Buch lesen: «Great Green Thinking», Seite 3

Schriftart:

KATHRIN HARTMANN

Kathrin Hartmann, geboren 1972, studierte in Frankfurt am Main Kunstgeschichte, Philosophie und Skandinavistik. Sie war Redakteurin bei der Frankfurter Rundschau und bei Neon. Ihre Bücher, darunter Wir müssen leider draußen bleiben und Die grüne Lüge, erregten große Aufmerksamkeit. Sie lebt und arbeitet in München.

WER IST NACHHALTIGKEIT – UND WER NICHT?
KAPITEL 2

»There is no shame in poverty, but there is guilt in wealth.« Moshtari

Hilal/@moshtarimoshtari



DAS MUSS MAN SICH ERST MAL LEISTEN KÖNNEN


Von Jennifer Hauwehde


Bis zu meinem 20. Lebensjahr habe ich – ohne es zu wissen – ausgesprochen nachhaltig gelebt, wenn man den Kriterien für einen individuell nachhaltigen Lebensstil folgt: Ich aß seit meinem 16. Lebensjahr vegetarisch, besaß nur wenige Kleidungsstücke, die sehr alt waren (und auch so aussahen, aber nicht auf die gute Art), kaufte mir wenige Dinge, lieh Bücher konsequent aus der Stadtbücherei aus, reiste so gut wie nie und flog genau ein einziges Mal. Trotzdem war ich nicht glücklich.

Wie kann das sein?

Mein erster Zugang zu Nachhaltigkeit als einem erstrebenswerten Lebenskonzept für mich und die Welt, die mich umgibt, fand unter anderem durch Bücher über Nachhaltigkeit statt, in denen saubere, weiße und aufgeräumte Welten in Wort und Bild dargestellt wurden: hohe Decken mit Stuck, Balkone mit geschmackvoll platziertem Grün, dezente Kingsize-Betten mit Leinenbettwäsche. Ich habe, trotz meiner Leistungsbesessenheit und meines Fleißes, bereits Erfahrung mit den menschenunwürdig mahlenden Mühlen des Sozialhilfesystems machen müssen und schrammte permanent gerade so an der Armutsgrenze vorbei (ohne Sicherheitsnetz). Ich fand mich in diesen Büchern nicht wieder.

Ich wusste, wie sich das Gefühl in der Schlange vor dem Schalter auf dem Arbeitsamt anfühlte, was es bedeutete, weder eine Waschmaschine noch das Geld für Waschsalons zu besitzen, hatte bisher nie in einem Taxi gesessen und fühlte mich ein paar Jahre zuvor wie eine Königin, als ich mir mit meinem ersten selbst verdienten Geld einen Trenchcoat für 40 Euro in einem Discount-Fashion-Store kaufte.

Besagtes Geld verdiente ich in einem Dönerimbiss, in dem ich Salat, Tomaten und Zwiebeln schnitt, Tische und Böden putzte. In den Pausen lernte ich für mein Abitur, auf meinen Unterlagen über Messenger-RNA sind Fettflecken. Den einzigen Lehrer, der irgendwann in einer Zwischennotenbesprechung meine Leistungen lobte und in demselben Atemzug fragte, was ich so trieb und wie es mir ging, werde ich nie vergessen. Er sagte, es mache ja schon einen Unterschied, vor welchem Hintergrund Dinge passierten.

WAS MAN SICH LEISTEN KÖNNEN MUSS

Die Botschaften der ästhetikfokussierten Nachhaltigkeitsbücher internalisierte ich trotzdem – und gab sie unreflektiert weiter: Im Maß liegt die Tugend, less is more, nachhaltiges Leben ist einfach und günstig, und wenn dir das nicht so vorkommt, willst du es einfach nicht stark genug. Die Angebote sind da, du musst dich nur richtig informieren – und dann konsequente Entscheidungen treffen, die schmerzhaft sein können (und sollen). Ich entwickelte eine Abneigung gegen Menschen, die bei Primark einkauften, Billiglebensmittel beim Discounter in den Einkaufskorb luden oder ihre Wohnung mit – aus meiner neu erlernten Perspektive – nutzlosem Krimskrams vollstellten. Und fühlte mich gut und besser, weil ich entsagte. Ich hatte erfolgreich eine neue Ebene des Klassismus erklommen.

