Sache Angst hatten. Nämlich, Cristiano zu verlieren. Sie wollte, was ich wollte. Sein Überleben. Die Frage war, warum ich mir um ihn Sorgen machte. Ich hatte Cristiano von mir gestoßen, wo ich nur konnte. Bloßgelegt, ohne jegliche Verärgerung, hinter der ich mich verstecken konnte, blieb nur meine ursprüngliche, ungetrübte, unerfindliche Hoffnung. Dass er am Leben war. Dass er zu mir zurückkommen würde. Dass ich die Möglichkeit haben würde, ihm zu sagen, dass ich nicht mehr dieselbe war, die damals hier ankam. Und, dass ich ihn nicht mehr als den gleichen Mann sah.

Hier in dem gepanzerten Raum verging die Zeit anders. Ich hatte keine Ahnung wie lange wir hier schon waren, als Alejandro endlich wiederkam. Ich sprang auf die Füße. Mir wurde schwindelig und ich stützte mich an der Wand ab. „Und?“, fragte ich.

„Ein Hubschrauber nähert sich. Es ist keiner von uns, aber wir haben Funkkontakt.“ Alejandro sah von Jaz und den aufwachenden Frauen auf dem Boden zu mir. „Cristiano ist an Bord.“

Ich legte eine Hand auf den Mund und mir entkam ein unerwartetes Schluchzen. „Ist er am Leben?“

„Ich weiß es nicht.“ Unsicher schüttelte Alejandro den Kopf. „Aber wir haben ausgezeichnete Ärzte hier, die ihn in Empfang nehmen.“

Ich würde ihn sehen. Berühren können. Ihm sagen können, was ich ihm sagen wollte. Dass ich ihn gar nicht mehr verlassen wollte.

„Ich sollte da sein, wenn er landet“, sagte ich, auch wenn mein Hals sich wund anfühlte.

Alejandro zögerte. „Bei allem Respekt, du wärst wahrscheinlich im Weg. Wir haben alles im Griff. Es wäre vielleicht das Beste, wenn du hier unten bleibst.“

„Vielleicht wäre es das Beste, wenn ich das nicht täte“, schoss ich zurück.

Alejandro hob eine Augenbraue. Bislang hatte ich weder ihm, noch irgendwem hier Grund zu der Annahme gegeben, dass mir etwas an Cristianos lebendiger Rückkehr lag. Aber trotz all meiner Bemühungen, hatten sich meine Gefühle für Cristiano entwickelt. Ich hatte es nicht zugeben wollen, aber jetzt hatte ich keine andere Wahl mehr. Ich konnte mich hinter nichts mehr verstecken. Der Gedanke, ihn zu verlieren, seine dunkle, feste Stimme nie wieder zu hören, und an die unausgesprochenen Dinge, schmerzte bis tief in meine Seele.

„Du hast selbst gesagt, dass Cristiano wissen wollen würde, ob es mir gut geht“, sagte ich. „Vielleicht gibt es ihm … Hoffnung, wenn ich da bin.“

Alejandro nickte hinter sich. „Na dann, komm.“

Außerhalb des gepanzerten Raumes bekam ich besser Luft. Ich konnte freier atmen. Ich war nicht untätig. Zügig liefen wir die Treppe zur Garage hoch.

Beim Betreten des Hauses durch die Hintertür zog Alejandro seine Waffe. „Bleib an meiner Seite.“

Obwohl ein Teil der Beleuchtung wieder angegangen war, jagte mir die seltsame Stille Schauder über den Rücken. Als ob das Haus seit Monaten unbewohnt wäre. Alejandro blieb dicht bei mir, seine Haltung war angespannt.

„Ich dachte, alles ist gesichert?“, wisperte ich.

