Das Halbmondamulett.

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Das Halbmondamulett.
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Jens Petersen

Das Halbmondamulett.

200 Jahre in den Gegenden Rechts des Verweilens.

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Inhalt

Verwehte Spuren

Die Stadt der Dschinns

Der zweite Wächter

Geschichten und deren Verdichtung

Das reine Licht der Höhe

Wegelagerer, Magier, Lustschlösser und die Lust der Sprachlosigkeit

Dämmerung der Zeitalter

Vier Patronen

Von modernen und alten Zeiten, von Wein und Qat, dem siebenten Propheten und von den behaarten Beinen der Königin

Auf der Suche nach der alten Stadt Zufar

Das Gästehaus

Die Sache des Volkes

Sandkörner

Kain, der Wiederholungstäter

Der dritte Passagier

Magganon

Die Gärten des Hadramaut

Söhne des Weges

Leere

Al-Muhādschirūn

Ruhende und bewegte Steine

Die Hüter des Schatzes

Die Belagerung von Hureida

Der hundertneunundachtzigste Tag

Lange Stunden geduldigen Wartens waren uns schon vorher auferlegt. Wo wir doch beide in zunehmendenm Maße danach fieberten, endlich etwas zu unternehmen. Die Sonne war längst hinter dem dunklen Kratermassiv verschwunden. Voraus war die Lichterkette der Uferstraße von Ma´alla zu sehen, Backbord die vielen verstreuten Lichter der Einzelhäuser in Khormaksar auf der Landbrücke zum Festland. Gedämpfte Stimmen drangen herüber von den Decks der umliegenden Dhaus. Auch unsere Wachmannschaft war noch lange auf. Am meisten sorgte uns der Schiffseigner. Alte Leute haben meist einen leichten Schlaf. Zudem lag er nur eineinhalb Meter entfernt, allein durch die Kajütenwand von uns getrennt. Durch ein Bullauge konnte er uns sogar beobachten, ohne dass wir ihn in der dunklen Kajüte erkennen konnten. Zu unserem Glück war er Kettenraucher. Man konnte sich darauf verlassen, er würde es nicht allzu lange ohne Zigarette aushalten. Wann immer wir diese noch glimmen sahen, verhielten wir uns am besten ruhig. Die sollten gar nicht erst argwöhnen, wir hätten irgendetwas vor. Lieber den Eindruck erwecken, wir warteten noch weiterhin geduldig auf Hilfe von außen am nächsten Tag. Die Wachen saßen zum Glück alle auf dem etwas tiefer gelegenen Mitteldeck zwischen Mast und Kochnische. Von unserem Lagerplatz aus konnten wir sie gut beobachten. Schon früh am Abend hatten wir die Aktion in allen Details verbal durchgeführt, um auf mögliche Fehler zu stoßen. So wie der Plan jetzt stand, barg er zumindest die wenigsten Risiken. Es wäre müßig noch weiter darüber zu reden. Wir legten uns besser hin, krochen in unsere Schlafsäcke und taten, als ob wir schliefen. Es bestand nicht die leiseste Gefahr des Einschlafens. Dazu waren wir viel zu aufgeregt. Lange, endlos lange hörten wir noch die leisen Stimmen der Mannschaft und sahen die Zigarettenglut des Alten. Auf den nächstgelegenen Dhaus war es schon länger still. Endlich schienen auch bei uns an Bord alle zu schlafen. Wir warteten noch eine geraume Zeit um sicher zu gehen. Es musste mittlerweile schon spät in der Nacht sein, denn auch an der Uferstraße sah man nur noch selten die Scheinwerfer eines Fahrzeugs. Dann waren wir uns sicher, es wäre so weit. Hermann kroch nur mit der Badehose bekleidet aus dem Schlafsack und ging auf die Toilette. Wie auf allen Dhaus war diese ein an drei Seiten geschlossener Kasten, offen nur nach unten und zum Eingang hin. Nur wenige Schritte von uns entfernt war er, und der Gang dorthin würde noch keinen Argwohn erregen. Außer dem leisen Klatschen der Wellen an der Bordwand war noch immer alles still. Niemand schien ihn bemerkt zu haben. Was in der Dunkelheit nicht zu sehen war, eng an den Körper gepresst und mit einer Schnur um den Hals gebunden, trug Hermann einen verschlossenen Plastikbeutel, in dem sich ein Handtuch, ein Hemd, eine Hose, Sandalen, etwas Geld und Schreibzeug befanden. Einmal in diesen Abtrittskasten eingetreten war er im Dunkeln nicht mehr zu sehen. Wir hatten abgemacht, dass er dort einige Sekunden warten sollte, ob irgendwer ihn bemerkt hätte. In diesem Fall hätten wir den ganzen Versuch abgebrochen und nach langer Wartezeit aufs Neue gestartet. Es blieb immer noch still. Jetzt müsste er sich langsam durch die untere Öffnung, die dazu weit genug war, herunterlassen und an der breiten Leiste entlang hanteln, die wie ein Stoßdämpfer den ganzen Schiffsrumpf unterhalb des Bordgeländers umgab. Das waren nur wenige Meter, und er müsste jetzt eigentlich schon am Ruder sein. Dort könnte er mählich ohne Aufklatschgeräusch ins Wasser gleiten. Die Ankertrosse wäre leichter gewesen, aber die war heute viel zu weit entfernt in der Nähe des Bugs gespannt. Offenbar machte er seine Sache gut. So aufmerksam ich auch hinhörte, ich vernahm nichts als das gewohnte flache Schlacksen der Wellen gegen die Schiffswand. An Bord rührte sich immer noch nichts. Es war abgesprochen, dass er unter Wasser blieb, bis er hinter dem nächsten Schiffsrumpf außer Sicht war. Vorsicht war jedoch auch weiterhin geboten. Nicht vorauszusehen war, welches Ende es nähme, wenn man von anderen Dhaus auf ihn aufmerksam würde und ein Geschrei anhebe. So hatten wir ausgemacht, dass er sich immer den jeweils nächsten Punkt zum Auftauchen sorgfältig vorher ausspähen sollte, irgendeinen Fleck konzentrierter Dunkelheit oder den Sichtschutz überkragender Hecks. So weit wie möglich sollte er unter Wasser bleiben und beim Auf- und Eintauchen keine Geräusche machen. Ich hatte schon längst Gepäckstücke in Hermanns Schlafsack gestopft, so dass es aussah als läge er darunter. Wahrscheinlich war doch weit weniger Zeit verstrichen, als es mir vorkam. Bei Aufregung ist es besonders schwer den Verlauf der Zeit zu schätzen. Dann kam mir der Gedanke zu zählen. Das würde eine annähernd messbare Qualität ergeben. Übertragen auf die Entfernung zum Ufer, müsste er mittlerweile dort angekommen sein. So weit zu hören war, blieb immer noch alles in tiefster Ruhe. Am Uferstrand gab es etliche Dhaus, die wegen Reparaturarbeiten an Land gezogen waren. Dazwischen standen Wrackteile und Bretter von Bauholz herum, aber auch Hütten, in denen Menschen wohnten einige mit Hunden. Hermann musste wohl Glück gehabt haben, konnte sich unbemerkt in einem abgeschirmten Winkel anziehen. Jedenfalls kam auch von dort kein beunruhigendes Geräusch herüber.