KLASSISMUS

Diskriminierung oder Vorurteile gegenüber einer Person oder Personen aufgrund einer [vermuteten] Zugehörigkeit zu oder Herkunft aus einer bestimmten [niedrigeren] sozialen Klasse.21

Dabei verdrängte ich eine unbequeme Wahrheit: Sofort als ein bisschen mehr Geld da war, verfiel ich in einen Konsumrausch. Ich wollte alles, was ich mir vorher nicht leisten konnte: viele Kleider, mit denen ich nicht mehr auffiel, eine Einrichtung, die nichts vermissen ließ, viel Kosmetik und generellen Überfluss – weil ich es jetzt zum ersten Mal in einem (immer noch vergleichsweise bescheidenen) Rahmen konnte. Ich verschwendete keinen einzigen Gedanken an Ressourcen, unfaire Produktionsbedingungen und die Zukunft meiner potenziellen Kinder.


Eine Zeit lang schämte ich mich rückblickend für diesen kurzfristigen Exzess – mittlerweile habe ich begriffen, dass das Gefühl der Scham gewollt und das Ergebnis einer sehr effizienten Verantwortungsverlagerung ist: Das eigentliche Problem war nicht ich als Einzelperson, die verzweifelt versuchte, den gesellschaftlich erwarteten und doch selten erreichten Lebensstil einer gehobenen Mittelklasse zu leben und dadurch gesehen zu werden. Das Problem ist zum einen ebenjene gesellschaftliche Definition des guten Lebens im globalen Norden, die im Wesentlichen auf unbegrenztem Konsum materieller wie immaterieller Dinge beruht.

Zum anderen ist eine würdevolle Teilhabe an der Gesellschaft längst nicht für alle Menschen möglich. Zwar ist die Einkommensungleichheit in den vergangenen Jahren etwas zurückgegangen – was unter anderem mit der Anhebung des Mindestlohns zusammenhängt.22 Die Vermögensungleichheit hingegen steigt kontinuierlich – immer mehr Vermögen konzentriert sich auf immer weniger Menschen.23 Und auch der Mindestlohn reicht angesichts steigender Mieten und Lebenshaltungskosten längst nicht immer zum Leben, höchstens zum Überleben: Wer Vollzeit auf Mindestlohnbasis arbeitet, erhält am Ende des Monats 1.621 Euro24 – nicht genug, um als alleinerziehende Person über die Runden zu kommen. Im Mai 2020 stockten rund 113.000 Menschen, die in Vollzeit arbeiteten, ihren Lohn durch Hartz IV auf.25 Gleichzeitig wird immer noch das Narrativ hochgehalten, das Wirtschaftswachstum sei ausschließlich vom Konsum der Bevölkerung abhängig. Der individuelle Konsum gilt als »patriotische Aufgabe«.26

ZUR ERINNERUNG

Ein Prozent der Erwachsenen in Deutschland besitzen rund 35 Prozent des Gesamtvermögens, weitere neun Prozent besitzen weitere 32 Prozent. Die »oberen zehn Prozent« vereinen also 67 Prozent des Vermögens auf sich. Und die restlichen 90 Prozent der Bevölkerung besitzen gemeinsam gerade einmal 33 Prozent des Gesamtvermögens.27

Scham und Wut gegen mich selbst zu richten ist nur bedingt angebracht und konstruktiv, dafür allerdings gewollt, weil systemerhaltend (wir gehen darauf in Kapitel 3 genauer ein). Um diesen Aspekt – den viele Texte, die Nachhaltigkeit als Schwerpunktthema setzen, leider nicht oder nur sehr oberflächlich behandeln – auf den Punkt zu bringen: Nachhaltigkeit muss man sich leisten können.

FINANZIELL

Natürlich spart man durch wenige Neukäufe und bedachtes Auswählen hochwertiger Produkte langfristig. Doch die zunächst höhere Anfangsinvestition muss erst einmal möglich sein – und bei etwas Basalem wie Lebensmitteln oder einem dringend notwendigem Kleiderkauf ist monatelanges Sparen mitunter schlicht eine utopische Idealvorstellung.28

PER HABITUS

Secondhand ist fancy und unmittelbar mit einem leichten Gefühl des Weltrettens verbunden – aber nur für jene, die sich bewusst dafür entscheiden können, für Vintagekleidung mehr Geld als für Neuware auszugeben. Für diejenigen, für die Secondhand zeit ihres Lebens keine Crème-Ware-Auswahl, sondern das Günstigste vom Günstigen bedeutet, die Vintageschätze nicht mit neuen Key Pieces kombinieren können und nicht die Zeit haben, zehn Preloved-Stores nach Kleidung abzugrasen, die ihnen gefällt, ist diese von der Mittelklasse neu entdeckte Alternative mitunter vor allem eines: würdelos.