Er antwortete nicht. Laut Cristiano kam es einem Todeswunsch gleich, sich bei etwas hundertprozentig sicher zu sein. Wir betraten den Flügel des Hauses, den ich noch nicht hatte erkunden können, und gingen zu einem Aufzug, von dem ich bisher nur gehört hatte. Sowie wir uns darin befanden, fragte ich: „Wo führt der hin?“

„Zum Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach.“

Wir verließen den Lift und betraten eine freiliegende, gut beleuchtete Landeplattform. Das war nicht einmal das Dach. Der oberste Stock des Hauses lag weit unter uns. Es war einfach die endlose, schwarze Nacht auf einer Bergspitze. Ich hatte in diesen Himmel schon früher hochgesehen und mich an den vielen Sternen erfreut. Jetzt waren sie vom Flutlicht ausgeblendet. Wir liefen zu der runden Betonplattform, auf der ein Kreis und ein H in der Mitte aufgezeichnet war. Ein Team aus Männern in Jeans und T-Shirt wartete dort, die Hände in den Hosentaschen und mit heruntergezogenen Augenbrauen.

„Wer sind die?“, fragte ich.

„Das Trauma-Team. Unten kümmert sich bereits mehr medizinisches Personal um die Verletzten.“ Alejo deutete auf eine Frau. „Sie hat hier das Sagen und bereits früher mit Cristiano gearbeitet.“

An meinem Daumennagel kauend, betrachtete ich das Team. Ich kannte bis dahin lediglich sterile Krankenhäuser, weiße Kittel, Stethoskope und Hightech-Apparate. Selbst als mein Vater und Großvater ärztliche Hilfe in Anspruch genommen hatten, sahen die Doktoren immer sehr professionell aus. Keiner von ihnen hätte jemals eine Ärztin als Chefin zugelassen, auch wenn das gar keinen Sinn ergab.

„Bist du dir sicher? Ich könnte meinen Vater anrufen. Er kennt ganz bestimmt die besten Leute des Landes.“

„Doktor Sosa ist hoch angesehen. Cristiano vertraut ihr.“ Alejandro legte sich die Hand in den Nacken, holte tief Luft und sah dabei nach oben. „Sofern er am Leben ist, wenn sie landen, ist er in guten Händen.“

Ein dumpfes Propellergeräusch ließ uns nach hinten blicken. Am Horizont tauchte ein blinkender Punkt auf. Ich faltete die Hände vor der Brust, während er näher kam. Ich wollte sehen, dass sich Cristianos Brustkorb hob und senkte, wie seine Lippen und Hände lebendig und warm waren, wie sich seine Wimpern bewegten, wenn er diese dunklen, gnadenlosen Augen öffnete, die bei meinem Anblick immer weich wurden.

War das denn zu viel verlangt?

Ich flehte und betete.

Ich hielt mir die Haare zusammen, als der Hubschrauber vor uns in der Luft schwebte. Sobald die Kufen aufgesetzt hatten, kam Bewegung in das Team. Sie öffneten die Tür, griffen hinein und halfen einer Frau mit ellenlangen Beinen in einem kurzen roten Kleid heraus. Bei dem unerwarteten Anblick einer Schönheit mit rotem, lockigem Haar und knallrotem Lippenstift, blieb mir der Mund offen stehen. Das makellose Make-up erweckte den Eindruck, als käme sie gerade von einer Dinnerparty.

 

„Wer ist das?“, fragte ich.

Alejandro folgte meinem Blick. „Wenn ich raten müsste, könnte das Natasha sein.“

Natasha?

Bei dem Namen rangen alle Alarmglocken in meinem Kopf. Cristiano hatte eine Natasha erwähnt, aber damals klang es eher nach einem One-Night-Stand.

Eine Trage wurde eilig aus dem Hubschrauber auf die Landeplattform gehievt. Bei dem Anblick des leblosen Körpers darauf, setzte mein Herz einen Schlag aus. Cristiano war niemals so still. Ich konnte mich nicht daran erinnern, zu ihm gerannt zu sein, aber plötzlich befand er sich in meiner Reichweite. Hände mit sterilen Handschuhen hielten mich zurück. Männer brüllten mich an, ich sollte zurücktreten. Cristianos aufgerissenes Hemd legte blutdurchtränkte Bandagen um seinen einst so eleganten, jetzt zerfetzten, immer kraftvollen, Oberkörper frei. Während man die Trage rasch auf Rollen über den Beton schob, hopste sein Körper schlaff darauf auf und ab. Sein blasses Gesicht unter der Sauerstoffmaske machte mir Angst.