Impressum neobooks

Inhalt

Jens Petersen

Das

Halbmondamulett

Zweihundert Tage in den Gegenden rechts des Verweilens

1. Verwehte Spuren

2. Die Stadt der Schinns

3. Der zweite Wächter

4. Geschichten und deren Verdich-

Tung

5. Das reine Licht der Höhe

6. Wegelagerer, Magier, Lustschlös-

ser und die Lust der Sprachlo-

sigkeit

7. Dämmerung der Zeitalter

8. Vier Patronen

9. Von modernen und alten Zeiten,

von Wein und Qat, dem siebenten

Propheten und den behaarten Bei-

nen der Königin

10. Auf der Suche nach der alten

Stadt Zufar

11. Das Gästehaus

12. Die Sache des Volkes

13. Sandkörner

14. Kain, der Wiederholungstäter

15. Der dritte Passagier

16. Magganon

17. Die Gärten des Hadramaut

 

18. Söhne des Weges

19. Leere

20. Al-Muhādschirūn

21. Ruhende und bewegte Steine

22. Die Hüter des Schatzes

23. Die Belagerung von Hureida

24. Der hundertneunundachtzigste Tag

"Wären da nicht die weiten Felder der Seele, es gäbe keine wirkliche Reise des Wandernden"

Ibn 'Ata Allah

Verwehte Spuren

Natürlich könnten wir immer noch umkehren und unbehelligt zurückfahren. Niemand hätte uns daran gehindert. Wußte doch niemand von unserer Anwesenheit hier, noch von unserem Vorhaben. Wir stellten den Motor ab. Die Stille hatte etwas Betäubendes. Wenige Meter vor uns endete die Straße abrupt im Sand. Dahinter war das Meer zu erkennen, reglos in der Hitze daliegend, nur das Gleißen der Sonne wiederspiegelnd.