MENTAL

Für Menschen, die täglich Stigmatisierungen, Diskriminierungen und/oder offenen Anfeindungen aufgrund von nach wie vor omnipräsentem Rassismus/Ableismus29/ Sexismus/Antisemitismus/Klassismus und anderem -ismus ausgesetzt sind, stellt sich am Ende des Tages vor allem die Frage nach dem Erhalt des eigenen psychischen Wohlergehens. Nicht immer bleibt Kraft für intensive Recherche von (komplexen) nachhaltigen Kaufentscheidungen.

ZEITLICH

Wie viel Zeit haben Menschen, die ganztägig in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten, womöglich mehrere Jobs gleichzeitig stemmen müssen und in der wenigen freien Zeit unbezahlter Care-Arbeit (Sorge- und Pflegearbeit wie Kinderbetreuung, Pflege von älteren Angehörigen, Arbeiten im Haushalt) nachgehen, um unterschiedliche nachhaltige Produktvarianten gegeneinander abzuwägen? Wie viel Zeit, auf den Markt zu gehen, frisch einzukaufen und ein Abendessen für die ganze Familie zu kochen?

PER VERFÜGBARKEIT

Für die konsequente Umsetzung eines nachhaltigen Lebensstils kann es eine große Rolle spielen, ob jemand zentral in einer Großstadt wohnt, den Unverpacktladen, einen Secondhandladen und Fair-Fashion-Geschäfte um die Ecke sowie Zugang zu Flohmärkten, öffentlichen Verkehrsmitteln und schnellem Internet für die Informationsbeschaffung hat – oder auf dem Land auf ein Auto angewiesen ist, es in der Umgebung nur einen Supermarkt mit begrenztem nachhaltigem Angebot gibt, Transportwege daher lang und umständlich sind.30

Wenn ich davon spreche, dass man sich Nachhaltigkeit leisten können muss, meine ich damit jene Form von Nachhaltigkeit, die den freien und regelmäßigen Konsum grüner und fairer Alternativprodukte genauso einschließt wie die gewählte und bewusste Form des reduktiven Verzichts. Dieser Lebensstil – deren Vertreter:innen seit ein paar Jahren mit dem Kürzel LOHAS31 bezeichnet werden – ist eine privilegierte Entscheidung, die vor allem vor dem Hintergrund getroffen werden kann, das Zuviel bereits zu kennen und ausgeschöpft zu haben. Jedes Privileg basiert auf Macht und trägt durch sein Ausleben wiederum dazu bei, dass Macht verfestigt wird.

WER IST ARM?

In Deutschland gilt als arm, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) zur Verfügung hat. Für eine allein lebende Person be-deutete das im Jahr 2019 ein Leben mit weniger als 1.074 Euro im Monat.32 Armut und Arbeitslosigkeit gehen sehr oft Hand in Hand: 2019 lag die Armutsgefährdungsquote bei Arbeitslosen bei fast 57,9 Prozent – wohingegen sie bei Erwerbstätigen bei ungefähr acht Prozent lag.33 Unterschieden von armen werden außerdem materiell deprivierte Menschen. Materiell depriviert bedeutet, sich grundlegende Güter und Aktivitäten des alltäglichen Lebens nicht leisten zu können, zum Beispiel eine Waschmaschine, angemessenes Heizen oder ein Mal im Jahr eine Woche Urlaub außerhalb der eigenen Wohnung. Oft gehen Armut, Arbeitslosigkeit und materielle Deprivation miteinander einher: 23,5 Prozent der Arbeitslosen beschreiben sich selbst als materiell depriviert, während das nur auf 1,8 Prozent der Erwerbstätigen zutrifft (2018).34 Von Armut oder sozialer Ausgrenzung waren im Jahr 2018 rund 19 Prozent der Bevölkerung in Deutschland betroffen.35