„Ist er am Leben?“, hörte ich mich fragen.

„Sie müssen zurücktreten“, wiederholte einer der Männer.

Alejandro hielt die Aufzugtüren auf. Ich wollte ebenfalls mit hinein, aber um meinen Ellbogen krallten sich Finger und zogen mich zurück.

„Sie haben gesagt, du sollst Platz machen.“

Als sich die Türen schlossen, drehte ich mich zu der scharfen, weiblichen Stimme und der Besitzerin der Acrylnägel, die mich von Cristiano weggezerrt hatten, um. Wenn sie keine so hohen Schuhe angehabt hätte, die sie in einen Baum in einem obszön kurzen Kleid verwandelten, dann wären wir auf Augenhöhe gelandet.

„Wer sind Sie?“, fragte ich.

Sie ließ meinen Arm los. „Ich bin der Grund, warum Cristiano noch lebt.“

Er lebte.

War sie sich da sicher? Woher wusste sie das? Egal. Es war die einzige Antwort, die ich bisher erhalten hatte, und ich würde sie nicht abweisen. Ich schlug ein Kreuz vor der Brust und dankte still der Lieben Frau von Guadalupe.

„Sie“, sagte die Frau über meinen Kopf hinweg zu Alejandro. „Sind Sie hier der Sicherheitschef?“

„Im Moment, ja.“ Er drückte den Knopf des Aufzugs. „Ich bin Alejandro.“

„Ah, ja. Du hast mit meinem Piloten gesprochen.“ Sie hielt ihm die Hand entgegen. „Natasha Sokolov-Flores. Eine alte Freundin von Cristiano.“

Sie schüttelten sich die Hände und Alejandro deutete mit dem Kopf auf mich. „Das ist Natalia. Cristianos Ehefrau. Sie ist genau wie ich der Kopf des Haushalts, solange Cristiano außer Gefecht gesetzt ist.“

Ich wusste seinen Vertrauensvorschuss zu schätzen, ganz besonders nach Jaz’ Meinung über mich.

Natasha sah mich wieder an. Oder eher meine Ringe. „Ist das klug?“, fragte sie. „Cristiano hinterließ den Eindruck, dass dies eine arrangierte Ehe ist. Ich bin mir sicher, dass er seine Geschäfte nicht in die Hände einer Frau legen würde, der er kaum über den Weg trauen kann.“

„Und ich bin mir sicher, dass er es nicht begrüßen würde, dass Sie so mit mir sprechen“, sagte ich.

Ich war genauso überrascht wie sie, als sie mich daraufhin ansah.

Cristiano würde mich jetzt an meine Geisteshaltung erinnern. Natasha hatte die falsche Haltung mir gegenüber. Genau wie ich auch. Cristiano würde von mir erwarten, dass ich in einer Situation wie dieser, die Dinge anpackte.

„Señora de la Rosa hat viele Berater“, versicherte Alejandro.

Natashas Blick glitt über mich zu ihm zurück. „Ich bin mir sicher, Sie wollen wissen, was passiert ist. Können wir irgendwo reden?“

Waren sie und Cristiano … zusammen gewesen? Heute Abend? Am Telefon hatte er davon nichts erwähnt. Aber warum sollte er auch? Auf jeden Fall konnte ich mich im Moment nicht damit belasten lassen. Cristianos Zustand war viel wichtiger.

„Wir können jetzt reden. Hier“, sagte ich.