Linker Hand ragten einige aus ausgeschnittenen Teertonnen zusammengeklopfte Hütten aus dem Sand, dahinter die Baracken und die Mine, wie eine vergessene Kulisse, zurückgelassen in der Weite von Sand und Meer. Nichts darin regte sich. Nur soviel spürten wir alle vier, hier in Marsa Alam nahm etwas seinen Anfang, zu fremdar= tig, um erkannt zu werden. Zur Rechten, in Richtung Süden, parallel zum Meer, schwang sich eine Schotterpiste über den nächsten Hügel und damit außer Sichtweite. Noch davor, schon nach wenigen hundert Metern, war eine Schranke errichtet mit einem braunen Militärzelt daneben.

„Das kann man ja wohl unter Ulk abhaken“,

bemerkte Hermann,

„denn rechts davon wären gute zweihundert Kilometer Raum sie zu umfahren.“

Als niemand Anstalten machte sie zu öffnen, stellten wir den Motor ab. Ein Soldat trat heran und hieß uns, ihm in das Zelt zu folgen. Der Offizier wollte die Pässe sehen, blätterte lustlos darin herum und überraschte uns so gar nicht, mit der Frage, ob wir Visa für den Sudan hätten. „Nein, wozu braucht man die denn auch in Ägypten?“

Er klärte uns sodann freundlich auf, dass Ausreisende schon hier abgefertigt würden, obwohl es noch über dreihundert Kilometer bis zur Grenze wären, weil keine Siedlung mehr käme, nur noch eine Kontrollstation. Wir gaben vor, nicht so nahe am Ort campieren zu wollen, sondern lieber einige Kilometer weiter am Strand unser Lager aufschlagen, um ein paar Tage mit Baden und Schnorcheln zu verbringen, bevor wir zurück nach Assuan führen. Er schien uns das abzunehmen, wohl auch, weil er mit einem Blick den Eindruck gewinnen konnte, dass wir für eine so lange Wüstenfahrt, mit unserem ohnehin wenig geeigneten VW-Kastenwagen, gar nicht ausgerüstet waren. Eine Weile unterhielten wir uns noch beim üblichen Tee, ließen uns von ihm die Kamele vorführen und wurden dann weiter gelassen. Nach etwa zwei Kilometern, gut außer Sicht- und Hörweite, errichteten wir tatsächlich am Strand unser Lager. Am Nachmittag kam, wie nicht anders erwartet, eine Kamelpatrouille vorbei. Wie es gute Sitte verlangte, luden wir die Beiden zum Tee ein.

„Unser Verschwinden“,

frohlockte Bernd, als wir endlich in Fahrt kamen,

„werden die erst in 24 Stunden bemerken, wenn die nächste Kamelpatrouille uns nicht mehr antrifft. Aber dann hat sich nichts mehr mit Verfolgung. Dann werden wir schon tief in der Wüste sein und kaum noch aufzufinden. Na ja, eigentlich sollte es den Ägyptern sowieso schnuppe sein, was wir im Sudan machen.“

Die Makkadampiste hörte schon bald auf. Es folgte eine Wegmarkierung mit Steinen und bald nur noch Spuren, an denen man sich orientieren konnte. Das Meer zur linken Seite war längst außer Sichtweite, aber manchmal tauchte ein schwarz-weiß geringelter Stab auf oder eine Pyramide aufgeschichteter Steine. Wir wussten dann, dass die Richtung noch stimmte. Später wurden auch diese Wegmarken seltener, und wir freuten uns jedes Mal, wenn wir eine zu Gesicht bekamen. An diesem Tag schafften wir noch etwa fünfzig Kilometer, ohne, außer einigen freiweidenden Kamelen, ein Lebewesen zu sehen. Das Gelände kam uns entgegen, indem es durch eine Unmenge kleiner Erhebungen unübersichtlich war. Trotzdem mussten wir sehr weit ausweichen, damit die Staubsäule, die jedes Fahrzeug unvermeidlich erzeugte, uns nicht verriet.