In unserer Gesellschaft wird Armen die Möglichkeit genommen, sich über den Konsum von Dingen und Dienstleistungen eine Identität zu erwerben. Wie wir uns kleiden, was, wie viel und wann wir essen, in welchen Wohnungen wir mit welchen Gegenständen leben – all das sind Konsumentscheidungen, die wesentlich dazu beitragen, unsere Identität in Kommunikation mit der Außenwelt (mein Auto, meine Wohnung, meine vegane Sushi-Bowl) zusammenzupuzzeln und sich ihrer immer wieder neu zu vergewissern. Arme Menschen haben diese Möglichkeiten nicht oder nur sehr eingeschränkt: Sie definieren und identifizieren sich weniger selbst – sie werden vor allem definiert. Von dem, an dem sie überall nicht teilhaben können, und von denen, die genau darüber (moralische) Werturteile fällen.36


Dabei lebt keine andere Menschengruppe so nachhaltig wie Arme. Aus dem schlichten Grund, dass sie aufgrund mangelnder finanzieller Mittel wenig (neu) konsumieren können. Hingegen steigen mit dem Einkommen auch die Ausgabenanteile – nicht für die Bedürfnisse wie Ernährung oder Kleidung. Sondern für Bereiche wie Wohnen oder Verkehr: Für Letzteren wenden Haushalte der höchsten Einkommensklasse (ab 5.000 Euro Nettoeinkommen pro Monat) durchschnittlich mehr als achtmal so viel Geld auf als Haushalte mit niedrigerem Einkommen (1.500 Euro Nettoeinkommen pro Monat).37

DER PLATZ AN DER SONNE IST SCHON BELEGT

Viele Menschen haben kein ausgeprägtes Gespür dafür, wo sie selbst sozial stehen (sie schätzen sich zum Beispiel der Mittelklasse zugehörig ein, obwohl sie faktisch an der Armutsgrenze leben, oder betrachten sich als deutlich weniger wohlhabend, als es tatsächlich der Fall ist). Sie haben dafür eine umso genauere Vorstellung davon, wo sie nicht stehen wollen: nämlich unten. 2018 gaben rund 47 Prozent der Deutschen an, dass die Aussage »Ich befürchte, meinen Lebensstandard nicht dauerhaft halten zu können«, auf sie zutrifft.38 Das Problem mit Ressourcen ist aber nun, dass sie nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen. Das gilt auch und gerade für Geld im kapitalistischen System: Wenn immer mehr Einzelpersonen immer weniger globalen Reichtum auf sich vereinen, wird der Kampf um die sich reduzierenden Plätze an der Sonne rauer.

NOCH EINE ERINNERUNG

Im Jahr 2019 besaßen 0,9 Prozent der Weltbevölkerung 43,9 Prozent des globalen Vermögens. Über die Hälfte der Menschheit (56,6 Prozent) besaß nur 1,8 Prozent davon.39 Der reichste Mensch der Welt war am 20. September 2020 der Amazon-Gründer Jeff Bezos mit einem geschätzten Vermögen von 175 Milliarden US-Dollar. Drei Tage später wuchs es auf 182,5 Milliarden US-Dollar an.40

Anna Mayr beschreibt in Die Elenden die Funktion, die »Verelendete«, also perspektivlose und arme Menschen, innerhalb der Gesellschaft übernehmen: Man hält sie »den Arbeitern als verzerrenden Spiegel« vor, »um ihnen zu zeigen, wie sie enden, wenn sie sich nicht anstrengen«41. Die Armen und Abgehängten der Gesellschaft halten als unsichtbare Kraft die Arbeitenden in Schach – damit die wiederum arbeiten und arbeiten und arbeiten und sich für diese Schufterei zwischendurch mit spontanen Flugreisen für 15 Euro, der neuen Küchenmaschine oder Tüten voller Billigmode belohnen. Um danach vielleicht noch effizienter oder überhaupt weiterzufunktionieren.

Global betrachtet, gehört jemand die:der in Deutschland einen Medianlohn von 2.500 Euro brutto verdient, allein lebt und netto davon 1.700 Euro übrig hat, zu den zehn Prozent der reichsten Menschen auf dem Planeten: Nur 5,7 Prozent der Menschen, die gerade leben, sind reicher.42 Im globalen Vergleich könnten wir uns also eine Menge leisten – haben aber vor allem angesichts steigender Mieten und allgemein hohen Lebenshaltungskosten nicht nur das Gefühl, dass unsere Kaufkraft immer weiter zurückgeht: Wir können von demselben Gehalt abzüglich Miete, Strom und anderen Fixkosten auch faktisch immer weniger erwerben.