Der Aufzug kam und wir betraten ihn. „Vielleicht ist es besser, wenn Sie uns die Sache besprechen lassen“, sagte Natasha zu mir. „Es ist nichts für sanfte Gemüter.“

Ich würde den Elfenbeinturm besitzen und von dort heraus regieren. Das hatte Cristiano mir an dem Tag versichert, an dem wir unsere Gelübde ablegten. Wenn ich nicht selbst daran glaubte, dass ich in seiner Abwesenheit die Dinge leiten konnte, dann würde ich es nie tun. „Ich muss bei allen Unterredungen anwesend sein.“

Sie sah zu Alejandro, als ob er seine Erlaubnis erteilen müsste. „Cristiano vertraut ihr“, sagte er. „Und bei allem Respekt, Natasha, aber Sie sind die Fremde hier.“

Der Aufzug hielt im obersten Stockwerk des Hauses und die Türen öffneten sich. „Nenn mich Tasha. Das macht Cristiano auch“, sagte sie und verließ die Kabine.

Ich versuchte, mit Alejandro mitzuhalten, als er den Flur entlang zu unserem Schlafzimmer ging. Bis er abrupt an der Türschwelle anhielt und sich mit finsterem Blick zu mir drehte.

„Was ist?“, fragte ich.

„Du darfst dich weder von ihr noch irgendwem einschüchtern lassen.“ Er sah sich um. „Sollte Cristiano nicht überleben … hast du hier das Sagen. All das hier gehört dir. Und das meine ich nicht im übertragenen Sinn. Er hat darauf bestanden, dass eure Heirat legal ist.“

Noch bis vor Kurzem hätte ich gedacht, um mich zu quälen. Jetzt fragte ich mich, ob Cristianos Gründe tieferer Natur gewesen waren. Ein Drang, sich auf einer Ebene mit mir zu verbinden, obwohl ich nichts mit ihm zu tun haben wollte. Ein Versuch, mich zu beschützen, auch noch, wenn ihm etwas zustoßen sollte.

„Du hast meine Loyalität, Natalia“, sagte Alejandro und las meine Gedanken. „Cristiano würde es so wollen.“

Ich schluckte und blickte zur Tür. Der zerbrochene Spiegel war fort. Ich nahm an, dass die Leiche am Strand auch verschwunden war. Alejandro und seine Leute arbeiteten schnell.

Mein Blick ging zu Cristiano, der jetzt im Bett lag.

„Wir sollten nicht so über ihn reden, als wäre er schon fort. Noch ist er hier.“

Das Ärzteteam arbeitete so zügig, ich konnte die vier kaum auseinanderhalten, geschweige denn näher als einen Meter an das Bett herankommen. Ruckzuck hatten sie Cristiano an einen Herzmonitor angeschlossen, der aus dem Nichts aufgetaucht war, an einen Tropf gehängt und ihm Spritzen verpasst. Weiße Pflaster klebten auf seinem Oberkörper und überall an ihm hingen Schläuche. An seiner Brust, seinen Armen und Händen. Sein dunkles, zerzaustes Haar klebte an der feuchten Stirn und ich widerstand dem Drang, ihm die Strähnen aus den Augen zu streichen.

„Was ist passiert?“, fragte ich, wer auch immer antworten würde. „Wurde er angeschossen?“

Tasha drehte sich mit verschränkten Armen zu mir. „Messerstiche.“

So nah konnte ich sehen, dass Cristianos Blut ihr rotes Kleid besudelt hatte. Sie hatte geholfen, sein Leben zu retten, während man mir vorhielt, ich hätte es in Gefahr gebracht. Hätte ich die Energie gehabt, hätte ich sie dafür gehasst, dass sie Informationen über meinen Ehemann hatte, die ich wollte. Und für ihr spitzes Kinn, das ihrem Gesicht eine charmante Herzform verlieh, und ihre sinnlichen, osteuropäischen Gesichtszüge und den sanften, unauffälligen Akzent, der so exotisch klang.

Alejandro bat uns, an den Kamin zu gehen und weg von den Ärzten.

„Erzähl uns, was vorgefallen ist“, sagte er zu Tasha.