Als wir endlich sicher waren, Berenis jetzt weit hinter uns gelassen zu haben, drehten wir wieder nach links ab, um die Route zu suchen. Wir hatten Glück und trafen, ziemlich genau nach der errechneten Kilometerzahl, wieder auf Spuren im Sand. Jetzt lagen etwa dreihundert Kilometer leeres Land vor uns, ohne irgendeine, noch so winzige Siedlung oder Station.

Die Fahrt ging leidlich flott voran. „Die Ägypter haben wir jetzt abgehängt“,

freute sich Bernd. Von nun an war für lange Zeit nichts zu erwarten. Bei monotonem Motorgeräusch und unentwegtem Staubrieseln dösten wir nur in Badehosen so vor uns hin.

„Du hast Recht“,

überlegte 0-Chang,

„selbst wenn sie uns vielleicht verfolgt hatten, hier sind wir außerhalb ihrer Reichweite.“

Das Gefühl der Sicherheit und die Hitze machten träge, so dass auch Gespräche bald nicht mehr aufkamen.

Zur Linken musste irgendwo das Rote Meer liegen, vielleicht zwei vielleicht auch zwanzig Kilometer entfernt. Wir sahen es den ganzen Tag nicht. Den rechten Horizont bildete eine schier nicht endende Bergkette. Stunde um Stunde starrten wir in diese gleichbleibende Landschaft. Auf kahler, steiniger Ebene wanderten kleine Flugsandanhäufungen vor dem Wind, und hefteten sich gelegentlich an niederes Dornengestrüpp oder in flache Bodensenken. Der Horizont vor uns ging unter im Flimmern, und in sich ständig wieder entziehenden Luftseen. Stumm in Wachträumen versunken verdämmerten wir den Tag. „Wenn man es recht überlegt“,

unterbrach O-Chang die dösende Stille,

„so müssen wir ja ganz schön zugenagelt sein.“

„Wie meinst du?“

„Hast du dir schon mal überlegt, was passiert, wenn wir hier ´ne Panne haben, oder hoffnungslos im Sand festsitzen? Auf dieser einsamen Route kann es Monate dauern, bis wer vorbeikommt.“

„Was ist mit Suchaktion?“

„Wer denn? Wir haben doch selber dafür gesorgt, dass niemand weiß, dass wir hier sind.“

„Die Ägypter wissen es.“

„Die werden nicht gerade in Laune sein, so wie wir die verladen haben. Außerdem sind wir schon nicht mehr auf ihrem Hoheitsgebiet.“

„Es wird ohnehin kommen, wie es kommt“,

sagte ich.

„In letzter Zeit habe ich immer mehr den Eindruck, als passieren die Dinge mit uns, gleichgültig, was wir tun oder wollen.“

„Das geht mir auch so“,

meldete sich jetzt Bernd,

„diese Wüste ist irgendwie eine andere Wirklichkeit. Und wisst ihr was noch? Ich werde den Eindruck nicht los, als ob mit jedem Kilometer nicht nur unser Ziel näher kommt, sondern auch unser Traum greifbarer wird.“ „Ja, ich glaube, extreme Reisen tun so etwas, sie verändern die gewohnte Realität, und die Wüste tut das ihrige.“

„Was wir sonst daheim für Realität halten“,

überlegte O-Chang,

„kommt mir sowieso vor, wie eine Bandschleife, die sicheren Boden

unter den Füßen suggerierren soll.“ „Genau, und das Reisen hilft, ein wenig Korrektur daran vorzunehmen.“

„Was unser Ziel betrifft“,

mischte ich mich ein,

„sind wir ja noch viel mehr bereit,

den Sprung ins Ungewisse zu wagen. In ein rätselhaftes Land, abgeschlossen vom Rest der Welt und in einer ganz anderen Zeit lebend.“

„Erst einmal müssen wir überhaupt bis dorthin durchkommen.“

Unterbrochen wurden derlei Spekulationen, weil Bernd gerade verbissen und mit Vollgas auf eine breite Sandbank zusteuerte. Diesmal reichte der Schwung nicht, er musste immer weiter herunterschalten.