Tatsächlich nimmt die durchschnittliche Kaufkraft pro Einwohner:in in Deutschland stetig zu: Im Jahr 2019 lag sie bei knapp 24.000 Euro. Jetzt kommt das große Aber: Davon müssen noch die Ausgaben für Lebenshaltungskosten, Versicherungen, Miete und Nebenkosten sowie Heizung, Strom, Bekleidung oder Sparen abgezogen werden. Gleichzeitig zeigt ein Blick auf die langfristige Entwicklung von Haushaltsausgaben, dass seit den 1980er-Jahren ein immer größerer Anteil des Einkommens für Miete, Wasser, Strom und Gas aufgewendet werden muss: 1993 gaben die 20 Prozent der Bevölkerung mit dem niedrigsten Einkommen noch 27 Prozent ihres Nettohaushaltseinkommens fürs Wohnen aus – im Jahr 2013 waren es bereits 39 Prozent.

Bei allen Bevölkerungsgruppen, außer den oberen 20 Prozent, lässt sich in diesem Zeitraum ein Zuwachs der Wohnkosten feststellen. Die Einkommen der unteren 40 Prozent der Bevölkerung konnten nicht mit diesem Anstieg mithalten – in der Folge gingen die Ausgaben für sonstigen Konsum zurück: Bei den einkommensschwächsten 20 Prozent der Bevölkerung betrug der Anteil am Nettohaushaltseinkommen im Jahr 1993 72 Prozent und sank auf 63 Prozent im Jahr 2013.

Das bedeutet auch, dass die Möglichkeit zum Sparen abgenommen hat: Immer mehr Menschen müssen sich verschulden, um ihren Lebensstandard zu halten, insbesondere in den unteren Schichten. Die einkommensstärksten Haushalte hingegen geben weniger für Wohnen aus und behalten ihren sonstigen Konsum weitgehend bei, konnten ihn sogar geringfügig steigern.43 Das hängt auch mit der Verfügbarkeit von Wohneigentum zusammen: Seit 1990 sind die Preise für Immobilien um über 112 Prozent angestiegen – und dieser Trend setzt sich fort. Die Konsequenz: Die unteren 50 Prozent besitzen nur 2,7 Prozent des Wohneigentums in Deutschland, den oberen zehn Prozent gehören fast 60 Prozent.44


Die Angst vor dem sozialen Abstieg ist für viele Menschen nicht erst seit der Coronapandemie erschreckend real – und Angst verleitet zu pessimistischen Verhaltensweisen.45 Sie sorgt dafür, dass wir vor allem an eines denken (müssen): uns selbst und unser Überleben. Nun bedeutet Überleben im sicheren Deutschland des 21. Jahrhunderts nicht mehr, vor dem metaphorisch nun schon etwas strapazierten Säbelzahntiger wegzurennen. Überleben meint hier: würdevoll innerhalb einer Gesellschaft zu bestehen. Und das wird für immer mehr Menschen zu einer Herausforderung.

»Angst lässt uns die Menschlichkeit der anderen vergessen, sie lässt uns in ihnen Feinde sehen. Genau deshalb ist sie so ein guter Motor für den Kapitalismus: Angst treibt Menschen an, immer mehr zu leisten, immer mehr zu kämpfen. Angst verhindert, dass wir Mitgefühl empfinden für diejenigen, die den Kampf verlieren.«46

LET’S CHANGE THE NARRATIVE

Zwischen den Jahren 1990 und 2015 haben sich die global ausgestoßenen klimaschädlichen Emissionen verdoppelt. Gerade als ich diese Zeilen tippe, erscheint der neue Oxfam-Bericht,47 der sich mit dieser Zeitspanne beschäftigt und fragt: Welche Einkommensgruppen stoßen wie viele CO2-Emissionen aus? Das Ergebnis ist nur unwesentlich überraschend.