„Cristiano ist den falschen Leuten auf den Schlips getreten, mit seinem kleinen Unternehmen“, sagte sie.

Sie kannte die Wahrheit und wusste also, was in den Badlands vor sich ging. Sie und Cristiano standen sich nah. Aber wie nah? Nah genug, dass sie über unsere Ehe geredet hatten, aber nicht nah genug, dass sie wusste, dass es nicht nur eine Scheinehe war.

„Cristianos Unternehmen ist alles andere als klein“, sagte ich.

Sie hob eine gezupfte Augenbraue. „Du weißt darüber Bescheid?“

„Über die Geschäfte meines Ehemanns? Ja.“ Auf der anderen Seite des Raums versammelten sich die Ärzte an Cristianos Kopfende. Ich drehte an meinem Diamantring und fügte hinzu: „Wir wissen bereits, dass Belmonte-Ruiz dahintersteckt.“

„Sie haben uns hier auch angegriffen“, erklärte Alejandro. „Du hast gesagt, du hast ihm das Leben gerettet?“

„Cristianos Angreifer ist tot“, sagte sie. „Ich hatte keine Zeit, es nachzuprüfen, aber die Männer meines Vaters haben es mir bestätigt. Sie kümmern sich jetzt um die Leiche.“

„Unsere Leute sind unterwegs, um nach Max und Daniel zu suchen.“ Alejandro sah auf sein Handy. Ich hatte nicht mitgezählt, wie oft schon. „Hast du sie gesehen?“

„Nur auf der Veranstaltung“, sagte sie. „Einer von ihnen bewachte die Tür, während Cristiano und ich uns auf dem Balkon allein unterhielten.“ Sie leckte sich über die Unterlippe und hielt Alejandro im Blick. „Cristiano ging vor mir. Als ich herauskam, sah ich einen der Männer vom Parkdienst mit einem Messer in der Hand über ihm stehen. Auf Cristiano wurde mehrmals eingestochen. Der Mann war gerade dabei, ihn zu töten.“

„Und? Was dann?“, fragte ich.

Tasha nahm sich die Zeit, ihre schmale Clutch aus Schlangenleder zu öffnen. Sie zog eine kleine Handfeuerwaffe hervor, die gerade so in ihre Handfläche passte. „Elena. Benannt nach meiner Großmutter. Keine von beiden hat mich je im Stich gelassen.“

„Du hast ihn erschossen?“, fragte ich.

Sie warf sich die kastanienfarbigen Locken über die Schulter. „Hättest du das etwa nicht, Darling?“

Ich wurde rot. Cristiano hatte mir nicht erlaubt, eine Waffe zu haben. Wo war die White Monarch jetzt? Immer noch in seinem Büro vom La Madrina? Ich hatte nur die nächstbeste Alternative. Meinen goldenen und silbernen Ehering mit Perlmutteinlage, entworfen nach der eleganten Neunmillimeter, der vor ein paar Stunden auch als Waffe verwendet worden war.

„Wir telefonierten gerade, als es passierte“, sagte ich. Ich hatte das Lächeln in seiner Stimme gehört, als ihm klar wurde, dass ich anrief, weil ich mir Sorgen um ihn machte. Nach Wochen des Widerstandes meinerseits, wie fürchterlich musste es für ihn gewesen sein, zu denken, dass er mich endlich am Haken hatte, dass die einzige Gefahr das übliche Minenfeld unserer Unterhaltungen war, um dann … mit einem Messer attackiert zu werden.

„Hast du sein Handy gesehen, Tasha? Es ist aus“, sagte Alejandro. „Hatte er es in der Hand?“

„Cristiano war kaum bei Sinnen, lallte die Worte, war nicht zu mehr in der Lage, als auf dem Boden zu liegen“, sagte sie.