„Raus“,

brüllte er, als er den ersten Gang einschob. 0-Chang und ich sprangen ab, rannten hinterher und schoben. Auch das half nicht lange. Der Wagen saß im Sand fest. Nichts anderes blieb übrig, als Fuß vom Gas und Motor aus. Jeder weitere Versuch würde ihn nicht vorwärts bringen, sondern nur noch tiefer eingraben. Jetzt mußten wir Steine unter die Achsenmitte legen und schweißgebadet die Räder frei schaufeln, sowie zwei mählich ansteigende Gräben bis zum ebenen Boden, in die wir die Sandleitern auslegten.

Bernd mußte nun ganz behutsam anfahren und, sobald er sich einmal vorwärts bewegte, versuchen immer mehr an Fahrt zu gewinnen, um erst wieder anzuhalten, wenn er festen Boden unter den Rädern wußte, gleichgültig wie weit er uns dabei zurück ließ.

Als die Sonne dem Horizont nahte, hielten wir an. Wegen der Hitze wäre es zwar angenehmer nachts zu reisen, wie Karawanen es gerne taten, aber wir hätte uns dabei zu leicht verfahren oder in einen Wadi stürzen können.

Während Bernd den Motor entsandete und den Ölfilter reinigte, bauten wir anderen das Lager auf. Die knappe Spanne zwischen Sonnenuntergang und völliger Dunkelheit ließ in kurzer Folge die grandiosesten Schauspiele erleben. Der Dunst und das Flimmern des Tages hatten sich aufgelöst, die Sicht wurde glasklar, und die Landschaft gewann an Weite. Es war als dehnte der Raum sich aus, wurde durch die Stille noch majestätischer. Chamäleonartig färbte sich dann alles von orange bis blutrot, und binnen weniger Minuten war es dunkel.

„Heute Abend können wir unbesorgt ein Feuer anzünden“,

schlug ich vor.

„Genau“,

meinte Hermann,

„ein Topf Tee und 'ne warme Mahlzeit wären jetzt angesagt. Ziemlich sicher, dass wir hier im Umkreis von wenigstens hundert Kilometern allein sind.“

„Gute Idee, was gibt´s denn heute?“

„Tüten-Erbsensuppe surprise an Saucissones fines aus hauseigener Konservendose.“

„Pst!“

„Hört ihr das auch?“

flüsterte 0-Chang. Schlagartig brach das Gespräch ab und alle horchten.

„Ich höre da Stimmen“,

wisperte Hermann und Bernd nickte. Alle drei sprangen auf und suchten die Umgebung ab. So dunkel war es nun doch nicht. Man konnte ein relativ weites Umfeld überblicken. Das Gelände zeigte nur leichte Sandwellen, keine größeren Sträucher oder Steine, hinter denen man sich verbergen könnte.

Ich war als einziger sitzen geblieben. Nach einer Weile kamen sie etwas verwirrt zurück.

„Hast du die Stimmen nicht gehört?“

„Doch.“

„Und?“

„Ich hab so was schon mehrmals erlebt, in der Sahara.“

„So wie die Stimmen waren, hätten sie ganz in unserer Nähe sein müssen. Aber da war weit und breit niemand." „Ich weiß. Ziemlich sicher, dass wir tatsächlich im Umkreis von mehr als hundert Kilometern allein sind.“

„Und? Was ist das denn?“

„Das hat mir bislang noch niemand sagen können. Nur dass es eines der Phänomene ist, die einem in der Wüste begegnen.“

„Unheimlich - wundert einem nicht, wenn die Leute an Geister glauben.“

Die Wüste erschien mir von der ersten Begegnung an, als ein magischer Ort anderer Realität. Begab man sich einmal dort hinein, so ließ man die gewohnte Welt hinter sich. Aber da war noch etwas anderes, unerklärliches, wahrnehmbar nur als eine Art Glücksgefühl. Es war, als fließe einem dort Energie zu, möglicherweise die Ursache der großen Anziehung, welche die Wüste immer wieder ausübt. Gar nicht denkbar wäre der Orient ohne die Wüste. Aller Zauber rührt ursprünglich daher. Erst die Wüste gibt den nötigen Hintergrund für das so ungemein farbige Gepränge, ist die wahre Quelle der üppigen Phantasie.

Tagsüber sah ich sie diesmal nur an den geschlossenen Scheiben vorbeiziehen, bei offenen erwies sich der hereinfliegende Sand noch lästiger als die Hitze. Jetzt nach dem Abgang des Tages überkam mich das Verlangen hier allein zu sein. Als ich mich leise erhob, drangen aus den anderen drei Schlafsäcken nur noch ruhige, gleichmäßige Atemlaute. Der Boden, an dieser Stelle weich wie ein flauschiger Teppich, schluckte jedes Geräusch meiner Schritte. Nur wenige Minuten von Auto und Lagerstätte entfernt setzte ich mich auf eine der vielen Sandwellen.