»In Deutschland waren die reichsten zehn Prozent (8,3 Millionen Menschen) im Jahr 2015 für mehr CO2-Ausstoß verantwortlich als die gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung (41,3 Millionen Menschen). Von den Gesamtemissionen seit 1990, für die die deutsche Bevölkerung verantwortlich ist, gehen 26 Prozent auf das Konto der reichsten zehn Prozent; die gesamte ärmere Hälfte der deutschen Bevölkerung ist nur für wenig mehr verantwortlich.«48

Ähnliche Werte finden sich im globalen Verhältnis: Die reichsten zehn Prozent (630 Millionen Menschen) der Weltbevölkerung sind für 52 Prozent der Emissionen verantwortlich – und davon wiederum müssten die reichsten ein Prozent alleine bereits für 15 Prozent der Emissionen geradestehen. Auf der anderen Seite befindet sich die ärmere Hälfte der Menschheit – sie produziert insgesamt nur rund sieben Prozent der globalen Emissionen. Dazwischen steht die Mittelklasse mit einem Emissionsanteil von 41 Prozent. Wenige Reiche tragen also global betrachtet doppelt so viel zur Klimaerhitzung bei wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung.

Auch bei der Verteilung der Emissionszunahme zwischen den Jahren 1990 und 2015 zeigt sich ein eindeutiges Bild: Obwohl viele Menschen in Indien und China den Sprung aus extremer Armut geschafft haben, ist ihr CO2-Ausstoß über die Jahre im Vergleich nur unwesentlich angestiegen: Hier stehen acht Prozent Anstieg (wieder der ärmeren Hälfte der Menschheit) dem Anstieg von 46 Prozent den reichsten zehn Prozent gegenüber – die zwar schon viel besitzen und konsumieren, allerdings trotzdem immer mehr CO2 ausstoßen. Und obwohl alle Welt von Konsumverzicht spricht und der #minimalismus trendet, liegen die wirklich problematischen Sektoren dieser Bevölkerungsgruppe nicht in dem ständigen Erwerb neuer Waren, sondern vor allem im Bereich Mobilität (Flug- und Landverkehr) und Wohnen.

Oxfam resümiert: Die Armen dieser Welt sind auf gar keinen Fall das Problem, wenn es darum geht, wem wir die aktuelle Entwicklung der Klimakrise zu verdanken haben. Aber: Die globale Mittelklasse ebenfalls nicht – jedenfalls nicht so gravierend, wie andauernd gepredigt wird. Anders gesagt: Wir können über plastikfreie Zahnbürsten, ökologisch produzierte Mode und #flygskam (Flugscham) diskutieren, bis uns die Köpfe rauchen, und uns gegenseitig erfolgreich des mangelnden Aktionismus bezichtigen – aber wir verfehlen dabei das Thema. Es geht nicht darum, ob Familie Meier jetzt erfolgreich einen Monat lang Konsum gefastet hat oder Henrik drei Häuser weiter beim vorletzten Mittagessen doch nicht so vegan gegessen hat, wie er von sich selbst immer behauptet.

Natürlich ist individuelles Engagement wichtig, auf unterschiedlichen Ebenen: Man nimmt sich als selbstwirksam wahr (eine wichtige Empfindung, wenn es darum geht, mit Krisen und komplexen Problemen umzugehen49), motiviert andere als Vorbildcharakter und trägt insgesamt dazu bei, dass sich auf lange Sicht Narrative ändern können. Aber so gewichtig, wie er andauernd dargestellt wird, ist der individuelle Konsum- und damit Lebensstil der Durchschnittsmittelstandsmenschen nicht. Nicht, wenn wir uns die Verhältnismäßigkeit ansehen – und die wenige Zeit, die uns noch bleibt, um das Ruder herumzureißen. (Während ich das hier tippe, haben wir noch sechs Jahre und elf Monate, bevor das CO2-Budget aufgebraucht ist und die globale Gemeinschaft das 1,5°C-Ziel verfehlen wird.)50

Wenn die Beschränkungen, die mit der Coronapandemie einhergegangen sind, sich wieder lockern und ihrem Vor-Corona-Level annähern, hat die globale Gemeinschaft nur noch bis zum Jahr 2030 Zeit, die Erderhitzung auf 1,5°C zu begrenzen. Das Problem dabei ist, dass die reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung alleine diese Marke schon wenige Jahre nach 2030 knacken werden, wenn sie ihren Lebensstil beibehalten (er ist 35-mal höher, als er sein dürfte, um das 1,5°-Ziel einzuhalten) – selbst wenn alle anderen Menschen auf diesem Planeten ihren Emissionsausstoß von heute auf morgen auf null senken würden.51

14,99 €