„Lallte?“, fragte Alejandro. „Wenn er unter Drogen gesetzt wurde, würde das erklären, warum er sich nicht wehren konnte und uns nicht mitgeteilt hat, dass er in Schwierigkeiten steckt.“ Alejandro tippte etwas auf seinem Handy. „Lass deine Männer nach seinem Handy suchen und es zerstören.“

Ich versuchte mitzukommen, ohne emotional zu werden. Auf dem Boden gelegen? Unter Drogen gesetzt? Cristiano stand über allen Dingen, und nicht nur körperlich. Der Gedanke, dass er nicht in der Lage gewesen war, sich zu verteidigen, formte einen Kloß in meinem Hals.

„Wie hast du ihn hier herbringen können?“, fragte ich, um mich auf etwas anderes zu konzentrieren.

„Meine Bodyguards“, sagte Tasha. „Ich wusste nicht, was noch passieren würde, also haben wir ihn in mein Auto geschafft. Maksim hob nicht ab und ich habe sonst keine andere Nummer, also rief ich meinen Vater an. Er schickte uns den Hubschrauber. Wir haben unser Bestes getan, um die Blutungen zu stoppen.“

„Er hätte unterwegs sterben können, er hätte in ein Krankenhaus gehört.“

Tasha schnaubte. „Sei nicht naiv. Die hätten ihn zusammengeflickt und dann an die Behörden ausgeliefert.“

„Glaubst du nicht, dass mir das egal wäre, solange er nur am Leben wäre?“, fragte ich und Hitze kroch mir den Hals hoch. „Es hätte keine Rolle gespielt, ob er verhaftet worden wäre, Cristiano de la Rosa kann sich aus jeder Situation manövrieren.“

„Vorausgesetzt er überlebt“, sagte sie und zog ein Puderdöschen aus ihrer Clutch, „ist er dazu vielleicht nicht mehr länger in der Lage.“

Alejo hielt inne und sah von seinem Handy hoch. „Was meinst du damit?“

„Wenn Belmonte-Ruiz sich auf die Calavera-Spielchen eingeschossen hat, wird es Nachahmer geben.“ Sie überprüfte ihren Lippenstift in dem Spiegelchen und fuhr sich mit dem Finger über die Mundwinkel. „Man erzählt sich, dass Cristiano seine Waffenlieferungen an alle eingestellt hat, die mit den BR zusammenarbeiten.“

 

„Sowie an alle Syndikate, die auf irgendeine Art mit Menschenhandel zu tun haben“, sagte Alejandro mit einem Nicken. „Das ist kein Geheimnis.“

Sie sah ihn von der Seite an und ließ ihr Puderdöschen zuschnappen. „Das reicht, um einige zu verärgern.“

„Das ist korrekt“, stimmte Alejandro zu. „Besonders, wenn die Wahrheit über die Badlands publik wird. Aber wir haben das alle gemeinsam so beschlossen.“

Ich biss mir auf die Lippe, gab mir alle Mühe, mitzukommen, und schaffte es auch. Die Wahrheit über die Badlands …

Grausige Gerüchte rankten sich um das Calavera-Kartell. Es hatte einen Ruf, den Cristiano und seine Männer kultiviert hatten, damit sie sich von allem anderen isolieren konnten. Calavera war der Top-Händler für Waffen. Weltweit. Und das machte sie nahezu unantastbar. Aber reichte das, um sie zu beschützen, wenn es die Runde machte, dass die Badlands eigentlich eine Art Rehabilitationszentrum waren, für alle, die von anderen Kartellen in die Sklaverei verkauft worden waren? Die Anführer der Untergrundorganisationen in der Welt, in der ich aufgewachsene war, konnten fast alles rechtfertigen und unterstützen. Aber die Zerstörung feststehender Strukturen, Diebstahl, der Cristianos Rivalen richtig wehtat und das Zusammenbrechen eines ganzen Geschäftszweiges, der seit Jahrzehnten Bestand hatte …

Das war etwas, das keiner hier unterstützen würde.

Aber darüber konnte ich mir jetzt keine Sorgen machen. Cristianos Leben stand auf dem Spiel. Und ich wollte nicht an das denken, was ohne ihn aus all dem hier werden könnte.