Erst des Nachts zeigte die Wüste ihre wahre Schönheit. Nichts lenkte mehr davon ab, kein Geräusch, kein Hitzeflimmern, nicht einmal ein Lufthauch. Der tägliche Jahrmarkt der Sinne mit seinem Gaukelspiel war verschwunden, hatte sich aufgelöst wie eine Luftspiegelung. Es gab nur noch Unendlichkeit. Alles um mich herum war Sternenhimmel, von einer nie gesehenen, unwirklichen Pracht. Zum ersten Mal ging mir auf, dass er in Wahrheit hinabreichte bis an den Boden, auf dem ich saß. Auch dieser letzte Rest Erdenkontakt schmälerte nicht die plötzliche Erkenntnis, mitten im Weltraum zu sitzen, gefolgt von der Einsicht, absolut allein zu sein, so allein wie man nur sein konnte. Nichts erinnerte mehr an vertraute Umgebung, auch Vorstellungen von Nähe und Gemeinschaft verflüchtigten sich als imaginär. Da war nur unermessliche schwarze Tiefe, verwirrend angefüllt mit Glitzern, kalt, unnahbar und doch unerklärlich anziehend wie ein fernes, unbekanntes Ziel. Vielleicht sollte Furcht aufkommen angesichts dieses Gewahrwerdens eigener Bedeutungslosigkeit. Etwas ganz anderes stellte sich ein, wie bei jeder Begegnung mit der Wahrheit: Ein Gefühl tiefer Befriedigung. Die natürlichste Art zu leben, nannte Ibn Al-Arabi das Reisen, da nicht das Verweilen die Natur aller Dinge im Universum sei, sondern das ständige in Bewegung sein. Mir war eher so, als wäre ich von langer Reise endlich angekommen, angekommen in einem wahren Zuhause. Das konnte nicht mehr sein, als eine vorübergehende Vision, ein Gefühl von einem Zustand zu fern und zu unbekannt, um selbst in Bildern sich auszudrücken. Doch bei all seiner Flüchtigkeit unterschied dieser Eindruck sich gar zu deutlich von üblichen Emotionen, blieb mir für immer als Erinnerung wie eingraviert. Und mit ihm die unerklärliche Gewissheit, es gäbe für mich irgendwo ein Ziel, auch wenn ich noch keinerlei Vorstellung davon hätte, ja nicht einmal einen Namen dafür. Nur die ungeheure Bedeutung begriff ich, sich dorthin zu bewegen, auch wenn selbst die einzuschlagende Richtung noch unbekannt blieb. Gewiss war überhaupt nur eines: Verweilen wäre ein Fehler. Vorübergehendes Verweilen gehörte zum Weg mit seinen Intervallen, aber völliges Stehenbleiben rührte zu so etwas wie dem Aufhören zu existieren. Weiterziehen erschien mir als etwas Elementares, ein kosmisches Gesetz, dass alles in Bewegung bleibe, in Wandlung und ständigem Fortschreiten, sei es nun reine Materie, eine Lebensform oder ein Bewusstsein mit der Fähigkeit eigener Entscheidung. Das unfassbare Chaos ringsherum zeigte auf einmal so etwas wie Vollkommenheit, die sich mir in einer Musik jenseits des Hörvermögens ausdrückte. Für einen zeitlosen Moment nahm ich mich wahr als einen Teil dieser Schwingungen. Was blieb war diese unerklärliche Gewissheit, namenlos, nicht fassbar, aber ähnlich einem erhaltenen Versprechen.

 

Der dritte Tag verlief nicht viel anders als der zweite, Staub, Hitze, Monotonie und bei mäßiger Geschwindigkeit im Wagen vor sich hindösen. Einige Kamelgerippe im Sand erinnerten daran, dass das Reisen hier nicht immer unproblematisch verlief, und was aus uns im Falle einer Panne werden könnte. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie versessen ich auf dieses Unternehmen war.

„Bequemer ist es ja, die Piste entlang dem Niltal zu fahren“,

feixte 0-Chang.

„Sicherer allemal.“

„Ich geb was drum, die Gesichter von den Typen in der sudanesischen Botschaft zu sehen, wenn die uns beobachten könnten, wie wir hier heimlich durch die Hintertür bei ihnen reinbrettern“,

kicherte Bernd.

„'N Rad abhaben müssten wir ja, deswegen die kostbaren Jemen-Visa verfallen zu lassen. Du hast übrigens immer noch nicht erzählt, wie du das eigentlich gedeichselt hast.“

„Ebtehag!“

„Deine und Hermanns ägyptische Kommilitonin?“

„Genau, das Mädchen hat eine einmalige literarische Begabung. Die setzt einen arabischen Text in so bestechendem Klang und Rhythmus auf, dass du ihn nur noch in ehrfürchtigem Singsang rezitierst. Sie war es auch, die mir verraten hat, wie verliebt Araber in ihre Sprache sind. Jedenfalls müssen die im Außenministerium in Sana'a so entzückt gewesen sein, dass das bislang Unmögliche geschah.“ „Wie bist du überhaupt auf den Jemen gekommen? Ich mein' inzwischen hast du uns ja alle längst angesteckt, aber woher der Jemen?“

„Neugierig wurde ich zuerst, als ich im Orient wiederholt Andeutungen auf den Jemen zu hören bekam. Wahre arabische Kultur wäre noch anzutreffen, weil sich dort, seit ihrer Blüte im hohen Mittelalter, nichts verändert habe. Auch von der "Hikma jemenija", der jemenitischen Weisheit war die Rede, und schon seit langer Zeit wollte man wissen, dass der Jemen es war, woher den Propheten "An-Nafas Ar-Rahman" erreicht hatte, der Odem des Erbarmers. Nur Genaueres wußte niemand, weil auch keiner meiner arabischen Gesprächspartner je im Jemen war.“

„Und woher dann hast du was erfahren?“

„Ich verschlang alles, was es an Büchern darüber gab.“

„Da hattest du dir was vorgenommen, wie?“

„Ach das war nicht so viel, meist Berichte von den wenigen Reisenden. Aber zwei Dinge wurden dabei immer deutlicher und ließen mich nicht mehr los.“

„Ja?“

„Ein geheimnisvolles, verschlossenes Land, in dem tatsächlich orientalisches Mittelalter noch lebendiger Alltag ist, und Berichte über eine kaum bekannte antike Hochkultur.“

„Du meinst Saba mit seiner berühmten Königin?“

„Nicht nur, da gab es noch die Reiche von Kataba, Ausan und Himjar und noch früher die der Minäer und Hadramoten. Allein was von den wenigen wagemutigen Reisenden entdeckt und berichtet wurde, lässt auf hunderte antiker Fundstätten schließen, ganzer Städte, Tempel, Befestigungen und ausgeklügelter Bewässerungssysteme. Unzählige Inschriften waren gefunden. Immer deutlicher wurde, dass ein ganzer Kulturkreis in diesem entlegenem Teil der Welt verborgen liegt.

„Und das alles ist noch kaum erforscht?“

„Nach allen mir bekannten Berichten war es noch niemandem zuvor gestattet, so ohne Beschränkungen durch den Jemen zu reisen. Es sieht so aus, als wäre das Glück der Stunde mit uns. Übrigens, auch für den anderen Teil des antiken Südarabien haben wir eine vorläufige Zusage der Protektoratsverwaltung in Aden.“

„Dann wären wir die ersten, die sich da unbehelligt umsehen könnten?“

„Noch sind wir nicht da. Das Land hieß nicht umsonst über Jahrhunderte "das Verbotene". Alle Reisenden trafen bislang auf merkwürdige Hindernisse schon bei dem Versuch dort hinzugelangen. Wir sind ja auch gerade dabei, das erste zu überwinden.“

Es war der Morgen des vierten Tages nach Marsa Alam. Wir studierten wieder einmal Karte und Tachometer mit dem Entschluss, ein weiteres, großzügiges Umfahrmanöver zu beginnen, da Halaib nicht mehr weit sein konnte. Gerade eben hatten wir damit begonnen, als aus den Sandverwehungen Männer auf schnellen Reitkamelen auftauchten. Das Gasgeben hätte Bernd sich sparen können. Es entsprach wohl auch mehr einem unwillkürlichen Fluchtreflex, denn dass da nichts Gutes auf uns zukam, war gar zu deutlich.

Weitere Bücher von diesem Autor